Gastkommentar

Sind wir Menschen oder Barbaren? In der Corona-Krise ringt Europa auch um sein christliches Erbe

Eine Replik auf den jüngsten Text des italienischen Philosophen Giorgio Agamben.

Daniel Bogner
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Hat Italiens Regierung in der Krise richtig oder falsch gehandelt? Blick auf den Neubau der eingestürzten Morandi-Brücke in Genua.

Hat Italiens Regierung in der Krise richtig oder falsch gehandelt? Blick auf den Neubau der eingestürzten Morandi-Brücke in Genua.

Vittorio Zunino Celotto / Getty Images Europe

Sein Gestus gibt sich bescheiden, skrupulös und ernsthaft. Allenfalls eine Frage mit uns teilen will Giorgio Agamben, der grosse Denker. In Wahrheit aber überwältigt er uns mit seinem Abgesang auf Kultur und Politik Europas, wenn er fragt: «Wie konnte es geschehen, dass ein ganzes Land im Angesicht einer Krankheit ethisch und politisch zusammenbrach, ohne dass man dies bemerkte?»

Sein Beispiel ist Italien, der Horizont seiner Vorwürfe aber reicht viel weiter. Alle Staaten, die sich als freiheitlich-demokratische Rechtsstaaten begreifen, sind hier im Visier.

Aber hat er wirklich recht? Die grosse Geste zielt ins Leere, weil sie mit den falschen Annahmen und Begriffen arbeitet. Im Namen eines «Risikos, das wir nicht näher zu bestimmen vermochten», seien all die Einschränkungen der Freiheitsrechte vorgenommen worden, meint Agamben, und auch viele der «Öffnungspolitiker» bemühen eben diese Figur.

Tatsächlich aber erleben wir eine Situation, in der ziemlich konkret vorausgesagt werden kann, was geschieht, wenn politisches Handeln ausbleibt. Das «Handeln unter Ungewissheit» ist in der Pandemie-Lage eben nicht die prinzipielle Unwissenheit der moralphilosophischen Denkfigur, sondern nur die zeitliche Verschiebung, mit der die Folgen eines stattfindenden oder ausbleibenden Handelns in der Gegenwart dann auch eintreten werden.

Zum Glück gibt es die Epidemiologen

Ja, es ist dramatisch, dass wir unsere Toten nicht mehr richtig beerdigen können und auf so viele unserer grundlegenden Freiheitsvollzüge verzichten müssen. Und keiner kann sagen, in welchem Masse es gelingt, diese Freiheiten wieder zurückzuerobern. Der Rechtsstaat arbeitet immerhin, wo eingeschränkte Rechte gerichtlich zurückgeholt werden. Aber sollen wir wirklich bewusst auf besseres Wissen der Epidemiologie verzichten, das uns vor noch viel grösserem Übel bewahren kann?

Mit seinem Diktum, wir würden von Virologen regiert, geht Agamben zu weit: Politik und Verwaltung äusserten sich mit einer Autorität, wie sie einst der «Führer» beansprucht habe. Entgegnen müsste man zunächst: Virologen regieren uns nicht, sie beraten uns nur. Und es ist gut, wenn Wissen, wie das etwa im Podcast des Berliner Charité-Virologen Christian Drosten geschieht, auf transparente und für alle nachvollziehbare Weise zur Verfügung gestellt wird, einschliesslich der Prozesse von Wissensgenerierung und auch der Grenzen des Wissen-Könnens.

Derweil breiten Politiker (und Philosophen) ihren Phantomschmerz darüber aus, dass Wissenschafter vermeintlich alle paar Tage ihre Meinung ändern. Der Spielraum einer freihändigen Uminterpretation der Beurteilungsgrundlage durch die Politik, wie er so gerne bei allerlei Sachfragen in Anspruch genommen wird, ist im Fall einer Pandemie eben recht klein. Arm das Land, das von Menschen regiert wird, die sich partout darüber hinwegsetzen wollen.

Das Leben schützen

Gegenwärtig werden ethische Standards geschleift, wie das lange nicht vorstellbar war. Dagegen muss jetzt erinnert werden: Dem biblischen Erbe in der europäischen Tradition bleiben wir treu, wenn wir das Leben als etwas Heiliges betrachten, das wir mit allen Mitteln zu schützen versuchen, und sei es auf die kontraintuitive Weise des Social Distancing und sogar mit der modernen Gerätemedizin, die Agamben so wenig mag.

Natürlich zieht das Kosten nach sich, die Wirtschaft leidet, und das Heil der einen bedeutet Belastungen für manch andere. Aber die entscheidende Frage lautet: Ist der Status quo ante das Mass aller Dinge? Weshalb nicht mit mehr Aufwand dafür sorgen, den Lockdown erträglich zu halten bei jenen, die darunter am meisten leiden – Kindern in Situationen sozialer Enge, Kleinunternehmern, Alleinerziehenden –, und dafür ein Stückchen allgemeinen Wohlstand einsetzen? Ist es diesen Aufwand nicht wert, um Mitglieder unserer menschlichen Gemeinschaft im Leben zu halten, selbst wenn sie bald vielleicht an einer anderen Ursache sterben sollten?

Es gibt eine fiktive Vorstellung von Güterabwägung, die gefährlich ist. Natürlich gilt der Schutz des Lebens nicht absolut, denn unter den Bedingungen von Zeit und Geschichte ist das gar nicht zu leisten. Andernfalls müssten wir die Gesellschaft einstellen, denn in ihr sind zahlreiche Arrangements eingelassen, die Lebensquanten reduzieren.

Wir könnten es doch!

Aber hier geht es nicht um die abstrakte, grosse Frage. Es geht um die sehr viel konkretere Frage: Tun wir das in unserer Macht Stehende und das bei dem zur Verfügung stehenden Wissen Gebotene, um unsere Nächsten, die Alten, die Schwachen, die Vulnerablen zu schützen, da wir es doch könnten?

Agamben vermaledeit die «Abstraktion» der modernen Intensivmedizin, da sie den menschlichen Leib nurmehr als «vegetatives Leben» behandle. Unfreiwillig erinnert das an Camus’ «Pest» mit seinem Protagonisten, dem Arzt Bernard Rieux. Die Pest, so sagt dieser, ist die «grosse Abstraktion», jene Zeit übermenschlicher Entbehrung und Entsagung. Rieux aber findet darüber schliesslich zum Humanismus, zu einer tieferen Solidarität unter Menschen. Agamben hingegen geht in die Falle seiner konzeptionellen Abstraktion.

Sein Plädoyer zielt auf eine Freiheit, der man keine Freiheiten opfern darf. Wo er das Abwägen von Freiheitsrechten per se bereits der Barbarei zeiht, verkennt er nicht nur die Dramatik der Situation, sondern unterschlägt auch, dass Menschlichkeit in wechselnden Kontexten immer wieder neu errungen werden muss.

«Jedes Leben zählt», das wäre der tiefere Wert eines christlich inspirierten Ethos, dem jene «Barbaren» in Italien und anderswo folgen, die Agamben so harsch angeht.

Daniel Bogner ist Professor für Moraltheologie und Ethik an der Universität Freiburg i. Ü.