Dossier

Wir sind Fetischisten!

Sie haben einen Fetisch. Nicht einen, der Sie zur Aussenseiterin oder zum Sonderling macht, nicht einen, den Sie vor Anderen verbergen. Sie befinden sich mit ihm in Gesellschaft – fraglich bleibt, ob in guter, sollte dessen Entdecker, Karl Marx, Recht behalten.

Die von Sigmund Freud geprägte Verwendung von «Fetisch» – dass Menschen aufgrund bestimmter Gegenstände in einen Zustand sexueller Erregung versetzt werden – ist zu Zeiten Marxens aber noch kein zulässiger Zug im Spiel der Sprache. Ursprünglich geht der Begriff «Fetisch» auf das portugiesische feitiço zurück und bezeichnet, fernab vom Magischen, etwas Gemachtes oder Nachgemachtes. In die Nähe des Übersinnlichen wurde er erst von Missionaren im 15. Jahrhundert gerückt. Als «Fetisch» bezeichneten diese religiöse Praktiken traditioneller Gesellschaften, in denen menschgemachten Gegenständen göttliche Kräfte zugeschrieben werden. Die Koinzidenz des Magischen und Gemachten im Fetischbegriff kann dabei schwerlich als Zufall gelten, denn nicht nur das Fetischobjekt ist von Menschen gemacht, sondern auch dessen magische Kraft durch Menschen zugedacht.

 

Die Feststellung, dass das Fetischobjekt zur Gänze gemacht ist, bestreitet aber gerade dessen magische Kraft. Dem entspricht, dass der religiöse Fetisch als rückständig, vormodern, unaufgeklärt galt. Der Fetischbegriff vereint so Beschreibung und Bewertung eines Sachverhalts. Wendet Marx nun den Fetischbegriff auf die bürgerlichen Gesellschaften Europas an, so macht er sich diese Doppelbödigkeit zu Nutze: Fetisch beschreibt nicht nur das Verhältnis der Menschen zu Waren, sondern greift auch das Selbstverständnis kapitalistischer Gesellschaften als fortschrittlich, modern, aufgeklärt an. Auf dem Spiel steht mit der Fetischismusdiagnose nichts weniger als ein gesellschaftliches Selbstverständnis, mithin Modernität selbst.

 

Worin besteht dieser Fetischismus aber? Ein Gegenstand, auf den sich der Fetisch in kapitalistischen Gesellschaften richtet, ist die Ware, deren Kauf und Konsumption das primäre Vehikel der Bedürfnisbefriedigung ist: Ob Essen oder Trinken, Gesundheit oder Unterhaltung – all dies will mittels Warenkauf erlangt werden. Der «Fetischcharakter der Ware», so Marx’ These, bestimmt unser Verhältnis zu Waren insgesamt. Der erste Schritt zur Fetischisierung der Ware ist nun, dass wir den Wert von Waren als eine Eigenschaft derselben verstehen. Besonders deutlich wird dies am Kauf einer Ware «im Angebot». Das zugehörige Preisschild bedeutet unmissverständlich, was die Ware selbst nicht sagen kann: «Schlag’ zu! Denn ich bin mehr wert, als Du heute bezahlen musst.» Besonders entgegenkommende Schilder ersparen den Kunden gar noch die Rechenaufgabe, das tägliche Glück in Prozenten oder Geldbeträgen auszudrücken. All das ruft das seltsam befriedigende Gefühl des Lausbuben oder -mädchens hervor, mit dem Schnäppchen den Verkaufenden ein Schnippchen geschlagen zu haben. Im Angebot luchst man die Ware mehr ab, als man sie kauft. Indessen beruht dies auf einer Annahme, die die erste Form des Warenfetischs ausmacht: Dass der Wert eine intrinsische Eigenschaft der Ware ist, dass sie einen Preis hat, der ihr an sich selbst zukommt. Das ist aber nicht der Fall. Mit den intrinsischen Eigenschaften der Ware, die sie zur Befriedigung von Bedürfnissen und damit zum Kauf geeignet machen – ihrem «Gebrauchswert» –, hat der Wert nichts zu tun. Nützlich sind Waren auch ohne einen Preis, und der Preis bemisst sich nicht an deren Nützlichkeit.

 

Der erste Schritt zur Fetischisierung der Ware ist, dass wir den Wert von Waren als eine Eigenschaft derselben verstehen

Das Angebot ist jedoch ein Paradoxes Phänomen. Die beabsichtigte Befriedigung der Kundin durch Ersparnis beruht darauf, dass der Wert eine intrinsische Eigenschaft der Ware ist – und gerade dem widerspricht das Angebot! Offenkundig ist der Preis keine intrinsische Eigenschaft von Dingen, denn wir finden ihn ja verändert wieder. Nun ergibt sich der Preis einer Ware aus einer Funktion grösster Komplexität, in die Faktoren wie Arbeitsaufwand, Rohstoffkosten, Nachfrage u.v.m. eingehen. Da der Einfluss dieser Faktoren aber weder der Ware anzusehen, noch vom Individuum entscheidend zu beeinflussen, geschweige denn überhaupt zu überblicken ist, erscheinen Preise als «gesellschaftliche Natureigenschaften» der Dinge. Die Undurchschaubarkeit der Preisbildung verleiht dieser eine magische Qualität, die zusätzlich zur scheinbaren Objektivität der Preise beiträgt. Etwas von diesem mysteriösen Charakter kehrt in der Sprache von Börsenberichten im Fernsehen wieder, in der vielsagende Metaphern wie «die Börse rappelt sich auf», «Depression der Märkte» oder «Kurslawine» omnipräsent sind. Aus dem Angebot wird so wie von Zauberhand eine göttliche Fügung – und wir gelangen zu einer zweiten Form des Warenfetischs: Preise erscheinen als Wirkungen einer fremden Macht, obschon sie wesentlich das Ergebnis komplexer menschlicher Handlungsweisen sind.

 

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Dieser Prozess führt dazu, dass die Ware noch ein Drittes verschleiert, das ihren Fetischcharakter vollendet. Besonders anschaulich wird dies am Phänomen der «Produktlabels». Diese suggerieren, dass man durch den Kauf etwa eines Fairtrade-Produkts bestimmen kann, dass Andere unter menschenwürdigen Bedingungen für einen arbeiten. Das beruht auf der dritten Form des Fetischs: Das Label suggeriert, dass das Füreinanderarbeiten durch den Austausch von Waren zustande kommt und lässt die Kaufenden deshalb im Glauben, wählen zu können, wer für sie arbeitet. Hier spielt die Ware erneut verkehrte Welt mit uns: Das Füreinanderarbeiten ist eine Voraussetzung der Warenwelt, nicht eine Konsequenz derselben. Gesellschaften müssen schon umfassend «für den Austausch» produzieren, damit die Produkte – ob Fairtrade oder Kinderarbeit – überhaupt zu Waren werden. Nicht der Markt führt zu Vergesellschaftung, sondern die Vergesellschaftung zum Markt. Gewiss, das spricht nicht gegen den Kauf von Fairtrade-Produkten, denn dieser wirkt auf die zukünftige Entwicklung des Produktionsregimes ein. Labels können aber den Eindruck erwecken, durch den Kauf von Waren instantan die Art in Anspruch genommener gesellschaftlicher Arbeit wählen zu können. Das ist Fetisch an ihnen.

 

Marx’ Fetischdiagnose liest sich als Beschreibung des menschlichen Verhältnisses zur Dingwelt unter den Bedingungen kapitalistischer Produktion, in dem die Ware als ein «sehr vertracktes Ding […], voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken» figuriert. Deshalb rechnen wir – wie alle Fetischisten – nicht damit, die Götter der Märkte kontrollieren zu können. Der Warenfetisch ist der Versuch aufzuzeigen, dass die Warenwelt kapitalistischer Gesellschaften einerseits keineswegs okkult ist, sondern auf nichts als menschlichem Handeln beruht, andererseits und im Widerspruch dazu von diesen Gesellschaften kaum gestaltet werden kann. Zu vormodernen, fetischisierten Gesellschaften, die ihr Leben vermeintlich unter dem Einfluss fremder Mächte fristen, werden kapitalistische Gesellschaften aber nicht aufgrund des Warentauschs alleine, sondern weil dieser einen Produktions- und Konsumptionsprozess bildet, der als menschlichem Einfluss entzogen erscheint. Dass sich die Menschen der «Produktionsverhältnisse bemächtigen», um sich darüber zu verständigen, wieviel von was unter welchen Bedingungen erarbeitet wird, ergibt sich für Marx daraus als Forderung. Im Fetisch liegt: Für Marx war die Moderne ein «unvollendetes Projekt», um ein Wort Jürgen Habermas’ zu zitieren. Daran hat sich in 150 Jahren nicht Entscheidendes geändert – so bleibt Marxens Denken eine Auseinandersetzung wert.

 

Unser Experte Mario Schärli ist Assistent am Lehrstuhl für neuzeitliche und zeitgenössische Philosophie. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten ge­hören die Philosophie des 17.– 19. Jahrhunderts sowie die Metaphysik der Zeit und Modalität.

mario.schaerli@unifr.ch