Dossier

«Angst essen Seele auf»

Mit dem Titel seines 1973 verfilmten Sozialdramas hat Rainer Werner Fassbinder ein geflügeltes Wort geschaffen. Es findet Verwendung, wenn die zerstörerische Macht von Angst ausgedrückt werden soll.

Die moderne Psychologie unterscheidet zwischen zwei Grundphänomenen von Angst. Zum einen beschreibt sie Angst als eine Emotion, die aufgrund einer realen Gefahr ausgelöst wird und nur momentan auftritt. Zum anderen beschreibt sie Angst als eine Grundbefindlichkeit, die jedwede Lebenssituation als Bedrohung erfahren lässt. In beiden Fällen wirkt sich Angst nicht nur physisch, sondern auch psychisch auf Menschen aus – von lebenshemmenden Krankheitserscheinungen bis hin zu lebenszerstörenden Pathologien.

 

Was nun aufgrund der negativen Konnotationen von Angst oft übersehen wird ist die Tatsache, dass für das menschliche Dasein Angst wesensnotwendig ist. Menschen finden in der Angst nicht nur ein ihnen gleichsam innewohnendes Warnmoment, zwischen Risiken und Chancen abwägen und unterscheiden zu können. Angst kann auch solche Kräfte mobilisieren, die Gefahren abwehren helfen, zur Flucht bzw. zum Rückzug bewegen sowie vorbeugende Massnahmen und tragende Mechanismen gegen Realitäten und Szenarien von Angst entwickeln und lebensdienlich implementieren lassen – für sich wie für andere. Markante Beispiele hierfür finden sich im breiten Spektrum gesellschaftsgestaltender Kräfte, die die Realitäten und Szenarien von Angst benennen und Lösungsstrategien anbieten und umsetzen wollen. Wie verführerisch dabei das politisierende und polarisierende Spiel mit der Angst sein kann, zeigen besorgniserregende Machtentwicklungen – auch in Europa.

 

Führe mich nicht in Versuchung

Sensiblen Zeitdiagnosen, wie denen des 2017 verstorbenen Soziologen Zygmunt Bauman, ist es zu verdanken, dass in der Angst das Zeichen unserer Zeit zu sehen ist und dass in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Religion nicht von vornherein abschlägig zu beantworten, sondern kritisch aufzugreifen ist. Religionsbezogener Fundamentalismus wie die Radikalisierung religiöser Anhänger und Anhängerinnen sind ein weltweites und religionsübergreifendes Phänomen. Jede Religion sieht sich heute – innen wie aussen betrachtet – mit angstbeladenen und angstverbreitenden Durchsetzungstendenzen von Glaubensüberzeugungen konfrontiert. Auch wenn hier die Ursachen und Zusammenhänge komplex sind kann ohne Vereinfachung gesagt werden: Die grösste Versuchung von Religion liegt in ihrer inhumanen Instrumentalisierung als produktive Angstmaschinerie.

 

© Jérôme Berbier

Für jede Theologin und jeden Theologen stellt sich nun unweigerlich die Frage, wie die Wichtigkeit von Religion im Ganzen und die der eigenen Religion im Besonderen für das individuelle wie für das gesellschaftliche Leben anschlussfähig reflektiert und handlungsleitend ins Gespräch gebracht werden kann. Und dies, ohne der Gefahr einer theologischen «Discounter-Mentalität» zu verfallen, die die komplexen wie unsicheren Problem- und Fragekontexte heutiger Lebensrealitäten mit einem stark vereinfachten und an Banalität grenzenden Heilsoptimismus zu lösen sucht. Dass Religion individuell wie gesellschaftlich auch heute als sinnvoll und wichtig zu erachten ist, sieht der bekennende Atheist Zygmunt Bauman in der «Unzulänglichkeit des Menschen» begründet, wie er sie in einem seiner letzten Bücher entfaltet. Religion erweist sich für ihn als unverzichtbarer Bezugspunkt für die innere Unruhe spätmoderner Menschen, der sie trägt und sie sensibel hält, in und mit ihren alltäglichen Grenzerfahrungen keinen inhumanen Verführungen zu erliegen, die vermeintlich «gutes Leben» anpreisen und durchaus auch erfahrbar machen und das verworfene Leben der «Stiefkinder des Glücks» spätmoderner Gesellschaften entweder für das Ego des eigenen Gutmenschentums funktionalisieren oder als gelegentliche Nebenwirkung in Kauf nehmen.

 

Kritischer Geist von Nöten

Auch wenn Baumans Diagnosen stark apokalyptisch und vom Untergang der Menschheit (und Gottes) geprägt sind, geben sie wichtige Anknüpfungspunkte für eine christliche Theologie, die gerade die Dimensionen der Angst im Kontext von Religion ernst nimmt. So wird es wesentliche Aufgabe sein müssen, eine religionskritische Sensibilität in der eigenen wie an anderen Religionen zu entwickeln helfen, die jedwede inhumane Verzweckung und Selbstdarstellung von Religion kritisch aufdeckt – sei dies offen oder latent greifbar. Von hier aus wird sie allerdings anders argumentieren, als dies Bauman muss. Denn den «Grund und Quell» ihres religionskritischen Vorbehalts bindet sie nicht an ein Prinzip, sondern an die Realität eines Gottes, der in der Grösse und Weite seiner Humanität «immer anders ist» als es scheinbare Eindeutigkeiten im religiösen Umgang mit Unzulänglichkeit und Angst suggerieren.

 

Unser Experte Salvatore Loiero ist Professor für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik an der Theologischen Fakultät. Der habilitierte Praktische Theologe erforscht zur Zeit aktuelle Fragen zu menschlicher Mobilität und Migration. 

salvatore.loiero@unifr.ch

Literatur

Vgl. Zygmunt Bauman, Daten, Drohnen Disziplin: Ein Gespräch über flüchtige Überwachung. Zygmunt Bauman und David Lyon, Berlin 2013. Vgl. hierzu Zygmunt Bauman/Stanislaw Obirek, On the World and Ourselves, Cambridge 2015.