«Kurse zu Prokrastination sind unser Dauerbrenner»

«Kurse zu Prokrastination sind unser Dauerbrenner»

Rita Raemy, Psychologin FSP bei der Psychologischen Beratung, kümmert sich seit über zwanzig Jahren um das seelische Wohl der Studierenden. Wir haben mit ihr über die wichtigsten Themen gesprochen, mit welchen sich junge Menschen heutzutage herumschlagen.

Frau Rita Raemy, welche Herausforderungen stellen sich jungen Menschen, wenn sie vom Gymnasium an die Universität wechseln (und von der Universität in die Arbeitswelt – wird nicht beantwortet)?
Die persönlichen Leistungsansprüche sind für junge Menschen heutzutage eine der grössten Herausforderungen – das geht unserer Beobachtung nach auch einher mit der Bologna-Reform, welche das Studium an der Universität (die Universität) ein Stück weit verschult hat. Viele Studierende, die unsere Beratungsstelle aufsuchen, erwarten von sich selbst, dass sie das Studium möglichst effizient, erfolgreich und v.a. schnell absolvieren müssen. Die meisten haben einen sehr erfolgreichen Schulparcours hinter sich und deshalb die Vorstellung, dass das Studium genauso reibungslos verlaufen muss. Andere haben sich selbst als faul erlebt und wollen nun an der Universität alles anders machen. Ich habe immer wieder Studierende, die von „Schule“ reden, das ist berührend und erschreckend, weil die Erwartungen dem Studienalltag nur bedingt entsprechen. Eine weitere grosse Herausforderung sind die Finanzen. Die Universität hat sich weiter demokratisiert und ist für mehr Menschen zugänglich geworden. Für viele Familien stellt die Verlängerung der Ausbildungszeit finanziell eine grosse Belastung dar. Weiterhin gehen viele Studierende einer Arbeitstätigkeit nach, wobei diese mit dem Anspruch des schnellen Studiums in Konkurrenz tritt.

Und mit welchen konkreten Anliegen kommen die Studierenden zu Ihnen?
Die Klientinnen und Klienten, die zu uns kommen, kann man grundsätzlich in drei Gruppen unterteilen. Ein Drittel der Studierenden hat klassische Studi-Fragen. Das können Fragen zu Lernstrategien sein, aber auch Prüfungsangst, Schreibhemmung, Unsicherheit bezüglich der Studienauswahl und die Frage, ob ein Studium überhaupt der richtige Weg für sie ist.

Ein weiterer Drittel kommt mit Beziehungsschwierigkeiten zu uns: Einige beschäftigen sich mit ihren sozialen Beziehungen zu anderen Studierenden: Sie fragen sich beispielsweise, wie sie damit umgehen sollen, dass sie nicht mehr in einem Klassenverbund sind, sondern plötzlich Kommilitoninnen und Kommilitonen haben, oder kommen mit WG-Problematiken zu uns. Darunter sind auch Menschen, die ihren Sozialkompetenzen nicht vertrauen oder gar Soziale Phobien haben. Belastende Beziehungen können auch zum Elternhaus bestehen, z.B. zu chronisch kranken oder psychisch angeschlagenen oder auch substanzabhängigen Eltern oder Geschwistern. Vermehrt wenden sich auch Doktorierende an uns. Sie stehen mit zeitlich und finanziell begrenzen Verträgen sehr unter Druck, haben Fragen zur Zusammenarbeit mit ihren Bezugspersonen, aber auch zur schwierigen Vereinbarkeit von Privatleben und der Forschungstätigkeit.

Der letzte Drittel erlebt eine klinisch relevante Krise: Starke Angstzustände, Phobien und depressive Episoden, chronische Schlafstörungen u.a. Wenn jemand in unsere Beratung kommt, der Symptome einer schweren psychischen Erkrankung zeigt, leiten wir die Person weiter und stellen während einer eventuellen Wartefrist eine Notversorgung sicher.

Sie sprechen gerade viele Neustrukturierungen im Leben junger Menschen an …
Alle Studierenden, die zu uns kommen, haben Mühe mit Übergängen. Sie kommen mit dem Wunsch an die Universität, dass alles weiterhin im Rahmen der vorgängigen Studienzeit verlaufen soll oder vollkommen anders. Diese Wünsche können zum Stolperstein werden, weil sich viele nicht damit beschäftigen, wie das neue Territorium aussehen könnte.

Wie helfen Sie den Studierenden konkret, diese Übergänge zu machen?
Ich lasse sie z.B. eine Werkzeugkiste packen, indem ich sie frage, welche Kompetenzen sie bereits mitbringen. Menschen, die ein Instrument spielen, bringen vielleicht bereits Ausdauer und Disziplin mit. Wir helfen Studierenden herauszufinden, was sie aufgrund ihrer ganz persönlichen Lebenserfahrungen bereits sehr gut können und unterstützen beim Transfer dieser Kompetenzen in die neue Lebenssituation. Das gleiche gilt für den Übergang von einer Situation in die andere: Sie kommen nicht von selbst auf die Idee, dass sie alle schon Übergange geschafft haben. Im Alltag lässt man Emotionen gross werden oder abklingen, man kann die Gedanken schweifen lassen oder sich bewusst auf etwas fokussieren. Hypnotherapeutische Methoden, Metaphern und das Arbeiten mit Adjektivpaaren (schnell/langsam, gespannt/entspannt, frei/verbunden, autonom/geleitet …) helfen, Änderungserfahrungen herauszufinden. Wenn man einfach wechseln kann von einem Zustand in den anderen, ist es ein Talent. Sobald man den Übergang bewusst steuert, wird es zu einer Fähigkeit.


Viele Studierende wissen nicht, dass sie bereits viele Fähigkeiten mitbringen, die fürs Studium nützlich sind.

Braucht man bei diesen Übergängen nicht sehr viel Mut?
Doch. Deshalb braucht der Mensch auch Rituale, um diese Übergänge zu erleichtern. Rituale geben Sicherheit, weil sie sich wiederholen und Komplexität reduzieren. Sobald bestimmte Alltagsstrukturen aufgeweicht sind, helfen Rituale, neue, eigene Strukturen einzuhalten. Es ist auch wichtig, Leere zu schaffen und auszuhalten: Um neue Ideen zu entwickeln oder sich einem neuen Zustand zuzuwenden, braucht es manchmal Zeit, um sich zu langweilen und mit dem Alten abzuschliessen.

Wie läuft der Beratungsprozess ab? Ich habe ein Problem oder eine Frage und dann …?
Man meldet sich an, entweder per E-Mail oder telefonisch. Am Telefon kann man auch gleich einen festen Termin ausmachen. Die erste Sitzung ist kostenlos, alle weiteren kosten je 20 CHF. Mein Ziel für das Erstgespräch ist es, eine erste Einschätzung zu machen. Mit den Studierenden definiere ich gemeinsam eine erste Problemdefinition und Vorschläge, diesen Schwierigkeiten entgegenzutreten. Im Durchschnitt beanspruchen die Studierenden sieben Sitzungen. Wer die Therapie nicht selbst finanzieren kann, darf sich beim Sozialdienst der Universität mit der Bitte um Unterstützung melden. Diese Regelung gilt seit kurzem auch für Doktorierende.

Sie haben bereits soziale Phobien, Angstzustände u.a. erwähnt. Die Beratung bietet Kurse an zu Themen wie Prokrastination, Umgang mit sozialen Phobien und mit Stresssituationen. Haben sie darunter auch Dauerbrenner?
Wir sind ein sehr kleiner Beratungsdienst, deshalb haben wir bisher nur zwei Themen zu Gruppenkursen ausgearbeitet, wollen aber das Angebot weiter ausbauen. Unser Dauerbrenner ist der Kurs zu Prokrastination. Das ist der Kurs, für welchen wir die meisten Anmeldungen erhalten … und auch am meisten Abmeldungen. Das gehört ja auch zur Prokrastination dazu (lacht). Der Studienalltag ist heute zwar viel strukturierter als früher, aber dennoch weiterhin weit weniger strukturiert als ein Schul- bzw. Arbeitsalltag. Sich selbst einen Arbeitsrhythmus zu geben ist nicht leicht … in Verbindung mit Perfektionismus ist es erst recht schwierig.


Die Universitätsstrukturen können Prokrastination begünstigen.

Im Alltag macht man sich über das Prokrastinieren eher lustig. Wie merke ich, ob ich ein ernsthaftes Problem habe oder einfach nur etwas faul bin?
Faule Menschen kommen in Bewegung, sobald sie sich in einer Situation befinden, die bedrohlich ist. Prokrastination hingegen hat den Effekt, dass der Mensch die Gefahr, sein Ziel zu verpassen, erkennt und doch nicht ins Handeln kommt. Bei Studierenden ist es oft so, dass Prokrastination funktioniert. Es werden z.B. Seminararbeiten mit Verspätung abgegeben und von der Professorin oder vom Professor angenommen, obwohl der Termin eigentlich schon verpasst ist. Studierende erleben, dass sie in solchen Situationen grosse Angst hatten, „für nichts“. Aber die Angst war echt … und das schlechte Gefühl ist echt. Das nagt an der Selbstsicherheit. Diejenigen, die zu uns kommen, „sind am Kaputtgehen“, und das ist das Perverse an der Prokrastination: die Angst und die Selbstbeschimpfung zu ertragen scheint leichter als die Aufgabe zu erfüllen.

Was lernen die Studierenden in diesen Kursen genau?
Sie lernen, den Mechanismus zu erkennen und damit aufzuhören, sich selbst zu beschimpfen oder Scham zu empfinden. Sich selbst zu bestrafen ist eine Strategie, Angst abzubauen. Die Studierenden müssen aufhören, sich selbst schlecht zu machen und müssen über Schritt-für-Schritt-Strategien und kleineren vordefinierten Aufgaben lernen, wie sie es schaffen, ins Handeln zu kommen.


Scham und Selbstbeschimpfungen machen handlungsunfähig.

Viele Studierende geben den Leistungssport für ein Studium auf. Was sind hier die psychischen Auswirkungen? Welche Lösungsansätze gibt es dazu?
Man sollte auf gar keinen Fall den Leistungssport oder ein anderes zeitintensives Hobby wie z.B. die Musik oder die Leitung in einem Jugendverein aufgeben. Wir sehen immer wieder Hochleistungssportler, die ihren Sport aufgeben, und körperlich und mental regelrecht auf Entzug sind. Manche befinden sich in einem im klinischen Sinne unstabilen Zustand und brauchen unter Umständen eine Medikation. Sie wurden so lange vom Mentalcoach, Trainer, Arzt, Masseur etc. begleitet, befinden sich von einem Tag auf den anderen ausserhalb des vertrauten Systems und kaum jemand kümmert sich noch um sie. Ein Sportverband und die Trainer oder Coachs sollten mindestens noch ein Jahr lang diese jungen Menschen bei ihrer körperlichen und mentalen Entschleunigung begleiten. Leistungssport und andere zeitintensive Hobbys sind alltagsstrukturierend, bauen das Selbstwertgefühl und das soziale Netzwerk auf. Ich rate dazu, sie soweit wie möglich beizubehalten.


Viele Studierende suchen die Beratungsstelle erst nach einer Krise auf …

Was würden Sie Studierenden raten, die Hemmungen haben, die psychologische Beratung zu kontaktieren?
Eine Kontaktaufnahme per E-Mail ist relativ niederschwellig. Viele Studierende kontaktieren uns über diesen Weg, können auch gleich das Problem ansprechen und schon relativ viele Informationen dazu liefern. Sie erhalten häufig eine Antwort mit bereits konkreten Inhalten, die ihnen helfen können, zu entscheiden, ob sie überhaupt noch persönlich vorbeikommen wollen oder nicht. Wir haben festgestellt, dass viele Studierende den Beratungsdienst trotz mittlerweile guter Sichtbarkeit erst finden, wenn sie akut unter einer Situation leiden, vorher sind sie wie blind dafür.  Die meisten melden sich erst, wenn die Krise schon wieder abflaut, lieber wäre uns natürlich, sie kämen bei den ersten Anzeichen. Gut funktioniert Mundpropaganda: Wer von den Peers den Tipp bekommt, zur Beratungsstelle zu gehen, hat weniger Hemmungen, uns zu kontaktieren.

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Author

Lovis Noah Cassaris ist Germanist_in, Philosoph_in und Autor_in, seit 2018 zudem Redaktor_in und Social-Media-Expert_in im Team Unicom. Lovis bezeichnet sich selbst als Textarchitekt_in und verfasst in der Freizeit Romane und Kurzgeschichten.

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