Eine außergewöhnliche Idee ist es ja eigentlich nicht. Theologische Studientage werden landab landauf mit tollen Referent*innen organisiert. Und dennoch: seit zwei Jahren bin ich Gast bei Theologischen Studientagen in Fribourg, die mich sehr beeindrucken. Und nein, es ist nicht zuerst die Qualität der Referent*innen, obwohl die spitzenmäßig sind. Es ist etwas anderes, was dem Gelingen zugrundeliegt…

Und das hatte mich schon im letzten Jahr sehr berührt. Wie kann eine so gastfreundliche und geistliche Atmosphäre entstehen, so viel Kreativität in den Begegnungen, so viel Freundschaft und Freude. Hier haben wir im letzten Jahr angefangen, über neue Formen theologischer Ausbildung nachzudenken – hier entstanden neue Freundschaften. Das hatte ich noch nicht so oft erlebt. Und das ist ganz bestimmt einer geistlichen Atmosphäre zu verdanken. Ganz bestimmt – denn hier geht es um Beziehungen zwischen Menschen, oder besser: um das Zwischen des Geistes in diesen Beziehungen, die alles so kreativ machen.

Das gute Leben und der Anspruch der Theologie

So auch dieses Jahr. Der Titel sprach mich eigentlich nicht an – The good life – und den Theologen Miroslav Volf kannte ich nur vom Namen. Und damit starteten diese Tage. Mit einem Manifest. Denn es geht darum, dass Theologie eine neue Perspektive bekommt. Volf positioniert sich hier klar: zum einen kann Theologie nur wirklich Theologie sein, wenn sie aus einer gelebten Christusnachfolge wächst. „Fides quaerens intellectum“ – das ist kein theoretischer Lehrsatz, sondern eine erfahrbare und lebbare Grundwirklichkeit. Aber Volf geht noch einen Schritt weiter. Seine Vision vom guten Leben beschreibt ja präzise jenen Glauben, der Erkenntnis sucht. Er verankert sie zwischen dem Garten der Schöpfung, von dem wir zu einer beziehungsreichen Existenz gerufen und gestaltet sind – mitten in den Zerbrechlichkeiten und Wunden der ambivalenten Weltzeiten – und der Vision des himmlischen Jerusalems, der Stadt als der Zukunft der Wohnung Gottes unter den Menschen.

Was Volf in den Vorlesungen beschreibt (und damit sein unlängst erschienenes Buch „Für das Leben der Welt“, Münster 2019 vorstellt), das ist ein Aufruf zum Nachdenken mitten in einer Krise hinein. Aber es ist – im Kontext dieser Tage – auch eine Raumbeschreibung für das Ereignis in Fribourg. Denn was Volf skizziert, das ereignet sich ja gerade in diesen Tagen. Ich mindestens empfinde es so. Ist echte und gute Theologie denn anders denkbar als in einem Raum der Gegenwart Gottes? Als in einem Raum, in dem das Reich Gottes wenigstens anfanghaft das Miteinander gründet? Ist nicht „Kirche“ der Wachstumsraum der Theologie? Denn das sollte ja Kirche sein – ein Raum, in dem Gott vorwegnehmend eine Erfahrung seiner Gegenwart unter den seinen ermöglicht, in allen Bezügen des Lebens, im Feiern, in der Achtsamkeit zueinander, im Feiern und Reden. Genauso erlebe ich es in diesen Tagen.

Die Logik von Mellitus

Und deswegen ist es nicht verwunderlich, wenn ich ganz gebannt Graham Tomlin in seiner kleinen Vorlesung höre. Denn im Januar war ich, waren wir, geflasht von der Theologenausbildung in St. Mellitus (https://christianhenneckehildesheim.wordpress.com/2019/01/20/18-monate/). Und deswegen wollte ich gerne hören, was das „Telos“ der Theolog*innenausbildung ist. Und ja – auch hier wurde schnell deutlich, dass das Ziel dieser Ausbildung ja nichts anderes ist, als daran zu dienen, dass Christen in der Reife ihres Zeugnisses in der Welt Gottes Gegenwart bezeugen. Und das Ziel der Theolog*innenausbildung ist genau diese Reife, diese Grunderfahrung die Theologie und Spiritualität, Gebet und Studium, Inhalt und Leben miteinander verbindet. Also auch hier…: Theologie und ihr Lebensraum, die Gegenwart des Auferstandenen, die alles durchdringt.

Der liebevolle Blick

Es war wirklich einer der Höhepunktw bei den Studientagen 2019 in Fribourg. Wim Wenders kam. Der berühmte deutsche Filmregisseur hielt einen Vortrag. Und es ging um den Film „Der Himmel über Berlin“, denn der hat den Fotografen und Filmemacher nachhaltig verändert. Für diesen Film hatte er von der theologischen Fakultät Fribourg einen Ehrendoktor in Theologie erhalten. Und erst jetzt, Jahrzehnte später, kam er nach Fribourg, um eine Gastvorlesung zu halten.

Ich höre überraschende Dinge. Zunächst und vor allem: es gab kein Drehbuch, sondern der Film hat sich Schritt für Schritt entwickelt. Aber es wird noch intensiver, was Wenders zu erzählen weiß. Im Film geht es um Engel – zwei Engel, die die Menschen begleiten, ihnen zuhören, mit ihnen auf dem Weg sind, aber nicht handeln können. Ja, denn sie sind ja die Augen Gottes auf diese Welt. „Und deshalb“, so sagt er es seinen Schauspielern, „müsst ihr einen liebevollen Blick auf die Menschen richten. Dieser liebevolle Blick, der muss in eurem Spielen erkennbar werden“. Sie waren erschrocken und verdutzt: wie soll denn ein solch liebevoller Blick aussehen, fragten sie sich. Das fragte sich auch der Kameramann von Wenders…: „Denn du musst dann, wenn die Kamera auf die Menschen fällt, die von den Engeln angesehen werden, diesen liebevollen Blick filmen“. Tausend Fragezeichen standen, so Wenders, dem erfahrenen Kameramann im Gesicht. Am Ende hatte er es geschafft: mit Licht und Ausleuchtung wurde auch für den Zuschauer erfahrbar, was gemeint war.

Das war der Anfang für etwas Neues im Wenders Leben: der liebevolle Blick wurde für ihn zum Qualitätsmerkmal seiner Filme. „Ich war nicht zufrieden, wenn ich merkte, dass das nicht so war.“ Wenders ist es dabei wichtig zu unterscheiden: der liebevolle Blick ist etwas anderes als der liebende Blick. Denn während der liebende Blick leidenschaftlich beteiligt ist und sich sehnend ausstreckt nach dem oder der Geliebten, so ist der liebevolle Blick anders: er schaut voller Liebe auf den Menschen, auf die Natur, auf irgendetwas und legt frei, was an Potential, an Möglichkeiten, an Tiefe in dem Anderen, in der Anderen, in der Sache liegt: ihre Geschichte, ihren Wert, ihre Kraft. Und dabei bleibt aber eine Distanz, die freilässt, was sie freilegt.

Wenders erzählt noch weiter, und ich hoffe, dass ich diesen Vortrag noch einmal meditieren kann. Aber schon das Gesagte lädt zum Innehalten ein. Diese Grundhaltung, die Wenders entdecken konnte, ist vielleicht das Wichtigste überhaupt, was uns in der Begegnung mit dem Menschen und der Welt zuwachsen kann. Ein Blick, der voller Liebe den Menschen erhöht, ihn zur Entfaltung und zum Blühen bringt. Ein Blick, der erkennt, welche Möglichkeiten und Geschichten im Gegenüber liegen, mit wieviel Respekt und Achtung jedem und jeder zu begegnen ist, immer im Interesse daran, dass der oder die Andere immer mehr sie oder er selbst wird.

Resonanz als soziale Theologie

Und dann war ich gespannt auf Hartmut Rosa. Ich hatte schon viel von ihm gehört. Von seine Soziologie der Resonanz. Aber was ich erlebte, berührte mich zutiefst. Eine Soziologie der Resonanz gründet ja in einem zutiefst relationalen Wirklichkeitsverständnis. Es geht um ein „spürbares“, um ein „hörbares“ Phänomen, das Rosa mit großer Leidenschaft beschreibt. Und alles sind Geschichten, einfache Geschichten, zwischenmenschliche Erfahrungen. Die Art, wie Rosa sprach, entspricht total seiner Entdeckung – in lebendiger Zugewandtheit, in kreativer Wahrnehmung des Publikums und des Ortes, sodass diese Vorlesungen wirklich ein resonantes Geschehen waren.

Na klar, was Resonanz in der soziologischen Beschreibung ist, das soll hier nicht beschrieben werden. Das kann man allerorten nachlesen. Aber meine Resonanzerfahrung möchte ich einfach kurz andeuten. Ich war einfach erstaunt. Ich war begeistert und verwundert. Denn was ich hier von Hartmut Rosa hörte, das was eigentlich das, was mich überhaupt erst zum Christsein gebracht hat. Meine Grunderfahrung war doch die der … Resonanz: eine Erfahrung, über die ich mein Leben lang nachdenken muss, die ich aber auch immer wieder anzieht, die wirklich von Gottesnähe geprägt ist. Wenn also die Offenbarung des Johannes das himmlische Jerusalem als einen Ort beschreibt, in der der Herr inmitten der Seinen das Licht ist, das alles erleuchtet, wenn es wahr ist, dass es eine Erfahrung des „Gott mit uns“ gibt, wie sie die Evangelien in den Erfahrungen mit dem Auferstandenen reflektieren, dann lässt sich das soziologisch als Ort und Raum der Resonanz beschreiben. Und diese Erfahrung verwandelt das Selbstverständnis des Menschen und seiner Beziehungen. Sie kommen nicht irgendwie dazu, zu einem Selbststand – sie sind das Wesen. Und während ich Rosa lausche, fallen mir die Denkversuche von Klaus Hemmerle und seiner trinitarischen Ontologie ein, fällt mir die erfahrungsgesättigte Theologie der Kirche ein, die zur Dreifaltigkeitslehre führte und ihrer Rede von der Perichorese. Und ich denke: Rosa, das ist der Soziologe, der mir meine Grunderfahrung der Gegenwart des Auferstandenen von der anderen Seite, von der soziologischen Rückseite erschließt.

Und ich staune. Das sind nun wahrhaft Zeichen der Zeit, die im Licht des Evangeliums tönen: menschliches Leben findet seine Fülle dann, wenn Resonanz ist, wenn es klingt, wenn die Zeit zwischen und erfüllt ist – und das Leben.

Spannend ist auch, dass sich die Grammatik weiten muss, um diese Erfahrung aufzunehmen.

Nein, Resonanz lässt sich nicht herstellen. Sie entstammt nicht einem aktiven aggressiven Zugriff auf die Wirklichkeit, aber sie ist eben auch nicht passives Erleiden und überwältigt werden. „Es ist Medium-Passiv“, meint Rosa, und drückt damit exakt die Erfahrung aus, die man in der Theologie mit einem alten Wort „Gnade“ nennt.

Summa

Und wie das tönt! Diese Tage sind kreativ, sie wecken auf, zu neuer Leidenschaft, zu einer neuen Theologie, zu einem neuen Leben. Und ich spüre Dankbarkeit und Herausforderung. Dankbarkeit dafür, dass die Wege sich öffnen für eine neue Perspektive des Lebens und Denkens. Es wird mir aber auch immer deutlicher, dass im Blick auf die Theologie und das theologisieren neue Wege nötig werden. Die Erfahrung von St. Mellitus, die Erfahrungen theologischer Studientage und andere Erfahrungen des Miteinander Denkens bereiten neue Schritte vor, die sehr herausfordernd sind. Vor allem dann, wenn es darum gehen könnte, Leben und Denken, Existenz und Theologie in ein neues Zueinander zu bringen. Es könnte ja sein, dass sich dann Widerstände regen. Gut begründete, wie immer. Aber eben auch deswegen, weil bewährte Gleichgewichte Auseinanderfallen und Verluste befürchtet werden.

Und ja, es kann nicht sein, dass wir pastoral von einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel ausgehen, das aber unser Denken und unsere Orte der Theologie nicht ebenso tiefgreifend verwandeln sollten… Ich bin gespannt darauf.