Transhumanismus
Theologie konkret

«Technisierung ohne Menschlichkeit ist ein Alptraum»: Gefahren des Transhumanismus

«Fortschritt ist nur eine gute Sache, wenn wir in die richtige Richtung fortschreiten», sagt Oliver Dürr. Der Theologe hat ein neues Buch über Transhumanismus geschrieben – über einen neuen Machbarkeitswahn, der das Leben von uns Menschen dank Wissenschaft, Technik und Medizin optimieren möchte. Doch die Sache hat einen Haken.

Wolfgang Holz

Warum möchten Sie nicht ewig leben?

Oliver Dürr*: Ich möchte schon ewig leben. Aber dafür muss ich das Leben nicht unendlich in die Länge ziehen, wie das die Transhumanisten versuchen. Es gibt nämlich heute viele, auch religiöse Menschen, die dem Transhumanismus so einiges abgewinnen möchten. Aber ich plädiere dafür, dass wir alles, was am Transhumanismus gut ist, auch ohne Transhumanismus haben können und uns dabei so einige Kopfschmerzen ersparen.

Engel von Niki de Saint Phalle im Zürcher Hauptbahnhof
Engel von Niki de Saint Phalle im Zürcher Hauptbahnhof

Wie meinen Sie das genau? Was bedeutet denn Transhumanismus genau?

Dürr: Wissenschaft, Medizin und Technik sind nicht «transhumanistisch», sondern schlicht menschliche Errungenschaften.

«Ich finde jedoch, das Ziel technischer Fortschritte sollte nicht jenseits des Menschen liegen.»

Der Transhumanismus ist nur eine mögliche und sehr fragliche Begleitphilosophie, die alles von einer zukünftigen Lebensform jenseits des Menschen herdenkt und in diesem Sinne die Gegenwart gestalten möchte. Ich finde jedoch, das Ziel technischer Fortschritte sollte nicht jenseits des Menschen liegen, denn jenseits des Menschen gibt es niemandem, dem dies überhaupt etwas bedeuten könnte. Ausser vielleicht Gott und den Engeln – aber die leben auch ohne Technik ganz gut.

Bohrmaschine im Gotthard-Tunnel.
Bohrmaschine im Gotthard-Tunnel.

Der Transhumanismus ist gemäss Definition Ihres neuen Buches eine neue Denkweise, die das Leben des Menschen durch Wissenschaft, Technik und Medizin verbessern möchte. Was ist daran schlecht?

Dürr: An sich ist daran nichts schlecht. Viele transhumanistische Anliegen kann man auch teilen, wenn man kein Transhumanist ist. Ich möchte zum Beispiel auch das Leben der Menschen verbessern. Aber die entscheidende Frage ist natürlich, was «der Mensch» hier ist und wie man «verbessern» versteht.

Will heissen?

Dürr: Transhumanisten haben einen ganz oberflächlichen Begriff der Verbesserung. Der Mensch soll stärker, effizienter, sexuell aktiver, klüger und so weiter werden. Umgekehrt gilt ihnen deshalb: wer nicht stark, effizient, sexuell aktiv, klug und so weiter ist, ist weniger wert.

«Im Transhumanismus geraten Werte, wie Mässigung, Demut, Weisheit, Liebe und auch das ganze seelische Innenleben völlig aus dem Blick.»

Das ist an sich bereits problematisch! Gleichzeitig geraten im Transhumanismus andere Werte, wie Mässigung, Demut, Weisheit, Liebe und auch das ganze seelische Innenleben geraten völlig aus dem Blick. Die charakterliche, moralische und intellektuelle Bildung des Menschen zur Reife wird ersetzt durch einen rein technischen Zugang der Körpermodifikation. Überhaupt sehen die meisten der Transhumanisten im Menschen nicht viel mehr als eine biologisch halbfertige Maschine, die es zu optimieren gilt. Deshalb kaprizieren sich Transhumanisten auch nur auf technische Mittel der Menschenverbesserung.

Der Schweizer Uhrmacher Pierre Jacquet-Droz. Seine Automaten konnten schreiben, zeichnen und Orgel spielen.
Der Schweizer Uhrmacher Pierre Jacquet-Droz. Seine Automaten konnten schreiben, zeichnen und Orgel spielen.

Das ist wirklich schlecht…

Dürr: Das Problem an der Sache ist, dass jede Technik sowohl Heil als auch Verderben bringen kann. Deutlich haben wir das an der Atomenergie gesehen. Aber es gilt – vielleicht weniger drastisch – für jede technische Neuerung. Nur wenn mit der technischen Entwicklung auch die Menschlichkeit zunimmt, können wir dieses Potential zum Guten einsetzen. Transhumanisten wollen technische Innovationen, aber haben kein Gespür mehr für das Menschliche, das aus diesen Innovationen überhaupt etwas Gutes machen könnte.

Fehlt die Kühlung, kommt der GAU - die Kernschmelze
Fehlt die Kühlung, kommt der GAU - die Kernschmelze

Ist Transhumanismus denn tatsächlich so etwas Neues – oder wird diese Bewegung nur infolge der Turbo-Errungenschaften der modernen Bio- und Informationstechnik gehypt? Schliesslich war streng genommen auch die Holzkrücke eines Neandertalers bereits eine Form von Transhumanismus, weil sie dem Verletzten geholfen hat, vor dem Mammut zu fliehen.

Dürr: Der Gedanke, den Menschen zu verbessern, ist so alt wie die politisch reflektierte Menschheit selbst. Schon der alte Platon philosophiert im «Staat» darüber, wie eine Gesellschaft optimierter Menschen bewerkstelligt werden könnte. Neu sind tatsächlich die technischen Möglichkeiten, die sich in der Bio- und Informationstechnik eröffnen. Diese sind in der Tat revolutionär. Und erneut stellt sich die Frage, ob auch diese Revolution ihre Kinder frisst.

Die Mammut-Stosszahn-Jäger bei der Arbeit
Die Mammut-Stosszahn-Jäger bei der Arbeit

Sie nehmen damit auf die Evolution des Menschen Bezug…

Dürr: In der Tat ist die Evolution des Menschen sehr eng mit dem Gebrauch von technischen Hilfsmitteln verwoben. Das macht uns allerdings noch nicht zu Transhumanisten, sondern schlicht zu Menschen, die sich eben seit jeher der Technik bedienten. Dagegen haben die wenigsten Menschen etwas. Allerdings hängt ein gelingendes Leben davon ab, dass wir zwischen Menschen und Technik sinnvoll unterscheiden können und dadurch fähig sind, zu analysieren, was die Technik mit uns Menschen macht und wie sie unsere Welt prägt. Nur dann können wir technische Neuerungen mit unseren menschlichen Werten und Zielvorstellungen abgleichen.

Und was ist dann das Spezielle am Transhumanismus?

Dürr: Die eigentliche Pointe des Transhumanismus liegt eben gerade darin, dass der Mensch im Wesentlichen selbst nichts anderes ist als ein Stück Technik.

«Potente Technik kann nämlich genauso gut zum Schaden der Menschen eingesetzt werden, wie zu ihrem Heil.»

Deshalb sieht er in bio- und informationstechnischen Innovationen bereits das Heil, ohne zu fragen, in welche Richtung uns diese Fortschritte bringen. Potente Technik kann nämlich genauso gut zum Schaden der Menschen eingesetzt werden, wie zu ihrem Heil. Am Ende kommt es deshalb auf den Menschen an.

Algorithmen
Algorithmen

Was ist denn Ihrer Meinung nach wirklich wünschenswert in Sachen menschlichem Fortschritt? Sie kritisieren in Ihrem spannenden Buch den totalen Machbarkeitswahn des Transhumanismus, der den Menschen einerseits auf einen rein animalischen Körper, andererseits auf ein computerähnliches Dasein reduziert, auf eine bio-algorhythmisch gesteuerte Maschine ohne Seele quasi.

Dürr: Ich bin eigentlich ziemlich technikbegeistert. Aber durch die Beschäftigung mit der Thematik sehe ich gewisse Spannungen und Widersprüche, die mich schon stutzig machen. Am Ende hängt es vom Menschenbild ab, das man hat, wie man zu diesen Entwicklungen steht.

«Es hängt alles an der Differenzierung zwischen Mensch und Maschine.»

Ich sehe unendlich viele Chancen, wie wir Wissenschaft, Medizin und Technik zum Guten einsetzen. Es hängt alles an der Differenzierung zwischen Mensch und Maschine. Diese Differenzierung erlaubt es, die Maschinen zum Wohl der Menschen einzusetzen. Wo diese Differenz geleugnet wird, laufen wir Gefahr, eine Zukunft für Maschinen zu bauen, in der Menschen keinen Platz mehr haben. Dann schiessen wir aber am eigentlichen Ziel vorbei. Fortschritt ist nur eine gute Sache, wenn wir in die richtige Richtung fortschreiten. Eine Technisierung ohne Menschlichkeit ist ein Alptraum. Echter Fortschritt ist um den Menschen herum konzipiert, wobei wir den Menschen nicht in Abgrenzung zum Rest der Natur denken sollten.

Naturspektakel
Naturspektakel

Sie sprechen in Ihrem Buch aus der humanistischen Perspektive eines Wir-Kollektivs, das auf der Basis eines gemeinsamen Wertekodex argumentiert und urteilt. Gibt es denn dieses «Wir» überhaupt noch? Und besteht die eigentliche Gefahr des Transhumanismus nicht in seiner grenzenlosen Machbarkeit, sondern in der Willfährigkeit des postmodernen Individuums?

Dürr: Das ist eine wichtige Frage. Und sie beschäftigt mich seit Längerem. Ich bin nicht sicher, ob es dieses geteilte «Wir» noch gibt, sicher nicht im Blick auf weltanschauliche Grundüberzeugungen und entsprechende Werte. Aber das gehört ja zu einer pluralen Gesellschaft mit dazu und ist an sich kein Problem, solange wir zivilisiert mit Divergenzen umgehen können.

Was folgt für Sie daraus?

Dürr: Es folgt für mich daraus, dass trotz dieser Differenzen wir alle Menschen sind, und am Menschsein können wir anknüpfen. Wenn, wie ich im Buch argumentiere, der Transhumanismus den Menschen zu reduktiv begreift und ein ganzheitlicheres Bild vom Menschen angemessener ist, dann lohnt es sich an diesem «Mehr» zu arbeiten, es zu kultivieren.

Oliver Dürr
Oliver Dürr

Wie verstehen Sie das?

Dürr: In der Tat bin ich überzeugt, dass eigentlich die Mehrzahl der heute lebenden Menschen in religiösen und humanistischen Traditionen gross geworden ist, die darum wissen, dass wir gebildet, geformt und erzogen werden müssen, um menschlicher zu werden. Solche Ressourcen werden in unseren technikaffinen Debatten jedoch oft ausgeklammert.

«Ohne eine spirituelle und humanistische Tugendhaftigkeit drohen unsere technischen Fortschritte zu gesellschaftlichen Rückschritten zu verkommen.»

Dabei wären es gerade diese Traditionen, die es immer wieder geschafft haben, Menschen zum Guten zu inspirieren, zu motivieren und ganz praktisch zu trainieren. Ohne eine solche spirituelle und humanistische Tugendhaftigkeit drohen unsere technischen Fortschritte zu gesellschaftlichen Rückschritten zu verkommen.

Und was ist nun Ihre eigene Antwort auf Ihren Buchtitel? Ist Transhumanismus Traum oder Alptraum?

Dürr: Das kommt eben auf uns an. Wenn wir den Transhumanisten das Feld überlassen, dann wird die Sache zum Traum für einige wenige und zum Alptraum für viele andere. Wenn wir hingegen eine humane Renaissance erleben, dann könnten unsere technischen Fortschritte sehr wohl zu einer besseren Zukunft beitragen. Diese Herausforderung ist so global wie die Verbreitung von Smartphones.

Der Mensch als Maschine
Der Mensch als Maschine

Aber woher soll diese humane Renaissance kommen?

Dürr: Es finden sich Ressourcen für eine solche Renaissance der Menschlichkeit in fast allen religiösen und humanistischen Traditionen.

«Die Konturen des christlichen Glaubens spezifisch in einer technisierten Welt zu umreissen, ist die grosse Aufgabe, vor der die Techniktheologie heute steht.»

Insofern findet der christliche Glaube hier auch viele Verbündete aus unterschiedlichsten Lagern, wenngleich er diese Anliegen vielleicht anders begründen würde. Die Konturen des christlichen Glaubens spezifisch in einer technisierten Welt zu umreissen, ist die grosse Aufgabe, vor der die Techniktheologie heute steht.

*Oliver Dürr ist Doktor der Theologie und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Glaube & Gesellschaft an der Universität Fribourg sowie Habilitand am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Universität Zürich. Sein neues Buch «Transhumanismus – Traum oder Alptraum?» ist im Herder-Verlag erschienen. Das Interview wurde schriftlich geführt.


Transhumanismus | © Pixabay/PapaOsmosis, Pixabay License
11. Juni 2023 | 07:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
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