Das Duell

[869] BEI EINEM kurzen Besuch auf dem behelfsmäßigen Flugplatz einer deutschen Luftwaffen-Staffel im nordfinnischen Operationsgebiet, der aus den Urwäldern Kareliens gerodet worden war und vorwiegend Aufklärern und leichten Bombern im Kampfraum von Salla und Kiestinki diente, lernte ich in den mehr feuchten als fröhlichen Stunden einer Herbstnacht des Jahres 1943 in der Offiziersmesse eine mit der Zahl ihrer geflogenen Einsätze stark zusammengeschrumpfte Gruppe von Männern kennen, deren Galgenhumor sich vorwiegend mit dem ›Gasmann‹ als einem Schreckgespenst der möglicherweise nahen zivilistischen Zukunft beschäftigte, wenn eine bescheiden bürgerliche, aber unbezahlte Gasrechnung wieder mehr gelten würde als ein erfolgreicher Kampfeinsatz über oder hinter den feindlichen Linien. Der ›Gasmann‹ starb an jenem Abend die ungeheuerlichsten Tode, denn hätte er auch nur in einer der mordlustigen Phantasien überlebt und seine Rechnung quittieren dürfen, so hätten, ihrer Meinung nach, alle ihre Kameraden in der heillos zusammengeschrumpften Staffel, die den Platz nicht mehr erreicht hatten und verschollen geblieben waren, ihr Leben sinnlos eingebüßt.

Die lärmende Runde wurde mit jeder Stunde frivoler, der Galgenhumor begann mit jäher Ernüchterung auszurechnen, wie wenig von allen Versprechungen, die man der Staffel bei ihrer Überfliegung aus Frankreich auf finnisches Frontgebiet gegeben hatte, eingelöst worden war: mit wie jämmerlich wenigen Maschinen, wie wenigen Flugzeugführern, wie wenig Ersatzteillieferungen, wie wenig Treibstoff man zu rechnen hatte, wer mit der letzten Maschine nach Haus fliegen dürfe –  kurzum: der ›Gasmann‹ wurde der lange Schatten vor der untergehenden Sonne ihres Kriegerglücks. Und jetzt, beschwerte sich die immer merklicher betrunkene Mehrheit, habe auch noch ›Graf‹, der als Waghals sonst immer seinen Glücksschopf unter dem Helm gehabt habe, sich nur als Wandervogel zurückretten können, und seine Maschine sei irgendwo im Urwald verkohlt!

Der, den sie den ganzen Abend nur als den ›Grafen‹ angesprochen und der, selber nicht im mindesten betrunken, recht häu-[870]fig das große Wort geführt hatte, war ein Oberfähnrich österreichischer Herkunft, dessen viele Pflaster am Kopf und an den Händen verrieten, dass sein Besuch beim Feldarzt noch nicht lange zurückliegen konnte. Er war klein von Wuchs, dunkelhaarig, von elegantem, im Gegensatz zu vielen von den andern gestochen kavaliersmäßigem Auftreten, und verschmähte es, die Beachtung, die man ihm zollte, auszukosten. Ein paar gar zu grell aufgesetzte Lichter in seiner sarkastischen Redeweise erweckten bei mir von Anfang an den Eindruck, dass es entsprechende Finsternisse dahinter oder darunter gebe. – Ich fragte ihn, was es mit der Bezeichnung, er sei zum Wandervogel geworden, auf sich habe.

Er lächelte spöttisch und schlug die Antwort mit einer Handbewegung aus.

Na, zu Fuß ist er gekommen, durch halb Karelien! waren die anderen mit etwas wie Bewunderung um so bereitwilliger zur Auskunft.

Was heißt schon halb Karelien! spöttelte er. Weiß jemand hier, wo Karelien anfängt und wo es aufhört? Die Hälfte, meine Herren, dozierte er ironisch, kann man nur und erst feststellen, wenn man das Ganze kennt, so wie ... hm ... wie das ganze Großdeutsche Reich!

Der Hauptmann, der die Reste der einst vollzähligen Staffel kommandierte, fand es geraten, dieser unbehaglichen Ironie auszuweichen, und wechselte das Thema der Unterhaltung, während die meisten der allmählich schwer Berauschten sich mit einem Versuch zu stramm dienstlicher Haltung vor ihrem Vorgesetzten verabschiedeten. Und dann blieb mit einemmal auch der Hauptmann weg, und ich sah mich wie nach Verabredung mit dem beinahe völlig nüchtern gebliebenen Oberfähnrich allein.

Im gleichen Augenblick, da er sich mit einem Fremden unter vier Augen wusste, kam etwas melancholisch Gelöstes über ihn, und er schenkte sich mit ruhiger Hand ein Glas von dem schweren Rotwein ein, den wir den ganzen Abend getrunken hatten. Dann fragten wir einander wie beiläufig aus, woher wir kämen, und er machte ein letztes Mal einen Versuch zu einer der überdrehten Witzeleien, mit denen er sich vor den anderen ausgezeichnet hatte, als er mit einem flauen Lächeln bemerkte, er würde, wenn er sein Erbgut in Kärnten je wiedersähe, dort [871] auch den letzten Baum absägen lassen. In diesen Urwäldern habe er zuviel Bäume zu sehen bekommen. Lieber auf einer einsamen Insel im Pazifik, sagte er, als in dieser Wildnis.

Mit der Frage, ob er das auf seiner Wanderung durch Karelien festgestellt habe, kam ich indirekt auf die Beschwerden der anderen über sein ›Wandervogelleben‹ zurück.

Das auch, sagte er lakonisch. – Marschieren Sie mal acht Tage nach dem Kompass durch dieses Dickicht! fügte er hinzu.

Er trage noch so viele Pflaster, dass es nicht lang zurückliegen könne.

Ist auch nicht lange her, gab er zur Auskunft, ich habe seit der Rückkehr jetzt gerade acht Tage Krankenurlaub gehabt.

Und die Maschine?

Die ist hin, sagte er abwinkend. Ich bin abgeschmiert und habe aussteigen müssen. Das war schon auf dem Heimflug. Die siebente in unserer Verlustliste. So etwas steht im Protokoll. Aber daneben gibt es ja auch noch so manches, was man nicht im Protokoll lesen kann, und das ... Wissen Sie, ich wundere mich, dass ich hier sitze!

Er saß ganz ruhig da und drehte sein Weinglas beim Stiele. Als im Hintergrund der Baracke einmal jemand vom Personal der Messe sich etwas zu schaffen machte, blickte er flüchtig auf, kehrte dann aber sogleich zu ungeteilter Aufmerksamkeit zurück. – Im Protokoll steht, wie man seine Maschine verliert, und, wenn man Glück hat, steht da auch noch, dass der Gegner selbst, eigener Beobachtung nach, hat daran glauben müssen. Wenn es nun ein sichtbarer Gegner war, eine andere Maschine, ein Feind in Person und nicht das anonyme Gebrodel der Flak. Wie und wo man aufgesetzt hat und was man von der eigenen Maschine noch hat beobachten können ... Na ja, so ziemlich alles bis zur eigenen Unterschrift auf dem Meldeblock. Aber dass da zwei Fallschirme in der Luft gehangen und dass die beiden, die einander oben nicht mehr aus dem Visier gelassen hatten, schließlich parterre auch wieder einander begegnet sind ...

Sind Sie ihm unten wieder begegnet? fragte ich ungläubig, denn die Wahrscheinlichkeit, dass zwei über den Urwäldern Ostkareliens mit dem Fallschirm abgesprungene Flieger einander unten wieder begegnen, musste äußerst gering, ja eigentlich völlig unglaubwürdig erscheinen.

Er nickte erst wortlos und fügte dann hinzu: Haarscharf, [872] wie nach Verabredung, so, als hätte es so sein müssen. Ich will Ihnen erzählen, wie das vor sich ging. Und dann sagen Sie mir hinterher, ob ich noch am Leben bin.

Warum nicht?

Warten Sie! Die Antwort ist nicht so einfach... Er blickte eine Weile stumm in sein Weinglas und sagte dann: Ich setzte in der Krone einer hohen Tanne auf, nachdem ich den anderen, den es wie mich ziemlich heftig schwenkend nach Westen hin abgetrieben, im Gegenlicht bei niedrigem Sonnenstand schon geraume Zeit aus den Augen verloren hatte. In der Krone einer hohen Tanne setzte ich auf. Das war ungefähr so das Schlimmste, was man sich vorstellen konnte, denn der Wind schleifte mich eine ganze Weile durch die Baumwipfel wie durch einen endlosen Reiserbesen. Und während ich darum kämpfen musste, die Fallschirmleinen einzuholen, denn ich konnte den Schirm ja dem Wind nicht ablaufen, musste ich in jedem Augenblick so festes Geäst unter mir haben, dass ich mich daran festhalten und den Abstieg wagen konnte. Schließlich war diese Synchronisierung, die mir heute wie ein Wunder vorkommt, erreicht, und ich krallte mich wie eine angeschossene Krähe halb betäubt im Wipfel einer hohen Tanne fest und schnallte mich aus den Gurten, die mich immer wieder weiterzerren wollten, weil der Fallschirm immer noch etwas Luft fing. Als ich damit fertig war und mich etwas ausgeruht hatte, probierte ich alle viere. Die waren heil oder schienen es jedenfalls zu sein. Nur hatte ich überall auf der bloßen Haut Schmerzen, als läge ich in einem Ameisenhaufen. Wenn ich nach unten guckte, sah ich nichts als Dunkelheit. Die Baumstämme verloren sich wie Stalaktiten im Dämmern. Aber hinunter musste ich rasch, meinte ich, denn hier oben hing ich frei zum Abschuss für jeden, der einen Finger krumm machen wollte. Doch auch das – ich sage Ihnen: eine wahre Kaminfegerarbeit in einem Fabrikschornstein! – auch das gelang mir, ich weiß nur nicht mehr, in wie vielen Stunden, denn ich musste bei diesem Abstieg in unzähligen Spiralen rund um den Stamm, bis ich schließlich unten stand. Kann sein, dass es da schon dämmerte, genausogut kann es sein, dass mir das gedämpfte Licht unter den Bäumen zunächst einfach wie eine ewige Dämmerung vorkam.

Ich setzte mich hin, wo ich den ersten Fuß aufgestellt hatte, und versuchte erst einmal, ganz zu mir zu kommen. Wenn ich zum [873] Himmel aufschaute, sah ich meinen Fallschirm hoch oben zwischen zwei Asten mit einem herabbaumelnden Zipfel wie ein Stück schmutzige Wäsche hängen. Und um mich herum? Bäume, Bäume, Bäume; Gebüsch, dicht, verwachsen wie zu Mauern und wie für ein Machete-Messer geschaffen, von dem man als kleiner Junge in Dschungelbeschreibungen gelesen hatte. Kontrolle. Pistole: das Magazin voll, ein paar Reserve-Magazine; Signalpistole, Leuchtraketen; eiserne Ration, einschließlich Tabletten und Verbandzeug; Kompass am linken Handgelenk, am rechten die Uhr, nicht stehen geblieben. Zehn Minuten über fünfzehn Uhr. Es ging in dieser Breite auf die Nacht zu. Die Überkleidung von der Landung her wie mit Messern aufgeschlitzt, dass das Futter hervorblitzte. Also los, nach Haus auf den Platz! Versuchen konnte man’s ja. Und außerdem hatte ich doch Mordsglück beim Aufsetzen gehabt und mir nichts verstaucht oder gar gebrochen. Aber wohin hier, wo man vor lauter Bäumen den Wald nicht sah? Ich versuchte mir noch einmal zu vergegenwärtigen, welchen Kurs ich geflogen hatte, bevor ich meinen Verfolger selbst ein letztes Mal angegangen war und er mit einer dicken, schwarz blakenden Rauchfahne hinter sich gezeichnet und – weil ich wohl auch sein Leitwerk beschädigt hatte – Parallelkurs zu mir geflogen war, bevor er gleich mir hatte aussteigen müssen. Ich hatte im großen und ganzen stur West, drei Strich Südwest gehalten und, auch als in der Kabine schon Qualm zu spüren gewesen war, bis zum Aussteigen immer noch soviel Vorgabe auszunutzen versucht, wie mir meine alte Flughöhe gab, um so weit wie möglich nach Westen durchzukommen. Also war, geflogen wie gegangen, am Kurs nichts zu ändern. Und wie weit ich auch schon bis nach Westen gekommen war – auf eine Front mit Schützengräben und dergleichen brauchte ich keine Rücksicht zu nehmen, von den Stellungen um die wenigen Straßen abgesehen. Hier suchten die Feinde sich ohne zusammenhängende Fronten mit Fernpatrouillen, und außer Partisanen konnten nur Bären gefährlich sein. Für den Hauptfeind des Jahres, die Mücken, war die Saison schon vorbei. An ihn, den anderen, dachte ich gar nicht. Also denn! ›Befiehl du deine Wege‹, lieber Franz, dachte ich und machte mich auf den Weg heim ins Reich, wo es auch noch Kärnten gab.

Er erzählte, wie er aufgebrochen war, leise wie ein Schmugg-[874]ler jedes Geräusch zu vermeiden versucht, nach einer halben Stunde sich seiner Überkleider entledigt hatte, weil ihm der Schweiß in Strömen den Rücken hinuntergeflossen war, und erst einen Halt eingelegt hatte, als schon die Leuchtmarkierungen auf seinem Kompaß zu sehen gewesen waren. Da war er auf das nächstbeste Dickicht zugegangen, das ebensogut einen Bären hätte behausen können, hatte seine Überkleider wieder angezogen und sich schlafen gelegt. Auf alle Fälle bereit dazu, denn es war nun rasch dunkel geworden. Aber der Schlaf war noch lange nicht gekommen. Er hatte angefangen, jämmerlich zu frieren, soviel dürres Moos er auch zu sich herangescharrt und sich wie ein Fötus zusammengekrümmt hatte. Zu der ohrenbetäubenden Stille nach dem Sturz durch die freie Höhe und dem sausenden Schwenken am Fallschirm waren jetzt die undefinierbaren Laute und Geräusche der Nacht gekommen, in denen er einmal Menschenstimmen zu vernehmen, ein andermal unbekannte Tiere zu unterscheiden gewähnt, dann wieder Schritte nahen gehört hatte, bis alles sich in ein Rauschen aufgelöst, von dem er nicht gewusst hatte, ob seine Ohren es ihm vortäuschten oder ob es wirklich so rauschte.

Es war wie das Einschlafen in einer Narkose, sagte er, und es war wohl auch mehr eine Ohnmacht als Schlaf, woraus ich nach einer halben Stunde erwachte. Der kalte Waldboden strömte einen Geruch aus, wie man ihn nach einer Narkose noch stundenlang ausatmet. Ich aß etwas, saß eine Weile still da und lauschte. Dann schlief ich wirklich ein. Aber wie oft ich zwischendurch wach wurde, habe ich nicht gezählt.

Als die ersten Umrisse der Baumstämme sich gegen das Dunkel abgezeichnet hatten, war er wieder aufgebrochen, erstaunt darüber, wie gut und wie lange er geschlafen hatte. Er hatte vor dem Aufbruch seine Waffen überprüft und sogleich die Überkleider ausgezogen, obschon es ihn da noch mächtig gefröstelt hatte, alle Reißverschlüsse geschlossen und sich das Ganze wie einen Balg über die Achsel geworfen. Nun hatte er sich warmlaufen müssen. Und das hatte er auch bald geschafft. Es war ein nahezu wolkenloser Herbsttag gewesen, an dem bald die Sonne zum Vorschein gekommen war, und wenn er nicht auf Pilze und Beeren als Zukost zu seiner eisernen Ration und den Tabletten, die zum Notvorrat gehörten, angewiesen gewesen wäre, hätte er meinen können, auf einem langen Jagdausflug [875] zu sein. Noch war er auch bei vollen Kräften gewesen, oder die Tabletten hatten es ihm vorgetäuscht.

Bäume, Bäume; Büsche, manchmal nutzlose, hinderliche, manchmal nützliche, von denen er sich Beeren gepflückt, und Eierschwämme und Steinpilze in Mengen. Tückisch waren die in den Wald beinahe unmerklich eingebetteten Moose und Moore gewesen, auf die er erst aufmerksam geworden war, wenn er mit einem Stiefel schon dringesteckt hatte. Diese noch ungegilbten, hellgrünen Auen hatten ihn mitunter zu beträchtlichen Umwegen gezwungen. Jeden Flecken Birkenwald hatte er freudig gegrüßt, ›wie das Wirtshaus hinter dem Friedhof‹, sagte er, denn zwischen den vielen düsteren Kiefern und Tannen hatte der Anblick seinen Sinn förmlich aufgeheitert.

Am Mittag hatte er ziemlich ausgiebig gerastet. Danach kam der Nachmittag, der nicht mehr lang sein konnte, denn es war Ende September, und die Sonne sank früh. Er hatte eine ganz sanfte, beinahe unmerkliche Bodenwelle vor sich, zu deren Höhe dichter Föhrenwald ihn zwischen einer wahren Allee von hellen Birken entließ, und sein Weg zwischen den Birken war breit wie eine Kleinstadtgasse, die von struppigem, gilbendem Gras und stacheligem Rankenwerk überwuchert war. Und da ...

Es war beinahe genau vierundzwanzig Stunden nach meiner Landung in der Tanne, sagte er. Da kam wie jeder beliebige Fußgänger auf der gleichen Gasse der andere in die Allee zwischen den Birken eingeschwenkt! Ich sah ihn vielleicht früher als er mich, denn er stand für mich im Gegenlicht, und ich war gegen das tiefe Dunkel der Föhren heraufgekommen. Und er ... Er sah genauso aus wie ich. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutete? Ein Doppelgänger, und nach vierundzwanzig Stunden in der Wildnis und ohne ein sichtbares Wesen in der Nähe zum erstenmal ein lebendiger Mensch! Ein Mensch wie ich selbst, und ausgerechnet der, der einen in die Lage versetzt hatte, in der man sich befand – wie ich, übrigens, ihn selber!

Rùki wwerch! schrie ich. Hände hoch! sollte das heißen, hatte man mir gesagt, und ich sah, wie er förmlich zusammenflog und wie seine Rechte in die Tasche griff. Ich hatte meine Pistole schon in der Hand. Ich hätte jetzt schießen können, ich brauchte nur noch durchzuladen, und das hätte ich, bis er fertig gewor-[876] den war, sicher zustande gebracht. Aber ich tat es nicht. Ich weiß nicht, warum. Es schien mir einfach aberwitzig, dass zwei Leute, die allein in einem so großen Walde waren, aufeinander schießen sollten. Für keinen von uns beiden war Deckung nahe genug. Die Birkenstämme waren zu dünn, er selber schon zu weit hangabwärts gekommen, als dass er hätte zurücklaufen und verschwinden können. Wir standen auf dieser Gasse einander gegenüber.

Nix woinà! rief ich ihm zu, nix woinà!

Er zerrte immer noch an etwas, was er aus seiner Tasche hervorziehen wollte und was sich wohl im Futter verfangen hatte. Es wäre gemein gewesen, jetzt auf ihn zu schießen, aber durchgeladen hatte ich mittlerweile.

Nix woinà! schrie ich, nix woinà! Hier ist kein Krieg! Woinà da! fügte ich hinzu und zeigte mit der Linken in den Himmel, aus dem wir uns selber heruntergeholt hatten. Der Krieg ist da oben, oder da oben war er einmal. Hier unten war Friede. Jetzt hatte er seine Pistole in der Hand und im Nu durchgeladen.

Nix woinà! wiederholte ich, die Pistole mit angehobenem Arm in der Hand.

Er guckte mich verblüfft an. Dieses Gerede hatte ihm einfach die Initialzündung genommen, und ich sah, er fing an zu lächeln. Und auch ich lächelte oder machte eine Grimasse, die man als Lächeln deuten konnte, und schob meine Überkleider, die herunterzurutschen drohten, höher auf die Schulter, als wäre es in dieser Situation noch darauf angekommen, ob jemand unter einem Schuss mit ordentlich über die Schulter geworfenen Kleidern zusammenbrach. Aber so ist das, so handelt man: völlig wahnwitzig, wenn erst einmal das, was man den gesunden Menschenverstand nennt, sich eingeschaltet hat. Er lohnte es mir nicht damit, dass er in diesem Augenblick, da ich mich bewegte und meine Rechte nicht mehr ganz fest auf ihn gerichtet war, auf mich geschossen hätte, nein. Er hob seine eigene Rechte mit der Pistole und schoss gen Himmel, zwei- oder dreimal, ich weiß es nicht genau, denn die Abschüsse knallten nach der uferlosen Stille der vergangenen Stunden wie ein einziger Peitschenschlag in meinen Ohren. Im nächsten Augenblick tat ich es ihm nach: einen, zwei, drei Schuss ... Ich wusste: Noch hatte ich vier.

[877] Idi domòi! rief ich ihm zu, geh nach Hause! und tat selber einen Schritt hangaufwärts auf ihn zu. Aber er rührte sich nicht, und so blieb auch ich wieder stehen. Nix woinà! rief ich noch einmal, woinà na werchù! und zeigte in den Himmel. Da oben war der Krieg! Hier unten – und meine Linke beschrieb einen Halbkreis – mir! Friede!

Er lächelte. Charaschò! sagte er dann lächelnd. Pojdjòm! Gut, gehen wir! und kam langsam auf mich zu.

Das alles ging so vor sich, wie Figuren auf einem Spielbrett den Platz wechseln. Er hielt sich ein wenig mehr nach rechts auf meine Seite hin, ich trat mit dem nächsten Schritt ein wenig mehr nach links und bog damit vor ihm aus. Ein Instinkt befahl jedem von uns, den Gegner im Auge zu behalten und ihm so weit wie nur möglich auszuweichen. Immer noch hielt jeder von uns seine Pistole im Anschlag, und zwischen jedem Schritt und dem nächsten lag so etwas wie eine Ewigkeit, weil jeder seinen Schritt sorgsam sicherte. Für zehn, zwölf Schritte brauchten wir Minuten. Dabei kam ihm zustatten, dass er hangabwärts ging, während ich, wenn auch beinahe unmerklich, mit jedem meiner ausweichenden Tritte ansteigen musste. Aber dann kam der Augenblick! Wir standen einander gegenüber, beide die Pistole im Anschlag, und sicher klopfte auch sein Herz ihm, wie das meine, bis zum Hals hinauf. Aber wir hielten nicht inne, als wäre das zu gefährlich, wir blieben in Bewegung, obschon wir uns anstarrten. Er war ein blutjunger Kerl, sicherlich auch nur Leutnant oder Unterleutnant, ein frisch aussehender, brünetter, beinahe hübsch zu nennender Bursche, wie ein Kornett bei unseren Husaren früher, und das dunkle Bärtchen auf der Oberlippe ...

Um’s Himmels willen! Ich selber trug ja auch solch ein Bärtchen! Wir guckten uns wie Spiegelbilder an, und wieder musste jeder von uns lächeln, wenn auch mit dem verfluchten Schießeisen in der Hand. Es hätte jetzt nur gefehlt, dass einer dem anderen seine Pistole vor die Füße warf, gleichzeitig, um vollends darzutun, dass es keinen Krieg mehr zwischen uns gäbe. Aber das tat eben keiner, obschon ich nicht sagen kann, warum. Im übrigen hatte er’s genauso gemacht wie ich: trug seine Überkleider über der Schulter und hatte seine Heimhaube in den Nacken gestreift.

Die Stille war jetzt so fürchterlich, daß jeder Herzschlag mir [878] wie ein Kolbenschlag gegen die Schläfen dröhnte. Domòi, domòi, murmelte ich, do swidànja! Nach Haus, nach Haus, auf Wiedersehen!

Wssjewò charoschewò! Alles Gute! gab er zurück. Ich sah: Er hatte schneeweiße, perlenfeine Zähnchen. Und wir chassierten auf der engen Gasse seitlich aneinander vorbei und ließen einander nicht aus den Augen. Er war vielleicht drei, vier Schritte weitergekommen, als er stehenblieb, die Pistole hob und wie aus lauter Mutwillen noch ein paar Male in den Himmel schoß. Ich tat es ihm lachend mit zwei Schüssen nach. Wir lachten beide und schrien uns beide lachend: Nix woinà! zu und traten vorsichtig weiter voneinander weg. Nicht lange, und es kam der Augenblick, da er rücklings hangabwärts und ich rücklings hangaufwärts gehen musste, und das Gefühl einer Entspannung oder sagen wir ruhig Schlappheit, das einen jäh überfiel und einem die Knie weich machte, war sicherlich nicht nur bei mir, obschon jeder immer noch in die Pistole des anderen guckte.

Der, der verschwinden musste, war ich, und zwar genau dort, wo er, der andere, aufgetaucht war: beim Buschwerk am Ende der Gasse, wo eine Gardine von Ranken wie ein lockeres Drahtverhau den Blick auf etwas wie eine Lichtung versperrte. Er warjetzt genau dort angelangt, von wo ich ihn zum ersten Male erblickt hatte. Dort blieb er abermals stehen, und jetzt winkte er mit dem Revolver in der Hand lachend zurück.

Im selben Augenblick aber, mitten in einem Schritt rückwärts, den ich in etwas seltsam Weiches tat, fühlte ich mich wie umklammert – ich kann es nicht anders beschreiben! – in meinen Bewegungen behindert, gepackt, mit irgend etwas verfilzt, und in dem eisigen Schrecken, der mich jäh überfiel, weil ich das Gefühl hatte, jemand hielte mich von hinten her fest und er hätte sich nur so freundlich gezeigt, weil er gewusst hatte, dass andere ihm folgten, riss ich meine Rechte frei und schoss gezielt eine Dublette auf ihn. Schon beim ersten Schuss meinte ich sehen zu können, wie er weich in den Knien wurde, und beim zweiten brach er zusammen. Ich machte mich mit einem einzigen Ruck vollends aus der Umklammerung los und stand – allein, von wildem Dornengesträuch umgeben. Die langen Ranken waren es gewesen, die mich von hinten umgeben und bei mir das Gefühl hatten entstehen lassen, man versuchte mich festzuhalten. Weit und breit, auch dort, wo ich eine Lichtung [879] vermutet hatte, war kein einziger Mensch. Da hockte ich mich hin, ich weiß nicht, für wie lange. Nichts in meinem Sichtfeld bewegte sich. Nur ein dunkles, unförmiges Bündel lag da ein wenig unterhalb von mir in der Gasse, regungslos...

Als ich schließlich aufstand und zu ihm ging, war er schon tot. Die Bläschen Blutschaum vor seinem Munde zerplatzten, das Rinnsal über seine Lippen wurde dunkler und gerann steif. Ich hatte ihn Mitte Mann getroffen, denn ich bin von zu Haus her ein guter Schütze. Ihm war die Pistole aus der Hand gefallen, sie lag im Grase. Ich hob sie auf und drückte ab, einmal ums andere, aber es löste sich kein Schuß. Ich lud durch und zog schließlich das Magazin heraus. Es war leer. Vertrauensselig, wie er gewesen war, hatte er keinen Schuss mehr zu vergeben gehabt, und ich... ich hatte mir zwei aufgespart. Sicher hatte auch er noch ein paar volle Magazine in den Taschen, aber... Aber dass das so etwas wie ein Mord aus Angst gewesen war, stand für mich fest. Und da lief ich, wie das eben so ein Mörder aus Angst tut, von seiner Leiche weg wie vor mir selbst.

Er war gerannt, bis er keinen Baumstamm mehr vom anderen hatte unterscheiden können, und hatte sich – als wartete nicht die lange Nacht auf ihn – unter der erstbesten Tanne, die bis weit auf den Boden reichende Äste besaß, niedergekauert. Aber an Schlaf war nicht zu denken gewesen, viel weniger als in der ersten Nacht. Damals hatte die Erschöpfung ihn einschlafen lassen; heute hatte sein Gewissen mit ihm gewacht. Und wie er sich’s auch zurechtgelegt hatte, um vor sich selber bestehen zu können – kein Argument hatte ihm geholfen. Er war als Mörder aufgestanden, da der Tag zwischen den dunklen Asten zu grauen begann. Und dann war er marschiert, so rasch er hatte können, aber im Grunde genommen...

Ich sage Ihnen, gab er kaum vernehmlich Auskunft, ich sage Ihnen: nicht mehr nach Haus, zu unserem Platz, mit einem Ziel vor mir, sondern nur weg, weg von etwas, was hinter mir lag, was für mich selber unentschuldbar war und blieb, Krieg hin oder her. Das war ja gar nicht mein Feind gewesen! Mein Feind – das war und blieb ich mir selber mit meinem mörderischen Dem-Schicksal-zuvorkommen-Wollen, mit der blinden Angst, die nur noch scharfe Augen für eine Einbildung gehabt hatte: einen arglosen Menschen, dessen Vertrauen ich betrogen hatte. Natürlich war Krieg, ich hatte es ja selber gesagt, [880] aber nicht mehr hier unten, wo wir einander begegnet waren. Und mit jedem Tag und mit jeder Nacht, die ich zwischen Träumen und Wachen unter irgendeinem Baum oder in einem Dickicht verbrachte, wurde mir immer klarer, dass ich – von unserer Ähnlichkeit miteinander zu schweigen – in ihm mich selber umgebracht hatte. Von da an war mir alles egal, auch mein Leben. Ich schoss zwar einmal nachts ein paar Raketen, dass sie mich bei uns einpeilen könnten, wenn sie überhaupt auf Raketen aufpassen sollten, aber über eine breite Schneise, der man ansehen konnte, dass sie einmal aus dem Wald geschlagen und in der Folge immer freigehalten worden war, bin ich gegangen, als wäre sie der Ring oder, wie bei Ihnen, die Straße Unter den Linden. Es war mir völlig gleichgültig, ob ich auf Bären oder auf Partisanen stoßen und von denen umgebracht würde. Mein Leben lag auf einer schmalen Gasse unter gilbenden Birken, denn der, der da lag, lag stellvertretend für mich. Als ich irgendwann einmal [es war, wie ich später gehört habe, am achten Tage] ein paar grinsenden Lappen in finnischen Uniformen und ein paar Leuten von unserem Bodenpersonal wie mit Moos paniert und über und über mit Flechten behangen achtlos in die Arme lief, soll ich wie ein Betrunkener getaumelt sein und wie ein Schlafwandler ausgesehen haben. Aber ich war ja gar nicht so sehr von Kräften, wie sie meinten. Ich war trotz Pilz- und Beeren- und Tabletten-Kost eigentlich noch recht gut daran. Nur... Eben das, worüber ich nicht hinweggekommen war, und was mit jedem der acht Tage mehr von meinem Leben verbraucht hatte, als wäre das, was ich angerichtet, ein unersättlicher Tod von mir selbst. Und so... So ist das noch heute, schloss er. Sagen Sie mir jetzt, ob ich noch am Leben bin! Jetzt ist die Antwort schwerer, als Sie vorhin gemeint haben, fügte er streng hinzu, und ich fühlte, er würde jede Antwort unnachsichtig auf Tod oder Leben abwägen. Denn das, sagte er, weiß ich nach so vielen Tagen und Nächten jetzt schon selber genau: Sitzt man im Krieg nicht in einer Maschine und nimmt den Gegner als die andere Maschine im Visier an, sondern hat den Menschen von Auge zu Auge vor sich, dann tötet man jedesmal ein Stück von sich selbst. Und wovon soll man dann am Ende leben?

Ich schwieg. Zu lange. Er deutete es so, dass ich keine Antwort wüsste, und schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

[881] Glauben Sie nicht, hätte ich ihm – etwas früher – antworten sollen: von dem wird man leben müssen, den man in einer tragischen Verschuldung, der das Leben nicht ausweichen kann, getötet hat – und den man auf irgendeine Art und Weise wieder zum Leben erwecken muss? Die schuldlos Toten sind für die lebendig Gebliebenen nach einer unerklärlichen Verrechnung am ehesten dazu da!

Aber als diese Antwort mir einfiel, lag der Flugplatz schon weit hinter mir, und ich weiß nicht, ob ›der Graf‹ je nach Kärnten zurückgekommen ist.

 

SCHAPER, Edzard: Das Duell. In: Geschichten aus vielen Leben - Sämtliche Erzählungen. Zürich 1977, 71-121. 869–881.