Das Lied der Väter

[9] UNTER DEN mannigfaltigen Aufzeichnungen, die der ehrwürdige Pilger Makarius im Kuremaa-Kloster zu Ehren der Himmelfahrt Mariä  hinterließ, als er sich eines Morgens nicht mehr aus dem Sarge erhob, in dem er zwischen dem Mitternacht- und Morgengebet zu ruhen pflegte - als er so diese Welt verlassen hatte und von den Nonnen seine an Äußerem arme Hinterlassenschaft geordnet wurde, fanden sich unter seinen Papieren mit Betrachtungen, Lehrstücken, Gebeten und Gleichnissen auch ein paar Blätter mit Aufzeichnungen über sein Leben, von des Ehrwürdigen eigener Hand geschrieben, denn sein Augenlicht war bis ins höchste Alter hinein ungetrübt. Als diese Berichte des Greises nun endlich gelesen wurden, ergriff die Leser große Bestürzung und die Erinnerung an den Tod eines anderen Mannes mit dem Namen Makarius - von ihnen einstmals zur Unterscheidung Makari genannt - den Tod, den der vor noch nicht einem Jahr unter den Wölfen erlitten, ward in ihnen überwältigt durch des Pilgers Geständnis.

Über den Inhalt dieser Aufzeichnungen ist indessen wenig verlautet, es sei denn bis in den sehr engen Kreis von Freunden des Klosters und seiner geistlichen Welt. Sie wollen in jenen Geständnissen oftmals den so schweren Sieg erblicken, den die Seele des Pilgers, dem geistlichen Auftrag des Pilgeramtes getreu, zu erringen vermag.

Das Pilgertum ist fast stets mit der Übung des „klugen Tuns“ verbunden, die das „Herz erwärmen“ und so zum „unaufhörlichen Gebet“ leiten soll; aber spricht aus den Aufzeichnungen auch nicht das „uneigennützige Wohlgefallen an der Welt“, wie es eine jede Pilgerschaft erfüllen soll, so vermag die Zeit, die der greise jüngst Verstorbene - an jene Aufzeichnungen verwandte, dem angebeteten Heiligtum seines Lebens doch nicht verloren erscheinen, denn es dünkt in seinem oftmals schmerzlichen Bericht das uneigennützige Wohlgefallen verwandelt in das Gefühl väterlicher, sorgender Liebe für jenen Makari, den inneren Streit zwischen Weisheit und Wehentsagung, verwandelt am Ende in jenes seltsame: Gott untertan sein und ihm dennoch widerstehen; es gäbe aber viele Worte des Herrn, solche Torheit des Herzens vor allem klugen Tun zu loben.

[10]Der erste Teil jener Erzählungen spricht mit sparsamen Worten von der Jugend des Ehrwürdigen in einem Dorf des südlichen Estlands, von seinen frühen Mannesjahren und den ersten Zeiten der Ehe.

Der spätere Pilger war zu Anfang Lehrer einer kleinen Landgemeinde. Dort heiratete er ein Mädchen seines Dorfes, und alsbald wurde ihm ein Söhnchen geboren, das nach dem Vater Makarius genannt wurde. Es war ein friedliches Leben, das der künftige Pilger dort lebte, von nichts anderem erfüllt als der Liebe zu Weib und Kind, einem behutsamen Dienst an den Schülern, die ihm anvertraut waren, und einer Neigung, gar Liebe zu den Wissenschaften, die so wenig genährt wurde in der äußeren Ärmlichkeit seines Daseins, wie sie niemals erkaltete und sich gleich einer Blüte, wenn sie zur unrichtigen Zeit zu erwachen droht, lange im Stillstand gedulden musste, bis ihre Zeit angebrochen war: um dann nicht Wissen zu erlangen, sondern Gewissheit und Weisheit darin.

Dieses gesegnete Leben zerstörte erst ein Aufstand der estnischen Bauern gegen die russische Obrigkeit, und dabei kam durch einen Irrtum das Weib des nachmaligen Pilgers ums Leben. So erzog nun Makarius seinen mutterlosen Sohn ganz allein, und weil der Knabe stets Liebe zum Ackerbau gezeigt, gab er ihn nach seinem vierzehnten Jahr auf den Hof eines Bauern im Westen des Landes zur Lehre. Er selbst war nun von allen verlassen. Und unter Umständen damals, die näher zu erzählen er sich scheut, ward er zum Pilger. Er nennt die Stunde seiner Berufung auf den ewigen Weg nur „die Stunde, da das Licht kam und verzehrte die Finsternis“.

Ein Pilger war er nun, der keine bleibende Statt hat, der das Fernste zum Nächsten macht, das Nächste aber auch abweist von sich; ein Mann, der ganz unbewusst ein Lehramt verwaltet: er lehrt sich selbst, der er zur Vollkommenheit und zum Vorbild strebt. Die Mannesjahre seines Lebens füllten weite Wanderungen aus: zum Heiligen Lande, zum Berge Athos, kreuz und quer durch das rechtgläubige Land, und in all diesen Jahren verlor er seinen Sohn nicht aus dem Sinn. Aber dann kam der Krieg und riss die Nächsten zu Fernsten auseinander und führte die Fernsten einander zu, und dann kam die Blutwelle der Revolution und der Kriege nach dem großen Krieg, in denen jedes Wissen der Nächsten umeinander ertränkt ward. In Kriegen und Revolu-[11]tionen lernte Makarius seinen Sohn vergessen, und nur sein Herz, das allem Anhang in dieser Welt schon entsagt hatte, bewahrte Liebe für ihn, der von ihm tot gewähnt werden musste, denn der Sohn war schon vom ersten Kriege an Soldat.

Der Pilger hebt erst wieder an, von seinem Leben zu berichten in Zeiten des Friedens. Es sind zwei Jahre, bevor er diese Welt verließ, daß er die Wanderung zum Kloster der Himmelfahrt Mariä antritt und dort wird er bleiben. Die Pilgerschaft ist zu Ende, „der Engel, der uns Heim ruft, will mit Andacht erwartet sein“, spricht Makarius in biblischen Jahren. Aber er, dessen Leben ein einziger Weg der Nachfolge war - er spricht jetzt das Lob der Stätte:

... Hier steht nun das erste Kloster der rechtgläubigen Kirche, und hier steht ihr letztes. Der Feind, der die Grenze im Osten überschritt und in dunklen Nächten vorstürmt, eräugt es als die erste Burg des Friedens, und der Pilger, der aus der Abendröte in den künftigen Morgen zieht, gewahrt es auf dem einsamen Berge im Moor als eine große, vieltürmige Arche; ich wusste nicht, ob von den Zeiten der ersten Sündflut geblieben oder ob gerüstet für die künftige Drangsal eines himmlischen Zorns. Aber sehet: das gelbe Mauerwerk glüht gen Osten immer aufs neue rosig wider von Gottes Langmut, die da Licht leuchten lässt über Gerechte und Ungerechte, und lange, nachdem die Sonne gesunken ist, strahlen die blauen Kuppeln noch auf dem Berge, gleich Blumen, die sich allmählich im Dämmern entfalten und eins werden mit dem Staub der Nacht, die sich über die Tiefe der Moore ringsum gesenkt hat, bis, gleich dem Rauch von unzähligen Opfern, der Nebel wunderbar zu steigen anhebt.

O gesegneter Friede, in den mein Leben einging! Gleich wie der Berg, den der Mensch erstiegen, ihn unwillkürlich hinan hebt zum Himmel, so dünkte mich, nirgends wäre schöner, auf den rufenden Engel zu warten, als hier. Aber jetzt erst fühlte ich das letzte Stück der Pilgerschaft nahen: den Weg nach innen. Er ist der schwerste, aber er ist der köstlichste, denn es steht geschrieben: „So sehet ihr mich in euch, wie irgendeiner von euch sich erblickt im Wasser oder im Spiegel.“

O heiliges Herz! Und darin du heiligstes Unterpfand, das du im Geiste angebetet werden willst und im Geiste der Wahrheit! Wie ward ich nicht müde, meine Blicke gleich den Gedanken zur Höhe schweifen zu lassen, und wie beseligt empfand ich den [12] Berg, auf den mich Gott im Alter enthoben! Meine letzte Wohnstatt vor der endlichen steht innerhalb des Mauerkranzes, der den Gipfel des Berges umzieht; vielfenstrig blicken allein die Häuser der Geweihten ins Land. Doch wenn ich vor die Mauer trete, schwindelt mich fast in der Weite, die sich nach allen Seiten hin auftut: die Moore, die unendlichen Moore, inmitten deren das Kloster steht. Ein einziger Weg, gewunden und steil gegen sein Ende, führt zu ihm hinauf. Zu allen Seiten liegt das Moor, wie ein düsteres Meer, von Kiefern spärlich bestanden und von stillen Gewässern durchzogen, in deren dunkle Tiefe alles Leben zum Schlaf gebannt scheint.

Wo die Kraft des Auges endet, beginnt in allen vier Winden der Wald, ein schier unendlicher Wald, ein dunkler Wall am Horizont. Aber hinter dem Wald?... Ich wusste, hinter diesem Wald endete einmal die gläubige Welt; wie oft war ich gerade dort gewandert! Gen Osten zog sich dort wie eine ewig offen gehaltene Wunde eine breite Rodung durch den Wald, von Norden nach Süden. Dort waren die wilden Dornsträucher des Waldes unter der Menschen Hand zu Stacheldrähten erstarrt, dort erhoben sich Türme, furchtbarer Waffen voll, dort verlief die Grenze zum Roten Reich. Und in jener Wunde, die man dem Wald geschlagen, zog sich auch ein Gewässer hin, trübe und faulig vom Auswurf schnell fahrender Schiffe, unüberquerbar unter dem Licht von künstlichen Leuchten, die ein Hälmchen und einen Fisch aus der Geborgenheit der Nacht zu reißen vermögen, und von dort kam alles Unheil für uns, gar für die Welt, wenn das Eis die Gewässer bedeckte. Nur flüchtig gebannt von den grellen Strahlen hüben und drüben, schleichen im Winter die Wölfe über das Eis und die Rodung, tollwütige Hunde, Ratten und Katzen - tollwütig sie alle und von Hunger geplagt, nach Westen gejagt aus den Reichen der darbenden Fron. Es fallen Schüsse hüben und drüben, wie bösartige Arme tasten die Strahlen des Lichtes von den Türmen; sie suchen Bären, sie gelten Wölfen, sie greifen nach Hunden und Katzen mit der Ruhelosigkeit ihrer Tollwut, den Ratten endlich, die mit heißem, offenem Rachen zwischen den Baumwurzeln hasten - und dann und wann auch nach den Menschen, wenn ein Schlitten voller Flüchtlinge von Osten nach Westen jagt und in den nachgesandten Salven liegenbleibt.

Nur der Tollheit Getier rettet sich in die tiefen Wälder jenseits [13] der Grenze, und wenn es die mit gestilltem Heißhunger durchquert hat, betritt es spähend unsere Moore. Die Hasen flüchten von ihrer heimlichen Moosbeerenernte bis in unseren Hof, der ihnen Schutz verheißt, alles Getier rettet sich gen Westen vor den hungrigen und tollwütigen Botschaftern des Antichrists. Wie oft, wenn ich des Abends vor das Tor trat, sah ich im Mondlicht die Wölfe ruhelos über die Einöde schweifen; sie kauerten sich in den Schnee und schrien auf zu mir. Und wie oft bekümmerten mich die mit Verderben geladenen Schatten auf allen Seiten des Berges, gequält von ihrer Sichtbarkeit in der weißen Öde, gequält vom Hunger, von ihrer Feigheit und Vorsicht. Ja, die Hölle hatte uns ihre Boten entsandt; wie segnete ich den Berg, der unseren Frieden trug, und wie schloss ich inniglich jeden Tag alle Wandernden und Fahrenden in meine Fürbitte ein!

Aber ich gestehe es, mein Herr und mein Gott, dem alles offenbar ist: es schweiften meine Gedanken zu nächtlicher Stunde oft ab vom Gebet, denn in jener Öde unter dem Berg, tief in jenen eisigen Bezirken, da der Hunger aufschreit und den Zahn wider sich selbst richtet, wusste ich seit ein paar Wochen einen Menschen gleich mir, der ich im Frieden weilte; es hatte ihm Gott der Herr auch meinen Namen zu tragen auferlegt: Makarius lebte dort fern im Moor, der Torfstecher des Klosters, kurz Makari genannt von allen, seitdem ich zu ihnen gekommen war.

Dort, wo das größte der Moorgewässer, der Kaldama-Bach, sich zur Rechten und zur Linken ein breites, sandiges Bett angeschwemmt hat, darin die Wasser still zu liegen scheinen - dort hatte sich Makari, der das runde Jahr hindurch im Moor lebte, des Sommers den Torf stach und ihn zu Winterszeiten auf breiten Schlitten zum Kloster fuhr, eine tiefe, geräumige Höhle in die Erde gegraben, die das Gotteslicht nur durch die Tür, wenn die offen stand, und aus einem winzigen Fenster empfing, das er in die zum Hügel gewölbte Decke eingelassen. Man hatte mir vieles von ihm erzählt, weil er meinen Namen trug und auch sonst im Umkreis seltsamen Ruf genoss.

Schon vor vielen Jahren hatte er sich dem Kloster verdingt: ein getreuer, fleißiger Knecht, ohne Ansprüche, es sei denn das Essen, das er in gewaltigen Vorräten mitnahm, wenn er seine Torflasten abgeliefert. Im Sommer war er fast unsichtbar und das Moor schien ihn verschluckt zu haben, denn wer ihn, wie es doch [14] bisweilen vorkam, dort suchte, musste lange und laut nach ihm rufen, bis er irgendeiner tiefen Grube entstieg.

Wie die lebendig gebliebene Sage, fast wie ein Märchen, das der aberglaubende Mund der Bauerngeschlechter in den Fluss der Zeiten wirft, daß es weitergehe vom Ahnen zum Enkel, lebte Makari dort hinten im Moor; gleich einem noch nicht gebannten Naturgeist, vom Aberglauben der Einfalt umwoben. Alles von ihm klang düster, gegen das Licht unseres Heils gesehen: er lebte tief unter der Erde, und seine Seele hatte tausend Wurzeln in die düstere Unwegsamkeit des Moores gesenkt, in das mählich versinkende Land. Wohl glaubte er unseren erhabenen Glauben, aber nur wie eine dünne Lichtschicht auf einem Schattenreich von Quellgeistern, Moorgeistern, Baum- und Erdwichteln und finsteren Göttern. Einen Schrat habe er sich geschnitzt aus Wacholderwurzeln und ihm Odem eingeblasen, wie unser Herr seinen ersten Geschöpfen, auf daß er lebendig und dienstbar werde, erzählten die Leute. Über die finstere Unterwelt solcher Naturgeister und -götter hatte er gleichsam Christus als obersten Herrscher eingesetzt. Ja, er war ein Mensch unserer Tage, aber befangen geblieben in der Vorzeit oder wieder hinabgestiegen zur Dämmerung furchtsamen Wähnens, in das, von uns Menschen einstmals so schwer erkannt, das große Leuchten gefallen ist, das die Augen der Heiligen für diese Welt immer geblendet hat. Aber dieser düstere Bewohner der Finsternis wusste die Gefahren der Öde zu bannen, und ich habe ihn fröhlich lachen gehört eines Winters. Er hatte ein Michaelsschwert wider den Alp seiner Welt...

Wie oft in dunkler Nacht gedachte ich seiner, über dem das Verderben wachte in hungrigen Rachen! Aber siehe, Gott hatte ihn aller Fährnis entrückt. Etwas Uraltes und Hehres schirmte ihn, ein Geschenk des Schöpfers, das unter unzähligen Händen geheiligt ward und mit der Menschheit gottseligsten Zungen; geheiligt durch die Würde, die man ihm verliehen, heilig von Gott und geheiligt vom Menschen.

Standen dort fern im Moor die Wölfe um den hohen Hügel am Bach, aus dem ein schwarzes Ofenrohr stach, und scharrten gierig den Schnee mit den Läufen - siehe, es sprühten Funken aus dem Rohr, fahl strich der Torfrauch über den Schnee hin, und mit einem mal durchwob die frostharte Erde ein Klingen, das die Wölfe in Scharen davonstürmen ließ. Es konnte Makari getrost [15] seine Tür öffnen und zum nächtlichen Gefilde aufsteigen - kein Rachen gähnte gegen ihn, denn er hatte die mächtigste Waffe in Händen, ein köstliches Gut, einen Schatz, wie er sagte: das Kanne1, die vielsaitige Harfe. Kein Untier wagte sich in den Bann der Töne; solange das Kannel erklang, hatte die Einöde Frieden; es bauten das Lied und der Saitenklang mächtige Mauern um den einsamen Mann. Und darum auch trug Makari das Kannel bei sich, wo immer er war. Habe ich es nicht selbst später in einer Sommernacht weithin über die Moore hallen gehört? Mein Gott, du weißt es, daß ich erbebte, als Makari dort im Verborgenen sang. Oh, diese einfältigen Worte: „... Liebes Kannel, teures Kannel, goldensaitiges Kannel, du... Komm, o komme doch, du Windchen, trag des Kannels Töne fort...“ Mir war, als trüge der Sommernachtwind, der aus der ewigen Helle um des Täufers Fest strich, meine eigene Jugend mir altem Manne zu...

Ja, das war der Klang des Kannels, jener kleinen Harfe, der die Liebe unseres Volkes von den ältesten Zeiten an gilt und das jetzt fast ausgestorben ist wie alles, worin das Alter der Völker auf Erden noch lebt, die Ferne, die Vorzeit. Das war der Klang, der auch die Vorzeit meines Geschlechtes durchwob; der Klang, den jeder unserer Ahnen dem Enkel weitergab im Wissen um die Kunst des Spiels in einem Schatz uralter Gesänge und Gesetze. Denn wir sind ein Geschlecht, das von alters her dem Kannel untertan und dienstbar war, ein Geschlecht, in dem diese kleine Harfe vom Sarg zur Wiege weitergegeben wurde. Wir standen lange im Ruhm der Sänger und Spieler und wahrten darin ein gottseliges Erbe von Jubals Zeit an, eine Berufung, ein Geheimnis am Ende. Oh, ich kenne das stille, süße Lied wohl, das mich mein Vater gelehrt hat, wie es ihn einst vom Ahnen gelehrt worden war, und das jetzt Makari im Dunkel dort sang. Hatte ich es nicht selbst einmal meinen Sohn gelehrt? „...Komm, o komme, komme doch, du Windchen, trag des Kannels Töne fort...“ Der Sommernachtwind, der leise, von Kühle getränkte wie aus dem Mund eines Engels - er trug sie fort. Ich saß am Brunnen vor der Mauer, wo ich gern verweile, gleich den biblischen Pilgern und ich weinte, von meiner Jugend angerührt, indes der Wind das verhallende Lied zu mir trug...

Geliebte Brüder: es steht geschrieben: „Siehe, der Mensch ist wie eine Leier, und ich fliege hinzu wie ein Plektron; der Mensch schläft, und ich wache.“

[16]Der Letzte eines Geschlechtes von Spielern der Leier bin ich selbst einmal in ferner Zeit der Leier gleich geworden, und der Herr kam wie ein Plektron, und ich erklang ihm zum Lobe. Dennoch rührte mich, dessen Saiten Gott bald zum Verstummen bringen wird, in jener Nacht noch einmal der Wind an, ein Hauch meiner Jugend, und brachte mich in Torheit zum Tönen. Und fast - erbarme dich meiner! - fast kam mich eine schwindelnde Lust an, noch einmal in die Saiten zu greifen: ich, selbst gespielt vom erhabensten Plektron und spielend mit jenem Griff, den das Wissen meines Geschlechtes mir vermacht hat. Ich hatte es ja schon einmal weitergegeben, doch in den Tod hinein, da nichts mehr klingt und alle Saiten entspannt sind. In jenen unsichtbaren Menschen nun, der noch eigenhändig die Saiten rührte, ehe er vielleicht zur Leier wurde und selbst zu tönen anfing, ehrte und liebte ich die Allmacht, den göttlichen Ratschluss, der erwählen und berufen kann, der den einen selbst klingen und den anderen die Saiten rühren lässt. Ich liebte in Makari, dem fernen, unsichtbaren Sänger, meine Jugend und das Geheimnis unseres Geschlechts, und ich segnete sein Tun, wie man ein geheiligtes Werk des Menschen, darin sich das Wirken aller seiner Vorfahren und die göttliche Gnade kundgeben, auch segnen muss.

Es kam die Stunde der Stille nach Mitternacht. Der Wind war zur Ruhe gegangen; langsam zog der Glanz des vergangenen Tages hinüber gen Osten, wo aus der glühenden Asche alsbald die erneute Flamme aufsteigen würde. Endlich umschloss Morgen und Abend und Mitternacht in den Himmeln ein purpurnes Band. Es lohte noch einmal das Ende, vom Aufgang gespeist und es lieh das Ende dem Anfang die goldene Schwinge. Still war es geworden über den Mooren, still eine letzte Stunde lang vor dem neuen Tag, der auf dem Morgenwind kam...

Ich wähnte den Sänger jetzt schlafend, aber mit einem Male, da ertönte seine Stimme näher denn je. Es hatte den Anschein, als wäre er in der Stille nur ausgeschritten und stünde nun unter dem Berge. Ich hörte ihn in die Saiten greifen - ein Hauch des Morgens schon rührte mich an - und da erscholl auch seine klare Stimme, klar wie der aufbrechende Tag! Anfangs lauschte ich still, aber mit jedem Ton, der zu mir drang, war es, als lauschte mehr und immer mehr in mir, bis endlich meine arme Seele ein Schauer durchrann, ein Erkennen, ein Entzücken, ...ach, ein [17] Träumen sie durchschäumte und ein Leuchten sie erhellte wie ein Blitz und Finsternis in ihr abermals zusammenschlug. Bänglicher Jubel, der mich durchhallte, zaghaftes Fragen! War es das Lied? Und war er der Sänger? Es klang die Stimme und ertönte das Kannel wie vor meinem Angesicht; ich schloss die Augen und tat mein Herz auf für verblasste Bilder und längst verklungene Worte. Er war es! Ich erkannte ihn in den Tönen! Und doch wünschte ich sehnlich, meine Ohren und mein Herz verschließen zu können. Dennoch, es war dieses Lied, nur dem Geschlechte der Sänger und Seher seit ältesten Zeiten bekannt und meinem Geschlechte eigen. Was ich einstmals meinen Sohn gelehrt, ich hörte es gleichsam als Echo, zurückgeworfen von der Wand der Jahre. Er musste es sein! So griff nur in die Saiten, wem ich selbst einst die Finger gelenkt; so konnte nur singen, wem mein eigener Mund Wort und Ton anvertraut! Es hatte die lange Reihe der Ahnen ihr Wissen und Wesen in die Hände eines Enkels gelegt und in seine weithallende Stimme; und diese Hände rührten jetzt die Saiten für einen, der selbst zur Leier Gottes geworden war. Denn der Mann, der dort in den Mooren sang und spielte, unsichtbar bleibend, als riefe er - Rufer für ein ganzes Geschlecht - mich zu Ahnen und Enkeln zurück mit der gebieterischsten, weil dem Geschlechte heiligsten Formel – dieser Mann musste von meinem Geschlecht, es konnte nur und musste mein eigener Sohn sein. 

ES SPRICHT von den verborgenen Worten des Herrn eins mit unendlichem Trösten zu uns, so schwer es unserer Schwäche auch wiegt, denn es vermag das Reich der Himmel zu öffnen. „0 ihr Kleingläubigen“, sagt der Heiland zu denen, die ihm nachgefolgt sind, „wie lange noch werdet ihr nicht glauben, mich befragen und erforschen? Ihr wollt ohne Schmerzen verstehen...“

Mein Herr und mein Gott, auch ich habe ohne Schmerzen verstehen wollen; ich habe mich wider den Schmerz gewehrt aus Lust am irdischen Leben, weil ich fürchtete, unter den Schmerzen, die du beschertest, von hinnen scheiden zu müssen zu einer Zeit, da meine Seele noch nicht gerüstet war. Du aber, mein Gott, schicktest Schmerzen nach meinem Vermögen; siehe, ich trug sie durch die Gnade deiner Kraft, und ein wenig Geduld, zu der [18] ich mich anhielt, hast du tausendfältig mit tieferem Glauben, reicherem Verstehen und inbrünstigerer Andacht gesegnet. Es ist das Wort der alten Kirche Wahrheit, daß im Feuer des Leidens die läuternden Kräfte wohnen, solange der Mensch strebt, und daß die Seele das Licht der Erkenntnis aus dem Rachen ungezählter Versuchungen holt.

Ich weiß nicht mehr, in welcher Gestalt das Böse mir nahte: in allen Gestalten, die unfruchtbare Selbstbeschau zeugen kann. Es spricht der Herr: „Richte den Stein auf, und du wirst mich dort finden; spalte das Holz, und ich bin dort!“ All überall gleichsam drängte sich so auch die Versuchung in Gottes Gegenwart ein. Als sei ein Verfolger hinter mir her, eilte ich, mich oftmals umblickend, in meine Kammer - herrlich erhob sich schon Gottes Morgen rundum - und fiel dort vor dem Kreuz auf die Knie. Erlöse mich, Herr, von den Geistern der Versuchung! flehte ich. - Armseliger, der ich mich hier in Frieden wähnte vor diesen Geistern! Und wie menschlich war doch mein Wähnen! Die Geister der Schuld, die du auf dich geladen, die Geister der Reue, die dein gerechteres Herz gezeugt, die Geister vergangener Zeiten, einmal beschworen - sie alle flehst du Menschenkind an, dir gleich zu werden in deiner Ohnmacht; auf daß du, schnelleren Fußes, ihnen zu entfliehen vermöchtest, deine Kammer ihnen zu versperren mit Wänden und Türen und Schlössern, deinen Anblick ihnen zu entziehen mit Finsternis. Wisse aber, es kennt der Geist Wände und Schlösser nicht, und er findet dein Herz auch in der Finsternis.

Und mein Herz rief doch die Geister, die, Mauern nicht achtend noch Türen und Schlösser, auch kamen. Beschwor das Klingen des Kannels in mir nicht die Geister vergangener Zeiten? Ich betete wohl innig zum Herrn, Stunde um Stunde, aber was waren die geflüsterten Worte wider das Tönen in meinem Herzen! Mein Gott, du empfingst zahllose Bitten von mir, aber sie schwebten zu dir auf den Klängen längst verklungener und nun jäh nachhallender Lieder; du gewahrtest alle meine Ängste und mein bitteres Entsagen gemischt mit den süßen Lockungen des Herzens. Denn aus den Wurzeln, die meine Seele in diese Welt gesenkt und die ich schon längst tot und erstorben geglaubt, trieb jetzt über Nacht ein geiles Reis vielfachen Wünschens. War das ein Werk jener Geister, über die Makari im Moor gebot? Kehrten, von des Kamels Klängen und seinen Runen be-[19]schworen, die alten Götter zurück, die Götter unseres Volkes, die der heiligen dreieinigen Gottheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes gewichen sind? Im Geiste jener alten Götter und ihren Zeichen hatte mein Geschlecht gesungen; rührte sich nun im Enkel dumpf noch das geheimste Wähnen der Ahnen?

O ihr alten Götter, wer seid ihr? forschte ich grübelnd am langen Mittsommertag. Und als bald die ewige Dämmerung der Sommernacht anhob, schloss ich die Augen, bangend, es könnte in ihnen die Kraft der heidnischen Ahnen noch wohnen, denen die Götter sich einst auf Erden offenbart hatten, menschlichen Leibes. Meine Augen sollten der ewigen Unsichtbarkeit und dem Geist des verborgenen Gottes anhangen und einzig auf seinen Boten, den gekreuzigten Heiland, gerichtet sein. Mein Herr und mein Gott, sprach ich mit zitternden Lippen, es sind keine Götter außer dir. Erleuchte du deinen leidenden Knecht Makarius!

„Ihr wollt ohne Schmerzen verstehen...“ 0 wunderbares Wort! O Wort, so hart und voll tröstlicher Milde! Es mag der Mensch wandern, so weit er will, er mag verstehen die Menge - aber er gelangt nirgends so weit wie in seiner eigenen Brust, und nirgends kann sich so viel ihm öffnen wie in seiner eigenen Seele. Und litte er Drangsal und Schmerzen auf allen Straßen der Erde, er leidet die größte Pein auf dem verschlungenen Pfad, den er selber in seiner sterblichen Brust birgt. Er mag ziehen, wohin es ihn dürstet, des Unendlichen viel wird er finden, aber Gott begegnet er auf dem einsamen Pfad seines Herzens, und diese Begegnung wird sein tiefster Schmerz - will er verstehen - und sein höchstes Glück - gelangt er zum Glauben, zur göttlichen Kraft. Im Anfang aber ist der Schmerz und am Ende winkt das Glück; nicht wie eine Belohnung, sondern als der Sieg, der dem Tode die Verklärung entringt; es dauert aber der Kampf sehr lange. Denn ein jeder Mensch muss die Kindheit der Erde durchleben, muss unzähligen Göttern verfallen, Götzen erwählen und sie verdorren sehen; es öffnet der Geist des Ganzen sich nur in geringen Teilen, und es trinkt der Mensch den Becher des Wissens mit Schmerzen in vielen Absätzen. Erst wenn er die Vielfalt der Kindheit dieser Erde durchmessen und sich, dem Kinde gleich, selbstlos und unbewusst für das Ganze geöffnet hat - erst dann schöpft er gleichsam Atem und steht bebend, starr, der Sinne nicht mehr mächtig, vor dem unfasslichen Einen, dem keiner [20] seiner Sinne mehr gewachsen ist und das sich doch, ihm unbekannt, hinter dem Vielen als ewiges Ganzes und Eines verborgen hat.

Der Biene gleich, die von unzähligen Blüten den Honig sammeln muss, der sie in der Winternacht nährt, holt der Mensch aus dem Gleißen unzähliger Versuchungen, die er mit dem Sieg der Wahrheit übersteht, soviel Licht, daß er sein Ziel zu erhellen vermag, das Ewig-Eine. Ich tat es, Makarius, der Pilger; er tat es, Makari im Moor. Nicht die geringsten aller Versuchungen erleben die Menschen aneinander, nicht das kleinste Licht ist es, das sie daraus heimzutragen vermögen, aber es gibt auch kaum tiefere Finsternisse als jene, in die sie beieinander zu stürzen vermögen. Nirgends verfällt der Geist so unbarmherzig dem Staube, als wo sich das Vergängliche mit der Blüte des Bösen geschmückt hat. „Gebt keinen Vorwand dein Bösen!“, spricht unser Herr, aber des Menschen stündlicher Herr, sein Herz, ist unaufhörlich vom Bösen bedroht, wenn es dem Vergänglichen nachtrachtet und im Kleid des Vergänglichen dem Ewigen der Seele: in der Liebe.

Aber gedenket dessen wohl, meine geliebten Brüder: daß ihr das Licht auf des Menschen Ziel vermehrt, wenn ihr das Paradies in euers Bruders Herz erschlossen habt und eure Herzen in der Wahrheit vereinigt. Gedenket dessen um des Pilgers Makarius willen, der erst am Ende seiner Tage lernen musste, daß der Mensch nichts verstehen kann, ohne den Schmerz bis zur Neige zu kosten, und daß auch die Hand versengt werden muss, um das Licht aus der Versuchung zu bergen.

Drei Tage lang betete ich nach jener Nacht, drei Tage und Nächte suchte ich Gott zu begegnen, und Tage und Nächte lang trachtete ich, Geister und Götter aus meinen Gedanken zu bannen. Wahrlich, ich mühte mich, den Pfad nicht unter den Füßen zu verlieren, auf dem ich dem Heil begegnet war. Ich wollte den geilen Trieb der selbst-verstrickten Wünsche an der Wurzel ausrotten und die Liebe zur Welt erfrieren lassen im Gebot der Entsagung. Aber aus dem Erdreich, in das mein Herz einst Wurzel gesenkt, brannte eine Flamme der Eiseskälte der Kasteiung entgegen, und sehet: mein eigenes Herz nährte die Flamme, das Feuer sang. Oh, gewiss habt ihr gehört, wie die Flammen singen! Sie brausen, sie flüstern, es werden Töne angerissen in ihnen wie auf Saiten, die gleich zerspringen, und wenn ein Windhauch in [21] die Glut schlüpft, blühen die Feuerfahnen in Klängen auf, als griffe ein nächtlicher Sänger voll in die Harfe...

Gewiss habt ihr alle das gehört! Lag nicht unser aller Vergangenheit um solche Feuer im Wald und auf der Heide, wo wir mit unseren Tieren rasteten? Aus solchem Flammensprühen ist auch das Lied des Kannels geworden, wenn im Walde der Vorzeit der Nachtwind die Herzen zum Tönen brachte, und das heilige Erschauern unserer Ahnen vor den Mächten der Schöpfung zittert wohl auch in unserer Brust noch unendlich nach. Was in allen deinen Vorfahren Leben war - siehe, es ist gesammelt in dir! Du selbst bist immer die Scheuer für alle Frucht, die auf dem Acker deines Geschlechtes geerntet ward.

Geliebte Brüder: verzeiht dem Pilger über den Tod hinaus, wenn damals in solchen Überlegungen sein unendliches Gebet geendet war. Das Gebet führt zur Gewissheit über die Kraft unserer Vernunft hinaus, aber die Überlegung des Menschen, die als Frucht des Zweifels in immer tiefere Zweifel gerät, gleicht einem angepflockten Pferd, das, soviel es auch trabt, immer in die Runde trabt. Ich will von ihnen nicht mehr berichten, nicht die Nächte zählen, da mich der Schlaf auch für die wenigen Stunden floh, die ich ihm eingeräumt hatte, nicht die Morgen noch einmal heraufleuchten lassen, die mich in der Verfinsterung meines Gemüts unfasslich dünkten. Das Ende war, daß ich vor die Mauer trat, was ich mir in jenen Tagen bis dahin versagt hatte. Das Verstehen geht durchs Erleiden, das Erleiden aber durch des Menschen Tun; in der Tiefe vor der Tat hat sich der Wunsch geregt: ich wollte ihn sehen, der mich für mein ganzes Geschlecht gerufen hatte, von Gott und meiner Pilgerschaft fort.

Die Moore, die unendlichen Moore... Ich stand auf dem Berg, und meine Augen suchten einen Weg darin. Langsam verstand ich die Sprache der Wüste. Hier dehnten sich weite, hellgrüne Bezirke, dort wieder sah es aus, als wäre Schnee gefallen, an anderen Stellen war die Einöde schwarz und tot, und es krümmten sich Kiefern wie gepeinigt über der Erloschenheit der Welt, auf die sie als Same gefallen. Ganz in der Ferne gewahrte ich den Kaldama-Bach, und dort, an einer Stelle, die mir freundliche Menschen immer wieder deutlich zu machen versuchten, dort ungefähr wohnte Makari. Meine Augen taten mir weh, wenn ich unablässig die Einöde betrachtet und einen Weg zu erkunden [22] versucht hatte. Tagtäglich tat ich es, und allmählich ergriff der Schmerz von meinen Gedanken Besitz. Doch ich lernte die Sprache der Wüste. Grundlos seien die freundlichen, hellgrünen Felder, sagten die Menschen, grundlos der Schnee; Sicherheit gewährten nur die öden, dunkeln Bezirke von Torf, denn dort hatte der Tod des Wachstums eine Brücke geschaffen. Auf der wollte ich wandern. Ein letztes, ein allerletztes Mal schweifte mein Blick vom Berge hinunter und wanderte mir voraus zum Kaldama-Bach. Ängstlich suchten meine Augen den geradesten Pfad und schlugen über das weite Gefilde eine Brücke, in der auch kein einziges Glied fehlte. Endlich sah ich den Weg zu Makari und prägte ihn meinem Gedächtnis ein. Ich wähnte mich sicher...

War trotzdem meine Wanderschaft nicht ein einziges ängstliches, vom Tode vielfach bedrängtes Irren? So war es, mein Gott, der du mir an jenem Tage oftmals deine Engel geschickt hast. Der Weg hatte mich kurz gedünkt; doch er war lang; sicher gedünkt, aber er war voll Fährnis. Meine Pläne zerspellten, mein Gedächtnis enttäuschte, all meine Überschau vom Berge ward hier unten zunichte.

Ich war vor Mittag ausgegangen, und die Sonne stand mir im Scheitel, als ich das Moor betrat. Flüchtig bedachte ich mich noch und schlug dann den Weg ein, dessen Anfang ich von hier aus noch deutlich erkannte. Die Sonne glühte nieder, und ein giftiger Brodem wallte auf; es roch nach Moder und Fäulnis. Betäubend mischte sich der Duft wilder Blumen darein, die ich zum ersten Mal erblickte. Sie standen in jenen Bezirken des Lebens, die auf mich mit qualvollem Tode warteten. Wolken von blutdürstigen Fliegen und Mücken erhoben sich mit jedem Schritt, den ich tat; Glutbündeln gleich strahlte mir die Wärme vom federnden, so unwirklich dünkenden Boden entgegen.

Unwirklich war diese Welt - ich sah es bangend, sooft ich den Blick erhob. Sie lag reglos in der Gewalt eines finsteren Schreckens über sich selbst. So frei der Himmel nach allen Seiten auch war und so eben das Feld - es dünkte mich doch eine finstere Schlucht, über der, von der Hitze bewegt, die Luft in unaufhörlichem Zittern stand. Gewitterliche Schwüle und der Schatten des erbarmungslosen Nichts - etwas Unfassliches verweilte tödlich über ihr. Und ich kroch, ich stolperte hindurch, den Blick angstvoll an die abgestorbene Erde gefesselt, die mich wie ein [23] erloschener Krater anmutete. Ich weiß nicht, woher der Windhauch kam, der die Missgeburt einer Erle zum Plappern brachte, aber ich schrak zusammen wie beim Zischen einer Schlange, und furchtbar, wie ein heraufziehendes Gewitter den Himmel verdunkelt, stieg in meiner Seele, hinter meiner vom Angstschweiß benetzten Stirn, eine fahle Welt auf, eine Wirrnis von Schatten - mächtig genug, alles Licht in mir zu verzehren. Lange Zeit musste ich rasten; und an der warmen, dunkeln Erde liegend, über mir die Schleier singender Mücken, über mir die flirrende Luft, die mich schwer wie eine glühende Felsplatte drückte, war es mir, als sei ich begraben und streckte mich hier zum letzten Schlaf. Aber diesen Schlaf umgab kein Frieden. Ich träumte schwer; die unwirkliche Welt war ein bedrückender Traum. Und in diesem Traum gewann, wie in unseren Nachtgesichten, das Tote ein zweites, geisterhaftes Leben; nur wusste ich nicht: gab meine Seele es ihm, zeugte ich selbst dieses Leben, oder regte sich das Leben im Gestorbenen selbst, ohne Zusammenhang mit mir, und ich erkannte es jetzt nur, weil meine Augen endlich dafür geöffnet waren? Eines verstand ich in Schmerzen: die Angst, die dunkle Angst des vorzeitlichen Menschen, der sich wehrlos dem Geheimnis der Schöpfung gegenüber fühlte und in übermächtigen Augen Geister erschaute, Geister der Finsternis, Geister des Wachstums, der Macht und des Friedens. In Schmerzen liegend, spürte ich etwas von der unfasslichen Kraft, die das Leben antreibt, der Kraft, die in Wolken und Winden, im Erdreich, im Halm und im Strauch, im Wasser und im Staube gleichsam wartend liegt, ewig zu Werken bereit; die Kraft, der der Mensch sich hingeben darf und die ihn hinauszutragen vermag über sich selbst, zu ewig bleibenden Werken, von denen der Herr spricht: sie folgen ihm nach.

Viele Straßen ist mein Fuß gewandert, und nicht selten in tiefer Angst, aber hier im Moor, auf dem Wege zu meinem Sohn, lag ich in den tiefsten Ängsten. Die Einöde brütete unablässig neue Geister aus, neue Gespenster und Wahngebilde, die das Licht meiner Seele raubten. Ich stand auf und wanderte weiter. Es waren versunkene Welten, über die ich schritt, versunkene Wälder und Auen, dem Gotteslicht verloren, versunkenes Leben der Tierlein - geendet alles im Untergang zur Finsternis. Nun zeugten gleichsam Schatten für diese Herrlichkeit. Die Sonne brannte hernieder, und aus der Öde wallte ein feuchter, [24] warmer Brodem auf. Ragende Wälder gaukelten meinem Wege voran, riesenhafte Vögel kreuzten die Sonne - alles versunkene Leben träumte sich in trüben, schwankenden Formen empor zum Licht, das es hatte verlassen müssen. Es war die Vorzeit, durch die ich zurückschritt, zurück zur Vorzeit meines Geschlechtes.

0 Pfad der Finsternis in dunkeln Ängsten! Denn ich erlebte, wie unsere Seele sich zurücklehnt an ein uraltes Erlebnis. Wir sind die Scheuern für alle Frucht, die bis zu unserer Lebensstunde auf dem Acker unseres Geschlechtes gewachsen ist, sagte ich, liebe Brüder. Nun also wisset, daß die Frucht auf die Tenne fallen kann, und daß du, die Scheuer und die Tenne, zum Acker wirst, darin die Früchte der Vorzeit zu sprießen beginnen wie Saatgut in einem dunkeln Verlies. Es saugen diese jähen Schösslinge deine ganze Kraft aus dir, durstig und gierig vermögen sie in Sekunden zu wachsen. Sie verzehrten so auch all meine Kraft, all mein Wissen und Hoffen und meine Gewißheit des Heils. Was in mir ewig und unvergänglich zu werden getrachtet hatte - sie verwandelten es zur Nahrung für ihr heißhungriges Wachstum, gleich der Pflanze, die dem Erdreich in Feuchte und Salzen Nahrung entnimmt. Was das Lebendige war in der Vorzeit meines Geschlechtes - es löschte mein Leben mächtiglich aus. Die alten Götter und Geister erwachten in meiner Brust auf diesem Ödland, das seine einstige Wirklichkeit in trüben Dünsten und Schatten zum Licht empor träumte. Ich verlor den Weg unter den Füßen.

Diesen Weg durch Gottes Schöpfung zu meinem Ziel, alle Wege, die mich zu mir selbst und meinem Heil geführt. Wie ein Schlafwandler, aufgeschreckt, sich erwachend am Rand eines Abgrunds gewahrt, in den er sogleich stürzen wird, weil er eine Beute der Unsicherheit alles menschlichen Bewusstseins ist, so fuhr ich aus meinen Alpträumen auf, da mein Fuß ins Bodenlose versank. Es brodelte und schlürfte rundum mit höllischem Gestank, es schmatzte und fraß mit jeder Sekunde mehr von meinen Gliedmaßen - ich schrie laut auf und riss meinen Fuß aus dem Rachen, der ihn kaum mehr lassen wollte, und fiel rücklings dorthin, wo mich der Boden noch eben getragen. Dann lag ich wie betäubt, indes Fliegen auf mir Wehrlosem saßen und an meinem Blut ihren Durst stillten. Es währte lange, bis ich die Kraft fühlte, mich wieder aufzurichten und Umschau zu halten. [25] Endlich, ich begriff kaum, was ich tat, endlich richtete ich mich auf und stand und rief, so laut ich's vermochte...

Gott hätte mein angstvoller Ruf gelten sollen, doch er galt meinem Sohne. Makari ! Makari ...! schrie ich, als geböte er über die Schrecknisse dieser Welt und vermöge die Geister zu bannen. Aber der Klang meiner Stimme hallte ohnmächtig über die Öde, auf die jetzt schon des Nachmittags Sonne fiel. Stille, grenzenlose Stille schloss sich hinter meinen Rufen zusammen; die Öde sog sie in sich auf, wie sie schon unzählige Rufe verirrter Wanderer empfangen hatte und ihren Leib am Ende. Ich hörte keine Antwort: Ja, Vater, ich komme... Es blieb still, es ward meinen Ohren immer stiller, und das einzige dann - war das Geräusch meiner eigenen Schritte. Gequält von Durst inmitten des Übermaßes an Feuchte, wankte ich zurück. Zurück, wähnte ich; in Wirklichkeit war es in die Runde. Im Schrecken meiner Seele thronten Götter und Geister. Meine Angst gewahrte, was der Vorzeit ihre Eingeweihten und Zauberer geöffnet; fragt mich nicht, was alles ich sah! Die Finsternis meines Gemütes ging ein in eine dunkle Unterwelt, die vielleicht in jedem von uns erwachen kann. Wie viel hat das heilige Licht doch in uns zu erhellen! Dann schied die Sonne, und es verflocht sich der Dunst zu Fahnen und endlich zu einer stillen, zitternden Flut, die meine Füße umspielte.

Ich beschloss, vor Einbruch der Nacht eilends zum Kloster zurückzukehren, aber damit hatte ich große Beschwer. Immer wieder war ich gezwungen, den geraden Weg zum Ziel meinem Leben zum Opfer zu bringen, und damit wurde es schlimmer, je mehr mir der Nebel die Beschaffenheit des Bodens verbarg. Endlich lag der Klosterberg weit zur Linken; ich verspürte Reue und Heimweh nach ihm. Und was ich vor Augenblicken mir nicht zugestanden hätte zu tun - ich tat es: ich setzte mich und ruhte und schöpfte Kraft vor dem Halbdunkel der Sommernacht.

Was, sprach ich zu mir selbst, was trieb dich aus dem Frieden, was ist es, das dich den Pfad deiner Pilgerschaft verlassen ließ? Was trübte dir die Klarheit, in der du Gott auf deinem Wege erkannt? Was ist es, das dich mächtiger rief als die Offenbarung des Königtums Gottes, warum schweifst du in Grauen und Finsternis durch die Ode? Warum glaubst du nicht und forschst noch und fragst? Hebe deine Füße auf und wandere über das [26] Moor, stark im Glauben, stärker noch als der auf den Wassern schwankende Petrus! Entreiße der Hölle den Sieg, Makarius, geh zurück!

Ist er dein Sohn, den du hier suchst und doch nicht gefunden hast, ist er dein Nächster? Gott ist dein Nächster! Stoß das Nächste auf Erden von dir! Stehet nicht geschrieben: daß du alles verlassen musst und allem Diener sein um Seinetwillen? Warum willst du dir nicht das uneigennützige Wohlgefallen an der Welt bewahren, in dem der Friede Gottes, das Maß aller Dinge, gedeiht? Verstehe in Schmerzen...! Nun, du hast den Schmerz gefühlt, verstehe daraus und kehre zurück!

 

Glaubt ihr nicht, geliebte Brüder, daß dies klare und starke Sprache ist? Nun, gleichwohl hörte ich, der sie aus eigenem Mund in die Dämmerung sprach, nicht deutlich genug, um ihr zu folgen. Wisset daraus, wie stark eines anderen Sprache war oder: wie taub mein Gehör. Ich saß dort in der Dämmerung: ein verirrtes Kind der Vorzeit, doch ohne die Schärfe der Sinne, die das Menschengeschlecht früherer Zeiten für seine Welt besessen hat. Ich war ein unglückliches Geschöpf des Zwiespalts: zurückgerissen vom Drang der Seele, indes die Sinne erschlafft waren für den Rückweg in die versunkene Welt. Müdigkeit und Furcht flößten mir grenzenlose Todessehnsucht ein. Ich kauerte mich wie der Erde Getier zum Sterben zusammen, und mir war, als kämen die letzten feurigen Träume. Die Wildnis strömte einen brandigen Atem aus; wie versengt knisterte rundum erstorbenes Gesträuch. Von meinen Augen, heiß und brennend nach dem Gluthauch des vergangenen Tages und dem irrenden Schauen über die Einöde, und von meinem verdorrenden Gaumen trieb ein Fieber in meine Gedanken hinein. Alsbald gewahrte ich in meiner Erschöpfung Flammen lodern hinter geschlossenen Lidern, und wenn ich die Augen hastig aufschlug, brach meinem Blick aus der Höhle des eigenen Auges eine Feuerlohe in den unendlichen Himmel, in dem schon der Abendstern glühte. Feurige Lohe stieg aus mir selbst, indes ringsum in der Dämmerung der hohe, brausende Ton einer allmächtigen Verzückung schwebte, den das geflügelte Getier, zu Milliarden sich schwingend, der Nacht lieh. Wie auf einer Wolke fühlte ich mich von diesem Brausen getragen, von diesem einen Ton, den die Milliarden schwingender Flügel aus Milliarden voneinander [27] verschiedener Töne erbaut hatten. So, dachte ich, so schwingt die unendliche Mannigfaltigkeit zusammen zum Einen, zum Einzigen. Die Mannigfaltigkeit ist zu greifen und offenbar; das Eine, das Einzige bleibt dennoch unfasslich. Es ist, aber suche es nicht zu erkennen; es ist, darum öffne dein Herz, daß es in dir sei!

Solch ein Gedanke, der sich meiner Ohnmacht entrungen, ließ mich noch heller im Feuer glühen. Und dieses Feuer ward zum Blühen der Flammen, zum Singen und Rauschen... Ihr alle habt das Feuer gehört. Ein geheimer Schatz unseres Selbst ist um die Hirtenfeuer der Vorzeit zusammengeflossen aus dem nächtlichen Dunkel, damals im Rücken der Menschen. Und in den Händen aller unserer Ahnen wuchs so auch das Kannel mit feuergoldenen Saiten. Es rauschte und sang und klirrte hell und brummte, wie der Wind, der sich im Holzstoß gefangen hat, ehe er ihn auf Flammenzünglein singend verlässt. In mir, dort im Moore zu einsamer nächtlicher Rast, dem das Fieber Flammen entriss, in mir klang das Kannel; und mit seinen Klängen dicht unter dem Ohr vereinte sich das verzückte Brausen der Nacht.

Ja, ich hörte das Kannel klingen, dicht unter mir; ich ward von seinen Klängen hinübergetragen in seliges Vergessen, durch das kein Frösteln drang und kein Schmerz vom Biss des rasenden Getiers. Ich hatte, da sich der Schlaf auf mich senkte, in Frieden heimgefunden zur Offenbarung meines Geschlechtes und gab mich mit schwindenden Sinnen ihr hin.

 

Die Uhr steht, wenn der Mensch ihrem Werk die Kraft anvertraut für einen neuen, langen Tag. In diesem Stillstand fließt der Gang der Zukunft in ihr Triebwerk ein: gesammelt, noch nicht entfesselt im Drehen der gezahnten Räder. Allnächtlich so erneut die Seele ihre Kräfte, und wenn Gott sie gesegnet, trägt sie aus jedem Tag ein Übriges für den klaren, langen Tag der Ewigkeit. Sie muss mehr empfangen, als sie gibt, und es ist seltsam, aus welch scheinbar unfruchtbaren Bezirken sie die köstlichsten Schätze zu speichern vermag. Sie empfängt in Leiden mehr als in Freuden, weil in Freuden und Glück die Sinne viel zu hungrig teilhaben an ihrer Ernte. Ja, die Freuden der Sinne vermögen die Seele darben zu lassen. Wie überreich aber beschenkt die göttliche Seele die menschlichen Sinne, selbstlos und opfervoll, aus [28] der ewigen Fülle ihrer Heimat! Wie taucht sie die Zuneigung der Menschen in göttliche Verklärung, welch gnadenreiches Licht spendet sie über die Freuden der Sinne darin und lässt so die irdische Liebe den Himmel widerleuchten! Welche Liebe aber wäre unberührter aus der göttlichen Heimat ins Fleisch des Menschen gedrungen als die eines Vaters, welche wäre selbstloser! In reicherer Glorie erstrahlt die Liebe der Mutter, ihr geben die Blutstropfen der Wehen und Schmerzen purpurne Röte; abendlich strahlt sie, der Erde schmerzlich verhaftet, über dem Leben des Menschen. Morgendlich klar und jung und von der Weite des Himmels gekühlt, geht die Liebe des Vaters für das Leben des Geborenen auf und folgt ihm: ewig die Liebe des Vaters im Himmel - und für ihre Frist die Liebe des staubgeborenen Menschen. Selbstlos zu sein, ist das schwerste Erfüllen aller Vaterliebe auf Erden; wir sollen es unserem himmlischen Vater gleich darin tun.

Solcher Gedanken voll, erwartete ich den Morgen, da ich vom Schlafe erwacht war. Dann gedachte ich so mancher Rast meines Lebens, entblößt und der Notdurft enthoben wie diese; doch ein anderer Weg war ihr stets vorausgegangen, ein Weg, viel klarer und reiner, dünkte mich; mühevoller auch, aber gesegneter darin. Bei Nacht und bei Tag - unaufhörlich hatte ich im Kampf gegen meine Schwäche gelegen, um der Reinheit willen, die ihre Wohnung in mir haben sollte. Ich war in jenen vergangenen Tagen der Freund aller Welt gewesen, hatte mich stündlich an meinen menschlichen Bruder verschenkt, um ihm zu helfen, das Ziel des Lebens eher zu erreichen. Denn die Entsagung des Pilgertums soll in Wahrheit sein: vom Staube losgelöst, von Besitz und Macht und irdischer Enge, sich der Unendlichkeit des Himmels anzuvertrauen, alles zu lieben und nichts an sich zu binden, Leben und Liebe für jeden Bruder in der Brust zu tragen, ohne einen Lohn dafür zu erwarten, in aller Gemeinschaft doch einsam zu sein und frei für Gottes Berufung. So allein wird Weltentsagung nicht zu pharisäischer Weisheit bei verdorrtem Gemüt. Gott gab dem Menschen das Leben, auf daß er gemeinsam mit seinen Werken wirke, und es wird das Glück der Menschheit auf Erden und ihre wahre Herrschaft über die Welt nur solange währen, wie der Mensch noch Gottes Knecht und Diener der Schöpfung und Bruder seines Werkzeugs bleibt. In einer Herrschaft ohne den Dienst an Gott wird er Leid erfahren und Heim-[29]weh und Reue empfinden wie ein ungetreuer Knecht, der seinem Herrn entlief, weil er dessen Gut übel verwaltet hatte. War es verwunderlich, wenn ich in dieser Morgenstunde meines Sohnes gedachte im Gedanken an die Pflicht zur Selbstlosigkeit für unsere irdische Liebe? Still, wie ich lag, den Morgen abzuwarten und das Licht, um dann Umschau zu halten, wo ich wäre, mühte meine Seele sich, Heim zu finden und die Schattenwelt der Götter und Geister durch die Klarheit des Heils in Gott auszulöschen und mir die Macht über Sinne und Gedanken abermals zu verleihen. Ich hatte Frieden gefunden am Ende meines Irrens, sagte ich euch, meine Brüder. Mit jenem letzten Gedanken, den mir das Brausen der Sommernacht eingab: daß die greifbare Mannigfaltigkeit unvorstellbar vervielfacht das unfassliche Ganze trägt, ward ich auch Herr über die alten Götter und Geister. Was anderes waren sie, die ich in mir zurückkehren gefühlt, als die Ohnmacht der menschlichen Seele, dem Ganzen, Unendlichen und Unsichtbaren getreu zu sein, ohne das Endliche und Sichtbare und Fassliche zu halten? Wäre ich des Brausens der Sommernacht mehr inne geworden, wenn ich eins der Milliarden von geflügelten Wesen erhascht hätte, es in meiner Hand eingeschlossen und dem Summen seiner Flügelchen gelauscht? Wollet darum nicht Göttern anhangen, geliebte Brüder, Götzen für die Unzahl der Kräfte und Güter des Lebens; tut es den alten Völkern in der Kindheit der Erde nicht gleich, die einen Gott des Krieges ehrten, einen Gott des Handels, des Friedens, des Gesanges, der Weisheit, und die Maße ihres Lebens so weit übertrugen, daß sie gar Götter und Göttinnen erkoren. Es ruhen der Frieden und der Krieg, der Ton, die Weisheit, die unendliche Menge doch nur in Einem. Die Kräfte der Schöpfung, die ihr im Gleichnis verehrt und mit Gestalten begabt bis auf den heutigen Tag - sie sind nur Zeugen für die Herrlichkeit ihres Vaters.

Aber ich bekenne es: wir tragen soviel Kindheit dieser Welt, soviel Erbgut von der Anbetung des Gottes, dem unser Geschlecht sich mit seinen Werken geweiht, in uns, daß die Andacht der Ahnen allstündlich in uns nachzittert und unser Denken zu bestimmen und unser Tun zu regieren vermag. Eine dunkle Vertrautheit, die wir gar nicht zu erklären vermögen, wird manchmal in uns lebendig; wir fühlen Heimweh nach der Vorzeit, die sich in uns regt, um ihr wieder mit schlichten Werken zu dienen [30] und aufzugehen im alten, geheiligten Tun, wenn unser Leben davon abgewichen ist. Wie dürstet es doch den Menschen, der den Pflug verlassen hat, den seine Ahnen geführt, wenigstens einmal im Leben wieder beim Anblick des Pflügers danach, den Sterz in seiner Hand zu halten! Wie klingt einem anderen das Herz wider vom Klingen des Ambosses, an dem sein Vorfahr gestanden; wie folgt das Auge des Wanderers dem Zuge der Herden und ihrem Schäfer und verlangt es ihn unergründlichen Heimwehs danach, zurückzukehren von seiner Straße in die Rast der Herden, an die nächtlichen Feuer der Hirten, unter die Sterne des Sommers, die vielleicht einmal über dem Werden eines Urahnen in einer Nacht unruhigen Blutes geleuchtet! Wie müsste nicht aufhorchen beim Klang der Harfe, wer einem Geschlecht von Spielern entsprossen!? ... Wie könnte er sich nicht aufgerufen hören und geweckt, wie wäre es möglich, daß nichts in ihm Antwort gäbe und er nicht endlich in seiner Seele das Erbe von vielen über das Eigene wachsen spürte? Gewiss hat sich auch das Geschlecht der Kannel-Spieler in der Obhut eines Gottes gefühlt, ihm geweiht, seinem Geheimnis und Wesen, und die Auferstehung eines Gottes hatte Götter und Geister wachgerufen in mir. So nahe und beschwörend der Teil deutlich geworden war in der Reue des Alters, so hatte auch die Wiederkehr des einzelnen der menschlichen Einfalt die Anschauung des Ganzen geraubt. Denn nie fällt es dem Menschen so schwer, dem einigen Gott seinen Blick zu bewahren, als rückschauend durch das Erbe seiner Ahnen und der Liebe zu ihnen, und vorwärts durch seine eigene Gegenwart im Gefährten, den sich seine Liebe erkoren, und seine Zukunft: sein Kind.

Es war eben die Sonne im Aufgang zu ihrem langen, feurigen Wege, als von Ferne her Glockengeläut zu mir drang. Wach war ich gewesen seit einiger Zeit, doch nun war es, als erwachte ich zum zweiten Mal. Ich kniete nieder und lobte Gott, lobte und pries ihn wie der junge Tag, in dem sich die Mächte der Schöpfung freudenvoll rührten. Ich schaute zum Klosterberg aus, und siehe, es standen die vieltürmigen Mauern vom Morgenrot überhaucht, gesegnet vom Licht als erstes im Lande. 0 herrliche Klarheit, die mich mit der Verklärung der Sonne erfasste! Ich pries mit Tränen den Schöpfer der Welt, der hinter dem gewaltigen Wirken seiner Werke in unendlicher Ruhe thronte. 0 ewiger Vater!... flüsterte ich nur, Ehre sei dir, Ehre!...

[31]Vom Gebete erquickt, erhob ich mich und blickte in die Runde, und das erste, dessen ich gewahr wurde, war - der Sohn!

Es stand einen Steinwurf weit entfernt von mir ein Mann, still und unbewegt wie ein Baum. Ich, der ich mich eben vom Gebet erhoben, ich war das erste lebendige Wesen, das er an diesem Morgen gewahrte. Und mein Anblick dünkte ihn so unfasslich, wie mich der seine zum Zittern brachte. Mein Herr und Gott, dort stand ein Mensch! Ich fühlte meine Knie beben... Fragend blickte er zu mir herüber, forschend gar, ob ich Getier oder Mensch sei, mit der tausendmal geschärften Wachsamkeit eines Bewohners der Wildnis. War das mein Sohn? Auf die Entfernung vermochte ich seine Züge noch nicht zu erkennen, und doch bohrte sich mein Blick in den seinen. War das er, den ich einst auf den Armen gehalten, der auf meinen Knien geritten war, dem ich die Hand geführt zum ersten Wort auf der Tafel, zum ersten Ton auf dem Kannel? War das mein Kind, über dessen Schlaf und Spiel ich einst in Sorge und Liebe gewacht? Wie viel Schmerz fühlte ich bereit, sich in Sekunden auszugießen, wie viel Tränen der Sorge, noch ungeweint! Mein Blut drängte zum Herzen, es hüpfte freudig und schmerzlich, wie in den alten Sagen die Wunde zu bluten beginnt, tritt jener herzu, der sie schlug. Eine Sturzflut von Erinnerungen sah ich gestaut hinter der reglos verharrenden Erscheinung des Mannes, gewärtig, daß sie hervorbräche und mich mit sich wirbelte, wenn ich in ihm den Gesuchten erkannte.

Es war kein Zögern mehr in mir. Ohne zu achten, worauf mein Fuß trat: Tod oder Leben, Sumpf oder Erde, schritt ich auf den Wartenden zu, von dem nun, da ich näher kam, das wachsame Misstrauen zu weichen schien. - Jetzt war ich schon so nahe, daß sein Gesicht klar erkennbar wurde. Ich starrte ihn an - um dann die Augen zu schließen, inne haltend, wie in schwerer Fron mühsames Werk schnell verrichtend. Ich grub, ich grub, ich häufte Gebirge zur Seite, Berge vergangener Zeit. Ich scharrte mit armseligem Werkzeug, scharrte einen schweren, hohen Grabhügel zur Seite, weil ich darunter das tot gewähnte Leben suchte, von dem meine Augen mir jetzt sagten, es sei gar nicht tot. Wie an erstorbenen Stätten der alten Welt die Menschheit von heute Berge versetzt und Hügel abträgt, welche die Zeit über das Tote gehäuft, um nur das Bildnis vergangener Menschen zu finden, Merkmale ihres Seins aus ihrem Alltag, also [32] stand ich: fieberhaft mich mühend, mir das Bild meines Sohnes zu vergegenwärtigen. Wie hatte er ausgesehen, da ich ihn zum letzten Male sah...? Ich wusste es nicht. Die Zeit hatte einen so hohen Grabhügel darüber getürmt, daß die Sekunden nicht reichten, es auszugraben. Ich raffte mich zusammen und gab mich dem Anblick des Jetzigen hin.

Von der schweren Arbeit gekrümmt und geduckt wie vom Wohnen in der Höhle, im dunkeln Arbeitskittel, einen Spaten in der Hand, der da sprühte wie von Silber, braunschwarzen Gesichtes, wie aus der Erde des Moores geformt, stand der Fremde vor nur.

Ich hob meine Augen auf zu seinem Gesicht: es war Bruderschaft eingegangen mit der Welt, in der er wohnte. Es war dem Moor so verwandt wie die Kiefern, die, jeder Zukunft inne, als Samen her geweht waren, ein hochragender Baum an anderen Orten hätten werden können, aber in der Welt ihres Wachstums niedrig geblieben waren und vom Winde gekrümmt. Dieses Gesicht war wie aus einer düsteren Wurzel geschnitzt, nur klaffte dicht neben dem einen Auge die Narbe vom Schuss einer Kugel, die den ganzen Kopf aufgerissen. Ein Mensch, ein Mensch unserer Tage, geliebte Brüder - wäre er aus den Schrecknissen der Schlachtfelder, von denen sein Haupt noch zeugte, vollends ohne Augen heimgekehrt. Denn wisset: die Welt, die er in sich trug, die wahre, einzig wirkliche Welt seiner Seele - sie blickte mich aus Augen, die dem Unergründlichen nachträumten und für die Gegenwart stets vergesslich und unaufmerksam schienen, wie hinter dem Schleier von Jahrhunderten an.

War das mein Sohn?

Zuviel Leben und zuviel Kräfte dieser entfesselten Zeit waren über sein Gesicht hinweggegangen; auch war es gleich geworden dem Ewig-Gleichen der Schöpfung. Es war so gültig geworden wie das Gesicht eines Toten. Stürmte nicht dennoch etwas in mir ihm entgegen, willig, ihn in die Arme zu schließen, willig, seine Liebe anders zu empfangen, als ich sonst Liebe auf Erden empfing? Tiefste Ratlosigkeit und Angst vor dem nächsten Augenblick ließen mich innehalten. Ich sah nur ihn, ich begehrte stürmisch sein Wesen; ich wachte insgeheim schon darüber, alles von ihm allein zu wissen, mein Herz war daran, ihn in diesen Sekunden unzertrennlich zu erwählen für sich. Er redete mich an - aber ich hörte es nicht und blieb nur betroffen stehen.

[33]Vater, woher kommt denn Ihr? fragte er mich noch einmal. Vater!... hatte er mich angeredet. Es war dieses Wort wie ein Blitz gesprochen; es leuchtete auf, in die Finsternis geschleudert und sie spaltend, bis sie sich wieder schließen würde zu noch tieferer Finsternis. Aber noch bevor diese Flamme erlosch, schlug jäh eine zweite auf, von unvergänglichem Leuchten. Dieses Feuer glüht, denn es ist die Fackel ewigen Lebens; sie wird nie wieder sterben, nach ihrem Leuchten kann es nie wieder dunkel sein. Denn durch den zweiten Blitz in meinen Gedanken erschien meinen fürs Irdische geblendeten Augen hinter der Gestalt Makaris die Herrlichkeit Gottes auf ihrem Thron. Mich schwindelte, und meine Hand auf das Moor hinter uns gerichtet, über dem das Licht des Morgens aufgegangen war, sagte ich leise, seinen Augen begegnend: Von dort her, mein Sohn! - Oh, ich, den die Menschen gemeinhin Vater Makarius nennen, hatte nun endlich mit Schmerzen das Wesen meiner Vaterschaft an Makari verstanden. „Dein Vaterherz öffne nur nun, mir, der aus den Sünden zurückkehrt, himmlischer Vater. Nicht stoße mich fort, denn dein Erbarmen ist maßlos.“

DIE BÄUME unter dem Himmel wachsen; sie blühen, wenn ihre Zeit erfüllt ist, und werfen Samen. Die Samen keimen und senken Würzelchen ins Erdreich und wachsen und beginnen selbst zu blühen und tragen Früchte mit neuer Saat. Noch unter den Zweigen des ersten vermehrt sich die Art und wirft schon Zukunft von sich unter dem Fruchten ihres Ursprungs. Nur im Leben des Menschen, will es dünken, gibt es einen Sommer allein, ein Blühen und Ernten. Ein Menschenleben begleitet seine Frucht nur bis an seine Schwelle des Blühens, und dann ist seine Erscheinung in Wahrheit schon ein Ende. Das Alter tilgt, was es im Kreis des Sichtbaren geworden; es wächst nach innen, es drängt zum Wachstum ins Unsichtbare, und mit dem Tod hat es seine Blüte auf einer anderen Welt geöffnet. Ja, was uns inne wohnt, beginnt erst zu wachsen, wenn wir ins Sichtbare um uns gegeben haben, was wir vermocht. Die Glieder der Kette, als die wir Menschen uns so gern ein Geschlecht denken, sind doch nur soweit miteinander verbunden, wie ihr Halt aneinander gesichert scheint. In Wahrheit beginnen wir hienieden schon zu [34] sterben, wenn wir das Leben, das wir gezeugt haben, auf der Schwelle zu eigenmächtigem Dasein gewahren. Wisset denn so, die ihr diese Blätter lest, daß ich an jenem Tag der Begegnung mit Makari zu sterben begann. Der eine oder andere von euch ist Zeuge des hitzigen Fiebers gewesen, das mich nach der Rückkehr aus dem Moor ergriff. Ihn wird es nicht wundernehmen, daß ich mein Ende hierher setze, ob meiner Betagtheit, die vielleicht den Mühen der Wanderung nicht gewachsen gewesen war. Aber ich sage euch, daß ich meine Kräfte durch ganz andere Wege verrinnen fühlte von jenem Tag an. Der ich in Frieden bald von hinnen zu gehen hoffe, bekenne ich, daß jener Makari mein wahrhafter, leiblicher Sohn gewesen ist, und daß ich - nicht wissend damals, wozu ihn der Herr auserwählt - spürte, es sei meine Zeit abgetan, das junge Leben schon längst über die Schwelle getreten. Ich war sein Vater - gewesen, drängt es sich mir auf zu sagen. Und ich wurde abermals Vater, Vater Makarius, für ihn. Da ich mit der Hand hinter uns gezeigt hatte und gesagt, von dorther käme ich, aus der Weite der Welt zu ihm, um als sein Vater sein Bruder zu sein - damals verstand ich den gewandelten Sinn meiner Vaterschaft. Habe ich sie erfüllt? Nun wohl, geliebte Brüder, ich habe in Schmerzen zu verstehen gesucht und innig darum gebetet, Gott hinter der Gestalt des Sohnes nicht aus den Augen zu verlieren, und als er in der Stunde der Not zu mir kam - Makarius zu sein, der Bruder, der Pilger, und mich ehrfürchtig gescheut, die Ernte des Himmels zu stören. Denn es hat in jedem Menschen Gott seinen Anteil, und was der Himmel in deines Bruders Herz ernten will, ziemt dir nicht, voreilig zu zerstören, da es noch Knospe ist. Mein Vater im Himmel, du weißt, daß mein Blut es oft anders gewollt hat, du weißt es; rechne ihm mein Entsagen zum Lohn!

Mein Sohn, mich dürstet! sprach ich zu ihm, als wir dort im Morgen standen, und Makari, dessen Blick unverweilt über die Moore schweifte, auf die ich gezeigt hatte, kehrte gleichsam mit Leib und Seele zu mir zurück. Mich dürstet! sprach ich, gib dem Pilger um Gotteslohn zu trinken!

Er nahm mich beim Arm. Zitterte ich nicht, dessen Morgenfrische verloren schien wie der Tau, den das Licht schnell getrunken?

Kommt, Vater! sagte er, und wir gingen. Und ehe ich es mich versah, stand ich vor einer Reihe mit Reisig und Stangen ge-[35]festigtet Stufen, die in die Erde hinabführten, wo eine Tür geöffnet stand, hinter der sich ein dämmriger Raum auftat. Makari führte mich am Arm in die Höhle hinein wie in eine andere Welt, die ich später, auf seinem Lager sitzend, mit Staunen und Rührung betrachten musste.

Ihr alle, meine Geliebten, habt ja von dieser Höhle gehört. Sie ist eng im Geviert, mit Moos und Flechten gepolstert und von etlichen jungen Bäumen gestützt; niedrig, doch so, daß er aufrecht zu stehen vermochte. Ein winziges Fenster in der gewölbten Decke lässt das Licht des Himmels wie in einen Keller scheinen. Roh sind die Bank und der Tisch, aus Stämmen gehauen und mit Zweigen und Binsen umflochten, und die Bettstatt voll Moos will dem scheuen Tier des Waldes angemessen scheinen. Kühl ist es im Sommer darin und warm im Winter, wozu das Öfchen, das inmitten der Höhle steht und sein Rohr in den Tag lugen lässt, noch beiträgt. So, denke ich, und noch ein wenig armseliger haben die Menschen der Vorzeit gelebt; ganz ohne Prunk, redlich dem Leibe dienend, wie viel dieser Herr fordert, dem Himmel genauso aufgeschlossen wie wir. Ich saß auf seinem Lager, an das er mich geführt, und blickte versunken auf diese Welt, die in die Erde gesenkt ward von ihm. Makari war also-gleich stumm und emsig beschäftigt. Das Brot, ein gewaltiger Laib, hing bei ihm unter der Decke; er nahm es und legte es vor mich. Dann ergriff er einen Krug und verschwand damit.

Allein war ich, und noch leichter ward es mir jetzt, die Höhle zu betrachten, da er meinen Blick nicht verfolgte.

Aber was gab es hier zu sehen? Worauf hätte ich starren können, ein neugieriger Fremdling? Sein Leben musste wahrlich so genügsam sein wie das des armseligsten Getiers. Nichts erblickte ich, woraus nicht der Dienst an der Notdurft sprach. Wahrlich: prunklos rollte dieses Leben hier in der Einöde dahin. Es wuchs, es stand; wo waren die Zeugnisse der Gelüste, die uns in der Blüte der Jahre überkommen? Keines davon gewahrte ich. Hier war Erdreich, und darin wuchs ein Mensch wie ein Halm. Ein Käfer kriecht über die Moore: der Himmel ist über ihm, die Erde unter seinem Fuß. Hinter ihm hat sich das Tor des Lebens einmal geöffnet, der Weg ist sein einfältiges Werken, an der Grenze zur Unendlichkeit wartet der Tod auf ihn. Und auch in ihm hat Gott seine Wege, auch in ihm seinen Anteil...

In meinen Tränen sah ich die Höhle verschwimmen. Aus mir war [36] dieses Leben entstanden, aus mir und meinem Weibe, Gott sollte ihrer Seele gnädig sein. Es tastete ein Sonnenstrahl durch das blinde Fenster in der Decke, und die Stäubchen, die aus dem Moose gewölkt, lagen glänzend in seinem Licht. Sichtbar wurde, was uns immer umgibt; deutlich auch meinen Sinnen, was im Herzen verborgen war: die Sonne im Häuschen des Dorfes, an dessen Kindern ich einst gewaltet, die Sonne des Glücks über meinem erwählten Weibe, dem Kinde, den Blumen im Fenster, dem Tisch, da Gott uns unser Brot beschert, den Freuden, den einfältigen Freuden des Lebens... Wie einem Träumenden zwischen den dunkeln Wänden des Schlafes eine farbenglühende Welt aufzuleuchten vermag, sann ich meinem Leben abermals nach.

Da verfinsterte sich die Höhle bis auf das Licht, das durch das Fenster in der Decke fiel. Ich schrak zusammen; Makari kam wieder; aber indes ich meinen Blick zur Tür wandte und mich aufrichtete, rührte ich an etwas, das mit flüsternden Tönen mir Antwort gab. Es war das Kannel, neben dem ich schon lange verweilt!

Wahrlich, so heben wir Schätze ans Licht: unser Fuß schreitet über sie hin, unser Leben rastet neben ihnen, sie sind, und wir sind und wissen lange nicht voneinander. Ich hatte wandern und in die Erde steigen müssen, um das Kannel hier zu finden. Ich hatte, angerufen von meinem Sohn, tief und lange mich versenken müssen in die innere Welt, um jetzt zu erkennen, wie köstlich das Gut war, das ich in den Händen hielt. Als Makari eintrat, schob ich das Moos zur Seite; ich griff zu, als hätte ich schon immer gewusst, daß das Verlorene dort auf mich wartete, und erst als ich es in den Händen hielt, ließ mich die Stille in der Höhle aufmerksam werden auf den, der eben gekommen war.

Den Krug in den Händen, stand Makari im Eingang und ließ sich nichts entgehen von allem, was ich nun tat. Wie er dort stand, schien er bereit zum Mord, möchte ich denken; Gott verzeihe mir, wenn ich ihm unrecht getan. Es war still in der Höhle, still wie im Grab, und der Sonnenstrahl, der hereinfiel, ließ die Ahnung von noch tieferer Stille entstehen: der Stille im Weltall, bevor Gott im Geschaffenen das Wirken entfachte, das Leben von seinen Fesseln löste, bevor die Bäume zu rauschen begannen, das Wasser zu murmeln, die Tierlein zu schreien, bevor in den [37] Sphären die Harmonien der kreisenden Gestirne ertönten, bevor der unfassliche Chor des Lebendigen begann...

An diese Stille muss ich wohl gedacht haben, als ich das Kannel in beiden Händen vor mir hielt. Rührte ich mich - es hätte zu klingen beginnen können; hob ich den Kopf - er hätte vielleicht die Sprache gefunden; wer weiß, was geschehen wäre, und so regte ich mich nicht. Meine Augen verweilten auf dem Holz, streiften die Saiten und liebkosten die Wirbel, von denen etliche älter waren als Makari und ich zusammen. Dort sah ich das Zeichen unseres Geschlechtes, die Marke, die auch unser Haus einst getragen: Runen, im heidnischen Glauben entstanden. Eine Rose war an beiden Seiten aus dem Holz geschnitzt und sandte Ranken nach oben und unten. Hier, hier... Nein, es war zu dunkel, als daß ich es hätte erkennen können: das Zeichen, das ich als Knabe einstmals ins Holz geritzt, meinen Anteil am Kannel zum Zeugnis. Oder war dieses Zeichen vergangen? War dieses mein Zeichen allein ausgelöscht unter den vielen, vielen Zeichen, die das Holz bedeckten, weil ich allein dem Kannel untreu geworden war?

Eine Angst, wie sie das Kind erfüllen muss, das sein Vaterhaus verschlossen und verlassen für sich findet, wenn es vom Botengang für die Seinen abgeirrt war und spät erst zurückkehrt, durchzitterte mich. Ich vergaß Makari, der sich in seiner Unbeweglichkeit so leicht vergessen ließ, und beugte mich tief über das Kannel. Schon spürte ich die Saiten mein Haar und den Bart berühren - berühren zum Klingen! - und während ein winziges Rieseln ertönte, richtete ich mich auf. Wie ein Blinder mit dem verfeinerten Tastgefühl seiner Finger hatte ich noch einen Hauch meines Zeichens im Holz gespürt und war glücklich, glücklich, als hätte die Heimat das Kind nicht verstoßen.

Makari war nähergekommen, als ich den Kopf erhoben hatte, und stellte den Krug auf den Tisch. Er sah mich an und setzte sich auf die Bank. Nur wie es Menschen tun, die sich für kein Werk ihrer Hände zu schämen brauchen, legte er seine Hände vor sich auf den Tisch, und so nahmen sie mich unwillkürlich gefangen: diese Hände, die wahrlich noch Werkzeuge waren und zum wenigsten Werkzeuge hielten. Er sprach nicht und schaute vor sich hin mit einem seltsamen Ausdruck der Vergessenheit im Gesicht, des Träumens oder des Schweifens über den Augenblick hinaus, den ich so oft an ihm bemerkt hatte.

[38]Ich habe dich manchmal das Kannel spielen hören, und singen, mein Sohn, sagte ich leise.

Oh, jetzt zitterte ich, jetzt schlug mir mein Herz zum Zerspringen. In dieser Welt fiel es mir nicht leicht, meine Herrschaft zu bewahren; in diesem Dunkel, da das Wähnen der Ahnen uns umgab wie der zitternde Staub, war es schwer, Gott nicht aus den Augen zu verlieren. Wie viel wusste er? Wusste er alles, ein wenig oder gar nichts? Wusste er, was ich auf dem Holz des Kannels gesucht?

Er sah mich an. Das ernste Moor, das in seinen Zügen widergespiegelt war, begann in seinem Lächeln zu blühen wie ein köstlicher Garten. Ja, Vater... sagte er nur. Aber mein Sohn, wer hat dich die Lieder gelehrt, die du singst? war ich schwach genug zu fragen und blickte in den Sonnenpfeil, der durch die Höhle zielte.

Es kam keine Antwort. Ich wagte es nicht, ihn anzusehen; und als ich's endlich tat, saß er noch immer mit einem Blick des Vergessens auf der Bank mir gegenüber. Er erwachte gleichsam, als ich meine Augen zu ihm aufhob, es war gar ein wenig Verwirrung in seinen Zügen zu lesen.

Wenige Menschen kommen hierher, sagte er leise. Esst und trinkt, Vater! Er bot mir die Kanne voll Milch - die Milch einer Ziege, die er sich hielt - und brach Brot von dem Laib und reichte es mir zu. Es glich einem Stück seiner selbst, braun und hart, wie es da in seiner Hand lag! Da, nehmt! meinte er einladend und leise, und beim Klang dieser Worte - wie alle so leise gesprochen, als würden wir belauscht oder horche er ihrem Klang nach, forschend, bis wohin er ginge -,bei diesen Worten sah ich ihm, ich weiß nicht, warum, mitten ins Auge... Hell und klar wie ein Türkis aus dunklem Samt strahlte es mir entgegen. Es hatte etwas von dem Sonnenstrahl in sich, der zu uns in die Dämmerung brach. Aber daneben glühte ganz frisch, als wollte sie niemals vernarben, die Wunde am Haupt, über die auch kein Haar mehr gewachsen war.

Du warst im Krieg, mein Sohn? fragte ich fast ängstlich, wie der Vater, der von schrecklicher Gefahr für den Sohn erst erfährt, wenn die Gefahr schon überstanden ist, und sich dennoch ängstigt.

Sein Blick, jetzt nicht selbstvergessen wie sonst, gewann an Schärfe, als verfolgten seine Gedanken einen anderen Weg; und [39] unbeirrt von meiner Frage, formten seine Lippen langsam die Worte, die sie schon immer hatten sprechen wollen: Ich habe schon viel von Euch gehört, Vater...

Ach! meine Fragen verhallten bei ihm ohne Antwort, wie im Moor. Er lebte, er dachte und fühlte und dachte und fühlte beharrlich das seine, unbeirrbar durch meine Fragen; und so langsam, wollte es scheinen, als hätte das Leben hier ihn der Zeit entwöhnt. Er hätte eine Frage vielleicht am Abend denken können und erst am nächsten Tag aussprechen. Die Zeit dünkt einen so Einsamen nichts.

Überdem aß ich und trank ich, aber die Speise wollte meinem Leibe nicht wohl. Kürzer und heißer nur ward mein Atem, die Stirn beschlug mir trotz der Kühle; Makari, der mir noch immer gegenübersaß, schien mich nicht mehr zu sehen. Wie ein Träumender im schweren Traum an das Entsetzliche die Frage richtet, mit der er dann schweißgebadet erwacht, ehe die Antwort gefallen ist, nahm ich da all meine Kraft zusammen und fragte ihn noch einmal: Sage, mein Sohn, wer hat dich die Lieder gelehrt? - Und ohne die Antwort abzuwarten, drängte ich tiefer in ihn: Woher kommst du? Bist du hier geboren? Es bist doch nicht du, der das schöne Kannel geschnitzt hat? Auch ich habe schon viel von dir gehört, ehe ich dich sah, und dich zu sehen, bin ich gekommen, doch auch mit dir zu sprechen! Kennst du Vater und Mutter nicht?

Makari stand auf. Ich, sprach er wie ein Träumender im Schlaf, ich kenne niemanden. Ich kenne nur diese Lieder, ich weiß nicht, woher; mein Gedächtnis..., ach, mein Gedächtnis...

Es war ihm sichtlich schwer, ja quälend, wie dem Träumenden, zu mir zu sprechen, und seine Hand fuhr an den Kopf zur Wunde, als schmerzte sie ihn, wenn er so tief nachdenken musste. Er nahm den Spaten, den er zur Seite gestellt hatte und wog ihn in der Hand. Hängt das Brot wieder unter die Decke, wenn Ihr gegessen habt, sagte er wie zum Abschied; die Ameisen fressen es sonst auf...

Willst du denn jetzt gehen, mein Sohn? fragte ich und erhob mich eilends. Ja, sagte er leise, meines Erstaunens nicht achtend, aber ich komme noch vor Mittag zurück. Er schickte sich an, die Treppe hinaufzusteigen, als ich ihn noch zurückhielt. Hatte er denn gedacht, ich bliebe für lange Zeit hier?

Ich bitte dich, zeige mir den Weg zum Kloster zurück! Gestern [40] ging ich fehl und verirrte mich; ich will jetzt auf dem schnellsten Wege dahin, gleich, sogleich...

Mein Bleiben hatte ihn nicht verwundert; die Eile, mit der ich zum Aufbruch drängte, nicht mehr. Er nahm das Brot und hängte es unter die Decke und gab mir so ein klares Zeichen dafür, daß er den Wanderer genugsam ausgeruht glaubte. Vor mir schritt er die Treppe hinauf.

Im Licht des Morgens war ich wie trunken, und fast glaubte ich nicht an die dämmrige Höhle, in der wir noch eben verweilt hatten. Doch der Mensch, der neben mir schritt, zeugte für sie. Hier oben im Licht glich er einem auferstandenen Toten.

Zum Kloster! sagte ich mahnend, als er mich in eine ganz andere Richtung führte. Er nickte nur schweigend und ging weiter. Der Boden war von der Sonne gehärtet, aber ohne jegliche Spur. Zur Linken und zur Rechten war alles genauso unberührt, nur dehnte sich dort noch das sumpfige Land, das keinen von uns getragen hätte. Bald jedoch wandten wir dem Berg das Angesicht zu, und ich verstand, daß nicht das Auge es war, das den Weg des Menschen hier fand, wie ich mich von meinen Augen hatte leiten lassen. Es war sein Sinn, ein Sinn, der ihm erst wachsen musste in der Vertrautheit mit dieser Welt.

Geraume Zeit wanderten wir stumm. Ich hatte keinen Mut, aufs neue zu fragen; alle meine Gedanken nahm auch gar bald der Wunsch nach meiner Zelle ein, denn es lehnte sich mein Leib gegen die Wanderschaft auf. Ich fühlte das Fieber sich entzünden und hatte nichts, nichts, womit ich es löschen konnte.

Plötzlich hielt Makari inne. Seht Ihr die Spur, mein Vater? fragte er. Zu Boden blickend, gewahrte ich wirklich die Spuren von Wagen und Menschen. Er stach den Spaten in sie, hob dann den gleißenden Stahl und zeigte damit auf die Häuser und Türme in der Ferne. Ohne daß er ein Wort dazu gesprochen, hatte ich ihn vollkommen verstanden. In diesen Spuren fand ich zurück. Er schickte sich an, umzukehren, aber da ergriff ich noch einmal seine Hände.

Hab Dank, Gott vergelte es dir! stammelte ich unter Tränen, Gott segne dich, Makari... Er verneigte sich, wie vor einem Priester; als Vater, den er mich genannt, zeichnete ich das Kreuz über seine Stirn.

Vielleicht habe ich dich zum letzten Male gesehen, sprach ich zu ihm, es hat der Herr meine Tage gezählt. Oh, daß er doch das [41] Flehen hörte, das in meiner Stimme zu ihm drang, mein Flehen, ein Zeichen zu geben, daß er mich erkannt...!

Er hielt den Kopf noch gesenkt; ja, Vater..., murmelte er dann und küsste mir die Hand, wie dem Priester.

Gott sei mit dir und in dir, mein Teurer...! spreche ich, und er geht.

Ja, ein Mensch geht über die Moore: der Himmel ist über ihm, die Erde unter seinem Fuß. Hinter ihm hat das Tor des Lebens sich einmal geöffnet, der Weg ist sein einfältiges, demütiges Werken. Und auch in ihm hat Gott seine Wege, auch in ihm hat Gott seinen Anteil.

Der Pilger wandert; in ihm ist Unrast. Er zieht aus, Göttern zu begegnen und Geistern, aber überall steht die heilige dreieinige Gottheit auf seinem Weg, im Geringsten am Werke. Er versteht in Schmerzen, Reue und Heimweh erfüllen seine Seele, und in der Wahrheit des Wortes, daß die, die Ihn sehen und Sein Reich ergreifen wollen, Ihn unter Trübsal und Leiden in Besitz nehmen müssen, schleppt er sich zurück zum Berge der Andacht, auf daß er zurückgekehrt von der Wanderung sei und gerüstet zum letzten Wege, wenn der rufende Engel erscheint. Aber er, dem der Herr schon so oft das Fragen und Forschen verwies, weiß nicht, daß der Engel des Todes sich einem anderen noch früher nahen wird als ihm und daß er den Weg, den er sich mit schwindenden Kräften eben dahingeschleppt hat, noch einmal wird gehen müssen, unter viel mehr Beschwer. Kaum zurückgekehrt in die enge Zelle, da der Leib rastet, jagen Fieberqualen seine Seele hinaus ins Moor unter eine brennende Sonne. Jeden Weg geht er noch einmal, jeden Gedanken denkt er, jede Empfindung fühlt er und jedes Wort spricht er noch einmal; aus allem, was er scheint, keltert Gott, was er ist, und der verborgenste Saft und der geheimste Sinn - der ist Sein!

Überdem reifen die Beeren des Moores bis auf die blutrote Moosbeere, die der Hase unter dem Schnee ernten wird, das Korn sinkt hin, fern vom Kloster, wo die Felder sich erstrecken, die Früchte der Erde fallen in des Menschen Scheuer. Und der Herbst beginnt. Gläserne Klarheit senkt sich über die Erde mit den ersten Frösten; der Pulsschlag des Lebens mit seiner Unrast von Blühen und Fruchten sinkt tiefer hinab und schlägt endlich im Verborgenen, aus dem er gestiegen war: in der Wurzel alles Geschaffenen. Und dort kommt der Schlaf über ihn, Tod ge-[42]nannt bei den Menschen. Über dem Klosterberg schwebt eine dunkle Wolke. Sie senkt sich und steigt; zum letzten Male im Anbruch der Nacht und zum ersten am Morgen. Tag um Tag flattert sie, nimmermüde, jagt über die Moore und verweilt dort für Stunden und fällt für die Nacht wieder auf dem Berge ein. Nie endet das Gespräch der Stare. Selbst in den dunkelsten Nächten plaudern sie noch im Halbschlaf. Und in einer Nacht, da der Reif die Luft durchkältet, fällt unter ihnen vielleicht auch die Losung: denn am Morgen steigen sie auf, höher und höher, und entschwinden dem Blick bis zum nächsten Frühling. Gott schirme sie auf ihrem weiten, gefahrvollen Weg.

Wie die Bausteine eines künftigen Hauses ragen im Moor dunkle, geschichtete Mauern auf. Ist es Makari, der die Höhle verlassen hat und sich im Licht ansiedeln will? Nein, er hat kein Haus gebaut, er wird auch keins mehr bauen. Wer im Licht wohnen will, kommt nicht auf die Erde, wenn die lange Winternacht naht. Die Mauern gehen in Flammen auf, wenn er sie, Schlitten um Schlitten, zum Kloster gebracht haben wird. Nun ist es still, ganz still. Klingen auch die Stimmen weiter als sonst bei der Klarheit der Luft - es ist niemand, der seine Stimme erhebt. Der Glockenklang dringt vom Kloster bis ganz zur Grenze, wenn der Wind gen Osten weht. Ruft er, warnt und verkündet er, mahnt er den Antichrist? Oder betten die Klänge nur den Pilger in Frieden? Was wird geschehen? Du weißt es, o Gott!

Stiller wird es mit jeder kalten Nacht. Das Gras verdorrt, die Halme sinken, es ebnet und streckt sich, was aufrecht gestanden. Nun wird die Stille das Große und Herrschende auf dieser Welt. Sie spannt sich von Osten gen Westen, eine eisige Brücke, sie verzehrt selbst das Klirren des nächtlich sich bildenden Eises. In ihrem Banne liegen Ebene und Berg. Bis von Osten her ein heiserer Rachen gegen das Schweigen aufheult...

Auf den Mooren kauern die ersten Wölfe und klagen die Stille an in ihrem Hunger und schweifen in die Runde und erfüllen die Finsternis mit Unrast und Keuchen.

In solch einer Nacht wich das Fieber, und meine Seele kehrte aus ihren Wanderungen im Moore zurück. Hinter ihr verhallte das Geheul der Wölfe, und das war auch das erste, darauf ich im Dunkel meiner Zelle wachen Sinnes zu lauschen begann. Vater, sei mit meinem Sohn! betete ich, wenn die Meute in ein Kreischen ausbrach, als hätte sie ihr unglückliches Opfer erreicht.

[43]Oder hatte sie der Schrecken Gottes ergriffen, und sie flohen entsetzt, wie sie es, den Erzählungen der Leute nach, taten, wenn sie den Klang des Kannels vernommen? Ja, Gott war mit Makari wie mit dem Kinde, aus den Klängen des Kannels tönte allmächtig sein heiliger Friede.

Geliebte Brüder: Gott ist mit dem Kinde, Gott ist im Kinde, unser Heiland spricht: „Suchet mich, der ich im vierzehnten Äon weile, im Kinde von sieben Jahren. Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn ihrer ist das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: wenn ihr nicht wie die Kinder werdet, werdet ihr das Reich niemals erlangen!“ Was ist es nun, das die Kindlein Gott soviel näher sein lässt als uns Alte? Was ist es, das ein Kind dem Raubtier entgegengehen lässt ohne Zagen, das es die Flamme umarmen und über die Wasser schreiten lassen will? Es ist eine geheime Kraft, dünkt mich, die aus dem Unbewussten zu ihm kommt, eine Kraft, die fremd ist auf dieser Erde, als hätte Gott sie von seiner Welt genommen und den Kindern dieser für den heiligen Anfang ihres Lebens geschenkt. Ahnungslos nennen wir das Kind, aber unendlicher Ahnungen, der Ahnung ins Unendliche ist es voll. Denn das Kind lebt im Herzen der Schöpfung, in Gott, das Kind trägt sanftmütig die unfassliche Ganzheit in sich, es ist der Freund aller 'Welt. Nichts weiß es von sich, nichts will es für sich, es lebt, schon auf Erden, noch immer im Paradies. Wie heilig dünkt es uns Reuige, Abtrünnige, wie ist sein Heiligtum noch nicht geschwunden im Kampf mit dem Teil, mit der Mannigfaltigkeit der Kräfte, mit dem Zweifel, der bitteren Frucht menschlicher Eigenmacht. Es ist, das Kind, noch hat kein Zweifel an ihm gerührt; es ist und lebt das kurze, heilig-unbewusste Geschwisterleben mit seiner Schwester, der Blume, und seinem Bruder, dem Wind.

Gott war mit meinem Sohn wie mit dem Kinde, denn er ist auch mit denen, die ihre Kindheit bis ins Alter bewahren, den Armen des Geistes, von denen die Bergpredigt spricht. Ein frischer, aufgeweckter Knabe war Makari gewesen, da ich ihn verlassen, und im Dunkel der Trennung lag, was ihn dem Kinde wieder gleichgemacht hatte. Aber sein Kindestum war nicht unversehrt. Es war ein Sprung darin, ein Schaden, ein Gebrest, das der Mensch nicht so schnell erkennt, und darin lagerte das Rätsel, das von seinem Wesen ausging, das beklemmende Rätsel - weit entfernt von dem friedevollen des wahren Kindes.

[44]Im Krieg war Makari gewesen und dort hatte ihn die Kugel getroffen, die ihn - verwüstet hatte zum Kinde. Oh, wie entsetzlich dünkt es, daß der Mensch seinen Bruder mit dem Werk seiner Waffe zurückzuschleudern vermag in eine Welt, in der nicht mehr das Gesetz des Lebens regiert, das Werden und Wandeln, obgleich dieser Bruder äußerlich am Leben bleibt. Geht nicht von jenen Untaten, in denen der Leidende das Gedächtnis, die Kraft des Zeugens oder gar den Schlaf verliert, ein viel tieferes Grauen aus als vom Verlust eines Gliedes zum Beispiel? Ja, sie sind ein Verbrechen wider den Heiligen Geist, den wir nicht betrüben sollen, nach des Herrn Wort, sie sind ein Anschlag wider die majestätische Ganzheit.

Der Krieg hatte Makari mit einer klaffenden Wunde im Kopf das Gedächtnis verlieren lassen, und doch, geliebte Brüder, und doch behielt er ein Gedächtnis für die alten Lieder! Wie seltsam ist dies, und gehe ich sehr in die Irre, wenn ich meine: daß die Kindheit, zu der er gewaltsam zurückgeworfen ward, gerade in diesem Umstand eine feierliche Bestätigung fand? Sein Gedächtnis für sein eigenes Leben wurde ausgelöscht, aber keine Wunde konnte ihm das Größere und Geheimnisvollere rauben, das im Menschen schlummert: das Wissen seines Geschlechtes, die Erinnerung, in der alles ruht, was die Reihe der Ahnen ist und ihr Werken und Sinn. Man kann den Menschen töten, aber nicht die Menschheit in ihm, denn sie ist der Geist, und der Geist ist Gott. Herrlich klang darum aus Makari, als er selbst verklungen war, die Stimme des Kannels und derer, die ihm gedient. Wahrlich, er musste sterben in allem, was er von sich selbst wusste, um dem Wissen des Größeren zu dienen; und darin heiligte er sich abermals, für uns so rätselvoll und von Grauen umwittert, zum Kinde.

Wo aber wäre es anders? Immer sprengt die Offenbarung die irdische Hülle und Form, an deren liebvertrautes Bild wir uns klammern. Der Seher war schon in ältesten Zeiten blind oder taub, und in der Blindheit für diese Welt hatte sich sein inneres Gesicht herrlich gestärkt, in der Taubheit ein anderes Gehör ihm erschlossen. Wer das Gedächtnis der Ahnen ist, muss ohne Erinnerung für sein kleines Leben und Tun sein. So, wie wir alle uns einmal nach befleckenden Irrtümern einen Tod wünschen um der Auferstehung willen und eines besseren und reineren Anfangs, so hatte Makari einmal von Grund auf vergessen müssen, um dann rein die Stimme der Vorzeit zu sein.

[45]Geliebte Brüder: Wozu habe ich das alles überdacht, wozu erzähle ich es hier? - Denket doch daran: er war mein Sohn, und von der Sekunde an, da ich wieder zum Leben erwachte, überdachte ich dieses und immer nur dies. Zweimal noch sah ich ihn, und beide Male ergriff mich ein Schmerz, der mich dahin brachte, zu fragen und zu forschen, wie der Herr es uns verweist. Mein Gott, mein Vater, erbarme dich eines Vaters auf Erden und zürne ihm nicht, wenn er deinem Geheimnis nachtrachtet. Ich habe mich gemüht, deiner Offenbarung zu folgen, wenn ich in Makaris Spuren schritt. Über den Klang hinaus wollte ich zum Sinn vordringen. Wie langsam und mühselig bin ich da gewandert, und wie oft, wenn ich Makaris Wesen liebend anhing, musste ich mir zuvor ein Maß erwerben im Durchforschen der eigenen Brust. Wir waren von einem Fleisch; wie schwer ist es da, dem Geist getreu zu sein... Und wenn ich so trachtete, dem eingeborenen Sinn nahe zu kommen - nicht zuletzt geschah es, um für eine neue Begegnung mit ihm mächtiger und gerüsteter zu sein, denn ein jedes Mal bei seinem Kommen war es, als spränge eine Flamme in meine stille Zelle und suchte nach Nahrung.

Winter war es geworden, und es lag schon genug Schnee, daß die Schlitten zu gleiten vermochten. Tagtäglich nun brach Makari die Mauern aus Torf auf dem Moore ab und baute sie im Klosterhof wieder auf. Er tat dies mit großer Fröhlichkeit, seine Stimme drang bis in meine Zelle. Und da er bald an meinem Haus angelangt war, um eine zweite Mauer aus Torf neben der steinernen aufzurichten als Vorrat, ließ ich ihn bitten, zu mir zu kommen.

Er kam. Er betrat meine Zelle mit Lächeln, ohne daß er es in Worte zu kleiden vermochte. Er lächelte nur, und dieses Lächeln verband ihn in den Sekunden des Schweigens abermals so tief dem Kinde, das noch nicht unsere fehlerhafte Sprache gefunden hat für alles, was es empfindet, und im heilig unbewussten Lallen und Stammeln lebt, dem reineren Urbild des vernunftgebundenen Wortes. Er lächelte, er leuchtete, das Leben lohte aus ihm. Er war Freude, einig und untrennbar lebte er in ihr. Wie blickte er mich an! So, daß kein Wort es hätte fassen können, denn kein Wort fasst das Ganze.

Nun, mein Sohn, sprach ich, den ganzen Tag höre ich deine Stimme; sie klingt durch die Wände und macht mich fröhlich, [46] wie du es bist! Er lächelte mir zu; alles, was ich gesagt, schien sein Einverständnis zu finden. Und dabei war er nicht linkisch und blöde! Nein, er war ein Mensch in unermesslicher Freude, und darin von nichts angerührt. Und wie er da stand! Von seinen rauen Kleidern, der Jacke aus Schafspelz, den hohen Stiefeln, den Wassersträhnen im Gesicht, die das Tauen unsichtbarer Eiskörnchen in seinem Haar rinnen ließ: von allem ging etwas Unbändiges aus!

Was freut dich so, Makari, kannst du es mir sagen? Der erste Laut von ihm war ein Stammeln, dem es nicht gelang, Wort zu werden. Ein Kind in heißem Glück bringt durch seinen kleinen Mund auch mehr heiliges Gefühl an den Tag, als seine Zunge in Worte zu kleiden vermag, und darum schreit und jauchzt es auch, das Seelchen, und besingt sein Glück ohne die Fesseln der Worte, ohne das Ganze zu teilen. So war es mit Makari. Der erste Laut ein Stammeln, ein des Wortes ohnmächtiges Keuchen.

Vater, Vater..., sprach er dann und trat näher, als wäre es so leichter, mit mir zu teilen.

Ach, mein Sohn..., sprach ich leise und ergriff seine Hände und horchte auf ihn wie auf ein Kind, was er mir wohl zu sagen hätte. Und als ich so dicht bei ihm verweilte und der Odem der Wälder und der Moore mich anhauchte, ward ich plötzlich ergriffen von der Erinnerung, wie ich einstmals, da er nicht mehr als ein Jahr alt gewesen war, meinen Kopf auf sein unschuldiges Haupt gelegt, auf das weiße Hälschen, über das sich die ersten Locken geringelt, und den Geruch seines reinen Körperchens eingeatmet hatte wie den Balsam einer paradiesischen Welt. Nun senkte ich den Kopf, hielt seine Hände und lauschte. Langsam, so zögernd wie in einer Beichte, erzählte er dann, was ihn bewegte; und je mehr ich hörte, um so mehr war ich bemüht, meinen Erinnerungen zu entfliehen und mich für die Gegenwart zu sammeln - für diese Welt, denn sie war es, die Makari für sich gefordert hatte.

Warum waren es nur Schreck und unsägliche Angst, die mich beim Teilen seiner Freude ergriffen? Schnell, atemlos schnell nahm ich Abschied vom Paradies der Kindheit, darin ich noch eben verweilt hatte, um mich an seine Seite zu stellen vor dem Entsetzlichen - damit er umging wie ein Kind.

Die Welt forderte ihn! Jeden von uns bescheidet sie, einmal, unaufhörlich, werdet ihr sagen, geliebte Brüder, aber merket wohl [47] auf: sie bescheidet euch! Wollet nicht ein Kind vor Gefahren führen, denen noch ihr erliegen könnt. Daß ihn, Makari, die Welt gefordert hatte, war ein furchtbares Wissen, ja Ahnung fast. Er war dem Kinde gleich, aber nicht unverwundbar, sondern, so gewaltsam er wieder Kind geworden war, tiefer gefährdet als jeder andere. Doch wie konnte ich ihn schützen? Lang, lang war es her, daß ich des Kannels Saiten gerührt. Und eben das sollte er, das Kannel spielen, vor aller Welt!

Was er erzählte, war in so weitem Abstand von seinem Wesen oder seinem Leben, daß es anmutete, als hätte ihn der Böse auf einen anderen Stern beschieden: er sollte in die Hauptstadt fahren! In die Hauptstadt, weit, weit von hier, viele Stunden Wanderung bis zur Eisenbahn und Stunden der Fahrt. Und was dann?

Ja, er war einer der letzten Spieler des Kannels, vielleicht gar der letzte oder doch der beste unter den wenigen. Und eben darum: weil ein entartetes Geschlecht Heimweh bekommen hatte nach der heiligen Glücksfülle der Natur und deutlich fühlte, wie das Band, das es mit seinen Ahnen und seiner Vorzeit verknüpft hatte, zerrissen war - darum sollte Makari ihnen die alten Lieder ihres Volkes vorsingen und die alten Kannel-Weisen spielen. Aus vielen Landschaften waren Menschen gerufen gleich ihm. Die Kunde von seinem Spiel, anfangs nur auf die Gemeinde beschränkt, war weiter gedrungen bis zur Kreisverwaltung und immer weiter, und eines Tages hatte die ferne Welt auf den Ruf, in dem Makari stand, geantwortet; ein Federstrich war entstanden, und das war der Befehl: die Namenlosen, die Vorzeit, die heiliggesprochene Vergangenheit des Volkes sollte die entseelte Hauptstadt mit Leben erfüllen, Makari voran, der letzte Spieler des Kannels, das unser Volk vor allen anderen Instrumenten lieb gehabt hat. Männi-Mart und Uueda-Jüri aus Ton sollten mit dem Dudelsack kommen und Karja-Peter mit dem Hirtenhorn; vor allen aber Makari mit dem Kannel, dem königlichen Instrument, einem Gut der Seher mehr denn der Spieler. - Gott vergebe mir: einen Augenblick lang schlug mein Herz schneller und weitete sich mir die Brust. Makari war es, mein Schüler, von unserm Geschlechte, der des heiligen Ahnenrings Bote war! Aber heißer denn alles andere stieg in mir doch die Angst auf.

Ich saß vor ihm und hielt seine Hände gefasst und hatte den Blick gesenkt. Über die Verwirrungen und Leiden hinaus, die ich für [48] ihn ahnte, blickte ich auf die Verwirrung und die heimlichen Leiden des Menschengeschlechts. Was alles war geschehen, indes ich Christum nachgefolgt war in lebenslänglicher Pilgerschaft! Wohin hatte der Weg die anderen geführt, wenn sie eine höhere Wahrheit und eine göttliche Eingebung nun von Makari erhofften?! Ja, sie waren in die Irre gegangen, und im Irren hatte sie Heimweh erfasst. Sie hatten sich zu Herren der Welt gemacht, Herren ihrer Sklaven: der so vervollkommneten Werkzeuge, daß die Kraft des Menschen an ihrem Wirken keinen Anteil mehr hatte. Und nun standen sie müßig und ohnmächtig, ihr entgleitendes Leben zu erfüllen. Heimweh hatte sie gepackt nach der heiligen Fülle des Ganzen, in der sie einst, weniger selbstherrlich, enthalten gewesen waren. Sie waren nicht mehr demütig genug, Gott zu dienen, und sie hatten auch keinen Sinn mehr für das unendliche Ganze der Schöpfung, in der Gottes Geist Botenmächte entsendet. Unaufhörlich versuchten sie Gottes Werke zu spalten, um ihren selbstzerstörerischen Kräften darin einen Ansatz zu verschaffen. Und doch hatte einige von ihnen jetzt der Schrecken ergriffen, der den Menschen überfällt, wenn er sich vereinsamt in der Schöpfung gewahrt, ausgeschlossen - er vermag nicht zu erklären, woraus. Ja, sie wussten kaum mehr, woher sie kamen, und noch viel weniger, wohin sie gingen. Die lebendige Überlieferung war abgeschnitten; Geschlechter zerstreut, in feindliche Stände zerklüftet, von Entfernungen getrennt, die zu überwinden einstige Demut und Ausdauer und heiliges Gefühl der Verbundenheit fehlten. Zwingburgen der Entartung waren die Städte geworden und hungerten nun aus an ihrer eigenen Öde. Der große Hunger hatte Boten ins Land gesandt, Boten zurück zu den Quellen, aus denen der nun trübe Menschenstrom, der sich in die Straßen der Städte ergoss, einstmals klar gesprudelt war. Es dämmerte die Ahnung, daß die Vorzeit trotz hölzerner Pflüge tiefer gepflügt und gewisser und reicher geerntet hatte, daß sie in der Fülle gelebt, im Ganzen, daß sie im Unbewussten glücklich gewesen war und von sich stetig erneuerndem Leben erfüllt, von allem, was die Menschenkinder nun zu missen begannen. So fragten sie nun: wer waren die alten Götter, in denen das bessere Leben einst beschlossen lag, und welcher Art war das Wirken der Menschen unter ihrem Antlitz? Als wäre ihnen Christus niemals erschienen...

Wann wirst du fahren, mein Sohn? fragte ich, wie aus einem [49] hoffnungslosen Traum erwachend, und seufzte. Lange war Makari still. Ich hielt noch immer seine Hände gefasst, und für einen Augenblick war ich versucht zu glauben, er hätte an meinen Gedanken teilgehabt, als unsere Herzen zusammenschlugen und unser Blut hinter den dünnen Wänden des Fleisches dicht aneinander vorbei floss. Ich blickte zu ihm auf...

Ja, aneinander vorbei. Über mir stand er mit lächelndem Gesicht und strahlendem Blick, als sähe er schon in die kommenden Tage hinein, staunend, wie ein Kind. Ich fragte noch einmal, und er nannte mir einen nahen Tag, an dem er sich auf dem Bahnhof einzufinden hatte. Der Zug, mit dem er fahren musste, war ihm bekanntgegeben, die Anweisung auf eine Fahrkarte besaß er auch schon, in der Hauptstadt wurde er von jemandem erwartet, der sich seiner anzunehmen hatte - ein fein gesponnenes Netz sollte über ihn geworfen werden, als sei er ein aussterbendes Tier und die Rechtfertigung vieler, hoffärtiger Reden in der Hauptstadt, die da beschworen, es hätten die Erzväter unsere Sprache gesprochen und stamme die Menschheit von uns allein ab. Dunkel ahnte ich das Blendwerk, zu dem er dienen sollte, der Tor. Aber konnte ich ihn hindern? Wer schaute ein Kind an, in dem die Freude leuchtet, und wüsste sich mächtig, sie ihm zu rauben? Und risse er ihm auch aus den Händen, was es gerade hält - er risse nicht die Freude aus seiner Seele.

Ich hatte ihn nichts mehr zu fragen, ihm nichts mehr zu sagen, und dennoch ließ ich seine Hände nicht fahren. Am liebsten hätte ich ihn nicht fortgelassen. Und er stand, stand geduldig neben mir, ohne daß ich gewahren konnte, worauf er den Blick gerichtet hielt. Lächelte er noch, sah er noch staunend-verzückt in die Zukunft?

Die Wölfe sind wiedergekommen, mein Sohn, sagte ich endlich; hast du keine Furcht?

Er antwortete nicht. Ich fragte aus einer anderen Welt. Und da mit einem mal, nachdem ich mich lange gegen Gott gewehrt und ihn, meinen einzigen Sohn, nicht hatte von mir lassen wollen - da mit einem mal ergriff mich solche Verzagtheit, daß ich seine Hände sinken ließ und aufstand und ihm betrübt in die Augen sah.

Geh mit Gott, mein Kind, sprach ich, Friede sei auf deinem Wege, ich werde für dich beten, mein Teuerster!

Ich nahm ihn an der Schulter und führte ihn zur Tür. Fast war es [50] mir in diesem Augenblick leichter, nur zu wissen, daß ich ein Kind auf Erden besaß, als es bei mir zu sehen. Er ging hinaus; ohne Gruß, ohne mich noch einmal anzublicken; mit so verschwiegenen Schritten, als habe er in einem Geheimnis verweilt. Die langen Stunden danach sah ich ihn nicht mehr. Er hatte wohl als letzte seiner täglichen Bürden die Torflast zu meiner Zelle gebracht und war zurückgekehrt in die Moore, denn schon begann es auch Abend zu werden, und der Tag ging zur Neige.

Mein Gott, fragte ich, im Dämmern verweilend, welche Pläne hast du für dieses arme Leben gefasst? Was ist es, das du durch ihn offenbaren willst? Erleuchte deinen Knecht, den liebenden Vater! Herr, lass mir den einzigen! Erleuchte auch ihn und gib ihm verlorenes Vermögen zurück, auf daß er mich erkenne und noch einmal und anders: Vater... spreche zu mir. Aber nicht wie ich will, Vater, sondern wie du willst. Ich befehle uns in deine Hände, o Menschenfreund! - Bald sprach ich so, bald sprach ich anders: Nimm, Vater, ihn nicht von mir, sei barmherzig, ich flehe dich an...! Um deines eingeborenen Sohnes Willen, erbarme dich meiner!

Der frühe Abend war angebrochen, es wurde Nacht. Zwischen den Gebetsübungen, zu denen sich alle Frommen in der Kirche versammeln, saß ich allein in meiner Zelle.

Es verlieren alle Eltern ihre Kinder, sprach ich mir tröstend zu. Sieh, wie es in der Natur bestellt ist: der Wind entführt der Frucht ihren Samen und trägt ihn fort. Es ist in der Pflanze kein Fragen: wohin? Gesegnet der Wind, der den Samen trägt und der Art ihre Dauer beschert. Und sieh die Vögel unter dem Himmel: sie vermehren sich, die Eltern dienen sorgsam den Kleinen, aber sind die flügge geworden, so zerreißt das Band, und die Kleinen fliegen davon. Auf wie viele nicht wartet der Tod allerorten! Sei es zufrieden: dein Sohn lebt. Du hättest ihn unwiederbringlicher verlieren können... Noch unwiederbringlicher fragte ich; fast wollte ich, er wäre tot und im Tode geborgen. Viel schlimmer dünkte es mich, daß er, dem Leben entzogen, noch lebte, neben mir lebte! Denn ich hatte ihn schon verloren; aber nicht an den Tod - in diesem Wissen vermögen wir noch einmal Frieden zu finden, wenn der erste Schmerz gestillt ist -, sondern an etwas fast Lebensfeindliches, an eine Unnatur, in der ein anderes als des Lebens Gesetz regiert. Daß ihm [51] das Gefühl für die Zeit abhanden gekommen war, hatte ich schon gespürt und mit seinem an keine Zeit gebundenen Leben im Moor in Verbindung gebracht. Dennoch dünkte es mich jetzt tieferer Ursache zu sein. Es war mich bei seinem Anblick und seinem Verweilen in meiner Zelle die Ahnung von etwas Zeitlosem in höherem Sinne angekommen, die Ahnung von einem Wesen, das allen Lebens und Wachstums bar in die Zeit hineinragt. Ihn hatte eine ferne Zeit, die schon zur Ewigkeit erstarrt war und ein fernes Geschlecht, das in die Menschheit zurückgeflutet ist, gezeugt; weniger ein Mensch als ein Teil der Menschheit; nicht ich. Und doch rang ich um den Besitz an ihm, rang ich um etwas, das rätselhaft mein an ihm war. Vielleicht verhielt es sich so, daß ich als einer der letzten Teil an ihm hatte, Teil mit unserem ganzen Geschlecht, und daß so, wie ich um meinen Anteil in ihm rang, auch der Geist des ganzen Geschlechtes in seinem Tun und Denken um Treue warb. Treue, die er dem Geschlecht zu halten hatte, Treue ihrem heiligen Werk, Treue dem Sinn des Lebens, das die Ahnen einst geführt, Treue dem Ewigen, das sich im Kannel bewahrt, Treue endlich - das Viele zum Einen geeint -,Treue gegen Gott.

Ich betete für ihn, und mein Herz dürstete weiter. Einmal noch hörte ich seine Stimme von fern, und als ich ein andermal nach ihm fragte, sagte man mir, Makari sei in die Hauptstadt gefahren. War er mir darum ferner gerückt? Nein. Tagtäglich bekannte ich seinen Namen Gott, unserem Herrn, und bat, ihn zu schirmen. Wovor? Ich wusste es nicht. Das Gefühl, er schwebe in höchster Gefahr, wich nicht von mir. Und endlich: ich hatte mich schon zu sehr daran gewöhnt, diesen Sohn am reinsten in meinen Gedanken zu besitzen, als daß mir das Wissen, er weile noch ferner als sonst, nun mit der räumlichen Trennung das Gefühl des Voneinander-Geschiedenseins gegeben hätte. Fast mein ganzes Leben lang hatte ich ihn nicht anders besessen als jetzt. Oh, ihr glücklichen Väter dieser Erde, die euch ein anderes Band mit euren Kindern verbindet, wie gesegnet seid ihr! Wie hat sich auch meine Seele nach einfältiger, frommer Kindesliebe gesehnt, nach einem gläubigen, vertrauenden Herzen, nach einer Hand, einem ergebenen Blick! Ich musste es missen lernen; ja, war nicht gerade dies der Sinn meiner Pilgerschaft?

Er war es, aber ich war ihm untreu geworden. Anklagen und Versäumnisse spürte ich mit einem Mal überall. Makari, dem [52] Kinde, war ich die Treue schuldig geblieben, und um wie viel mehr jetzt auch Gott! Am Ende meines Lebens sah ich alles in Trümmern liegen und dauerhafter und besser noch einmal zu bauen, gab Gott mir wohl keine Zeit.

Wirf alles von dir! sprach ich zu mir selbst; trachte nach uneigennützigem Wohlgefallen und versenke dich in klügeres Tun, als womit du jetzt deine Tage füllst; folge ihm nach und verlasse die Welt, die du schon einmal verlassen hast!

Dies, sprach ich, ist nicht nach des Heilands Gebot. Ich will meinen Nächsten lieben. Doch liebe ihn uneigennütziger, sagte ich zu mir selbst, lass seinen Schatten dir nicht die Sonne verdunkeln!

Aber was wäre meine Liebe, entgegnete ich, brennte sie nicht wie ein Feuer! Und wes Inhalts wäre sie, suchte nicht ich, ihm zu helfen?

Tag um Tag und Nacht für Nacht stritt ich so. Wer weiß, wohin die Entscheidung gefallen wäre, hätte nicht Makari, der zurückkehrte, die Antwort gegeben.

ES WAR an einem grauen Morgen. Geschneit hatte es schon, da ich um die Mitternacht zum Gebet in die Kirche gegangen war und noch eben schneite es in dichten Flocken. Keine Spur vom Schritt eines Menschen lag im weiten Klosterhof. Es ging in den Vormittag hinein, aber es war dämmrig und still wie zur Nacht. Halbdunkel lag meine Zelle.

Ich hatte niemanden an meinem Fenster vorbeigehen sehen, aber plötzlich öffnete sich die Tür, und aufblickend konnte ich keinen Ton über die Lippen bringen, denn der da eintrat - war Makari. Aber war er es wirklich? Ich starrte ihn ungläubig an...

Stumm schleppt er sich auf mich zu. Vater im Himmel! denke ich bebend, ist es Makari? Noch hat er kein Wort gesprochen, keinen Blick mir geschenkt; er kommt wie ein Geist, gerufen, gebannt, ihn treibt etwas wie eine dunkle Pflicht zu mir, wie einen Mörder das Gewissen zur Stätte seiner Untat. Ist er es wirklich? Ich schlage ein Kreuz - das Böse soll weichen -,ist es Makari, der da steht?

Er schweigt. Schneeflocken, auf seine Schulter gehäuft, fallen von ihm; in seinem Haar schmilzt das Eis, ganz wie damals, be-[53]vor er in die Welt fuhr, als das Leuchten der Freude ihn einhüllte.

Noch immer habe ich nicht sprechen können, und auch aus seinem Mund kommt kein Wort. Bebend sitze ich in meinem Stuhl und starre ihn an. Fühlt er, daß ich ihn nicht erkennen kann?... Langsam, ganz langsam tritt er noch näher, und dann richten sich seine Augen zum ersten Male auf mich und gleich wieder senkt er den Blick. In diesen Augen aber las ich namenlose Angst, namenloses Unglück, Ratlosigkeit und das Bewusstsein einer Schuld, die er gekommen war, vor mir zu gestehen. Es leben Kräfte in unserer Brust, die in seltenen Augenblicken gleichsam wetterleuchtend unsere Ahnung erfüllen. Wir, die unser Leben in eine große Vereinsamung geführt haben, fernab der Wiege unserer Geschlechter, der heiligen Stätte, die etwas vom Geist des Werdens und Vergehens in sich aufgesogen hat - wie vermöchten wir uns noch in lebendiger Anschauung zu erhalten, daß ein Geschlecht auf Erden ein unverlierbares Gut ist, eine jenseitige Kraft, aber in vergänglichen Werten verkörpert. Es muss so viel Unvergängliches in jedem einzelnen Wert liegen, daß das Gut sich mehrt in den Jüngsten Tag. So trägt auch ein jeder Verantwortung vor Gott. Denn über alle Ereignisse unseres irdischen Lebens hinaus bewahren wir doch mit jedem Schritt gleichsam eine Richtung, die uns heilig sein sollte; und wie mannigfaltig die Kräfte des einzelnen sich auch zu rühren vermögen - sie zielen nie über einen Kreis hinaus, der um das Unvergängliche des Geschlechtes gezogen scheint für seine vergänglichen Glieder. Wir alle sind nur Abwandlungen des Unveränderlich-Einen, und je treuer wir ihm dienen und je reiner wir ihm zu gleichen versuchen, um so näher gelangen wir der Vollkommenheit und der Rückkehr aus der Erscheinung in den Geist des Ganzen.

Untereinander aber bindet uns ein Gelöbnis. Uns alle hat Gott auserwählt, und uns allen wohnt ein geheimes Wissen inne, einstmals Rechenschaft schuldig zu sein. Was immer wir tun, und wie widerspruchsvoll unsere Taten in sich auch sind - eins bleibt unveränderlich, und eine geheime Magnetnadel erblicken wir in unserem Gewissen: sie irrt niemals ab vom Ewig-Gleichen. Und sind auch unsere Sinne verwüstet, umnachtet oder verschollen - ein Übersinnliches bleibt, und das, glaube ich, forderte auch Makari, vor mir zu gestehen. Ich war der letzte [54] lebende Richter des Geschlechtes auf Erden, vor dem er bekannte, daß er sein Gelöbnis gebrochen.

Er hatte das Kannel verkauft.

Dieses war sein erstes Geständnis. Noch sehe ich ihn vor mir: müde, mit herabhängenden Händen, der Kraft beraubt wie eine welkende Pflanze, die, so armselig sie gewesen war, einstmals ihr Haupt frei und herrlich zum Himmel erhoben hatte. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken.

Vater..., murmelte er vor sich hin; lange schwieg er, und mit großen Pausen vollendete er das erste Bekenntnis: Ich habe das Kannel nicht mehr, Vater...

Ich vermochte nicht, etwas zu denken oder zu sagen. Das Gefühl unaussprechlicher Leere schnürte mich ein. Wir waren dahin und verloren. Verloren, ja. Soviel ich mich später auch mühte, zu denken und zu sprechen, Nützliches zu sagen und Hilfreiches - das Gefühl des Verlorenseins wich nicht von mir. Makari hatte sein köstlichstes Gut auf Erden verkauft...! Ich wagte es nicht zu fassen. Ach, ich ergriff von ihm, was meinen Händen erreichbar war, ich klammerte mich an seine Kleider, ich packte seine Hand und richtete mich mit Mühe auf. Es war, als fiele die Nacht um uns beide; so sehr verdüsterte der Morgen sich. Du hast, stammelte ich, du hast... das Kannel nicht mehr...?

Er schwieg. Nichts vermochte, ihm Antwort zu entlocken, wie sehr ich auch in ihn drängte. War er denn gekommen, um nach diesen Worten schon zu schweigen? Oh, es war ja eigentlich auch fast alles mit ihnen gesagt. Aber da ich, als mein Schreck sich seiner ersten Worte entledigt hatte, weiter in ihn drängte, mir mehr zu erzählen, das Ganze, fiel es in mich wie eine tiefe Besinnung, und es kam ein langsames Sich aufrichten nach den ersten Schlägen. Ich stand auf seine Schulter gestützt; er rührte sich nicht.

Oh, wie konntest du das tun! sprach ich nach einer Weile vor mich hin; oh, Makari, wie konntest du das tun! Als mein Vater mir das Kannel zu treuen Händen übergab, sagte er mir, es wöge dieses Weiterreichen so schwer wie die apostolische Kraft, die in unserer heiligen Kirche fortwirkt. Vermessen war es, so zu sprechen, und gewiss eine Lästerung, aber ich verstehe, was er damit hatte sagen wollen. Und als ich mein Zeichen ins Holz ritzte neben die vielen, die schon auf wieder verlöschten standen, hatte ich auch ein dunkles Gefühl, daß ich damit einen Pakt un-[55]terschrieb. Habe ich ihn gebrochen, als ich dir das Kannel schenkte, da wir uns trennten? Ich habe kein Zeichen von deiner Hand gesehen, als ich das Kannel in deiner Höhle wiederfand; hast du ihm auch keins gegeben? Es wäre dein gutes Recht gewesen. Nun freilich sieht es so aus, als hätte der, der das letzte der Zeichen ins Holz grub, es weg geschenkt, und das bin ich... Ich schwieg, indes ich bestürzt einer Einflüsterung lauschte, die mir sagte: ja, ich hätte das Kannel weg geschenkt, ich wäre der Schuldige, denn ich hätte es in seines Wertes und seiner Bedeutung unwissende Hände gelegt. Vierzehn Jahre alt war Makari gewesen, als ich es ihm übergab...

Alle meine Gedanken stockten bei dieser Stimme, ihr Flüstern verschlug mir die Sprache. Warum also klagte ich jetzt Makari an? Wie konnte ich über ihn zu Gericht sitzen, der ich selbst schuldig war?

Vater, ich habe von allem dem nichts gewusst... ?sagte da Makari leise wie im Traum. Wohl habe ich es immer meinen Schatz genannt, aber ich wusste nicht, wie...

Welche Sprache aus seinem Mund! Ich schrak zusammen und starrte ihn an, der den Blick noch immer gesenkt hielt. Was war mit ihm geschehen? Schon wollte ich ihn an mich pressen, als mich seine Stimme - so dumpf und leise wie aus einem halb verschütteten Gewölbe - abermals zögern ließ.

... Als ich aus dem Krieg kam..., das ist nun lange her, ja..., sprach er sinnend, als suchte er im Knäuel dessen, was ihm eingefallen war, den verborgenen Anfang. Damals... Er stockte und schien nicht über Schwellen treten zu können, die es, unsichtbar für mich, gab. Damals... Damals..., als ich aus dem Krieg kam... holte ich mir alle meine Sachen bei dem Bauern ab, zu dem mein Vater mich geschickt hatte..., und das Kannel, das Kannel war auch dabei, ja... Und dann... Ersetzte mehrmals an, weiterzusprechen, aber wie bei einem Stummen verzerrten sich seine Züge nur in ohnmächtiger Anstrengung gegen Fesseln, die er nicht zu sprengen vermochte.

Überdies waren meine Hände, die sich an ihn geklammert hatten, abgeglitten von ihm. Ich stand wie vor einer Offenbarung, Tränen überströmten mein Gesicht, wie das seine die Schmelzwassertropfen. Meine innigsten Gebete waren erhört! Ich zog ihn an mich und spürte dabei schon ein Zaudern bei ihm, ja gar eine Abwehr und Angst. Mein Sohn! rief ich und zog ihn trotz [56] seines Widerstrebens an meine Brust und bedeckte seine Wangen mit Küssen. Ach, die Knie trugen mich nicht mehr in meiner Schwäche!

Erkennst du deinen Vater, Makari, mein Teurer? rief ich und hob sein Angesicht zu mir auf. All mein Gefühl der Verlorenheit war geschwunden unter dem Glück, daß ich meinen Sohn wiedergefunden hatte, dem Gott ein neues Leben geschenkt. Ich hob sein Angesicht auf zu mir - und wich entsetzt zurück...

Der Schlafende, der im Traum spricht, gibt Antwort dem Frager, den er nicht sieht und nicht mit Bewusstsein hört. Es antwortet aus ihm, unbewusst, und entblößt ihn seines Geheimsten. Aber die Fragen müssen dem Klang aus dem Mund des Antwortenden gleichen, es muss sich Frage und Antwort verknüpfen, die Frage mit der Antwort fließen zu neuer Frage und neuem Geständnis. Behutsam hätte ich seinem Gedächtnis zu Hilfe kommen müssen, ihm über jene unsichtbaren Schwellen helfen und dem Geist, der sich so unsäglich zart aus dem Gefängnis des Schweigens befreite, beistehen sollen, wie ein fürsorglicher Mensch dem Küchlein, das die harten Schalen seines Eies nicht allein zu sprengen vermag. Ich aber hatte ihn mit der Stimme meiner selbstsüchtigen Liebe laut angerufen und an meine Brust gezogen, und jetzt...

Als ich sein Angesicht zu mir aufhob, war es, als sei über das Leben, das darin flüchtig gewohnt, endgültig die Decke des Schlafes, der Schleier des Unbewussten gefallen. Dunkel und unergründlich wie die Moorgewässer, die von unserem Berge aussehen, als sei in sie alles Leben zum Schlaf gebannt, sahen seine Augen mich an. Aber sahen sie mich, seinen Vater?

Oh, ich weiß, daß er mich für Augenblicke erkannt hatte, daß er, seltsam abgeschieden von den Zusammenhängen unseres Lebens, erwacht und - noch ehe er, wie in einem fremden Lande, sich umgeschaut hatte - für immer eingeschlafen war. Ich glaube nicht, daß er späterhin noch mich, seinen Vater, gewahrte, als mein Gesicht sich vor das seine drängte. Er sah da wohl nur einen Menschen, einen von allen.

Doch abermals wetterleuchtete jene übersinnliche Kraft in ihm auf, und waren auch seine Sinne schon wieder erloschen, sein Gedächtnis für mich - so nahm er doch, als lange Zeit überjenen geheimnisvollen Verwandlungen vergangen war, das Geständnis auf vor dem Richter seines Geschlechtes. Eins konnte der ihm [57] nicht mehr sagen, der Richter, was er euch, meine Brüder, jetzt gesteht: daß er in jener Stunde neben Makari trat vor den höchsten Richter, an seine Brust schlug und demütig bekannte: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich war es nicht wert, daß du in meine unwürdigen Hände das Erbe unseres Geschlechtes gelegt!

Zwei verlorene Söhne der alten, heiligen Welt, der Reue voll und der Hoffnung auf unseres himmlischen Vaters Erbarmen, weilten wir dort in der Dämmerung. Vergib mir, o Herr, die Lüge der Ruhe, die ich zu wahren trachtete; und vergib mir die Lüge der Würde, die ich mir angemaßt oder mit der mich dein reuiger Sünder und Knecht Makari begabte. Es soll der Richter weise sein und das Zerbrochene wieder richten und aufrichten. Ersehet denn, ihr Brüder, meine Armseligkeit aus Makaris letzter Erzählung und seinem ungetrösteten Ende.

DER KURIERZUG, der unser Land von Osten nach Westen durcheilt, kam herangebraust, daß Makari vor Staunen beinahe das Einsteigen vergaß, aber während er noch unschlüssig die hohen Wagenwände betrachtete, stürzte auf eine der Plattformen ein Haufen Männer und schrie nach ihm und winkte ihm zu. Oh, sie waren guter Dinge! Etliche winkten, anstatt mit der Hand, schon mit der Flasche nach ihm, und andere bliesen hinter ihrem Rücken den Dudelsack wie ein Signal der Kriegsreiterei. Zu ihnen sollte er einsteigen, sagten Makari die lachenden Schaffner, und kaum hatte er nach ihrem Geheiß die Plattform bestiegen, auf die ihn die fröhliche Bande halb hinaufzog, da fuhr der Zug an und gingen auch die Waghalsigsten in das Abteil zurück, ein Abteil für sie ganz allein; es saßen einige darin, die aus dem fernsten Ingermanland kamen und die Fahrt von Anfang bis Ende mitmachten. Es war eine lustige Reise und ein Gelage ohne Ende und Maß. Große Reden hielten die einen, die anderen waren voll Ungeduld und stürzten bei jeder Station aus dem Wagen, zu fragen, wie weit es noch wäre. Andere waren zaghaft und bereuten es fast, eingestiegen zu sein, denn bei jeder Haltestelle sagten sie wie zu sich selbst: Von hier aus sind es schon vier Stunden!, bei einer anderen: Jetzt schon ein halber Tag!, und bei der nächsten: Hotz! Jetzt, ... ich glaube, jetzt muss man schon eine Wo-[58]che dransetzen! Sie rechneten aus, wie weit der Weg bis nach Hause wäre, und je schneller der Zug fuhr, umso bekümmerter schauten sie drein. Die meisten aber waren lustig, und seitdem Makari zugestiegen war, den sie sogleich weidlich ausgeforscht, konnte es doch sein, daß auch auf ferneren Stationen noch jemand wartete, mit einem Gegenstand unter dem Arm, der ihn für sie gleich kenntlich machte; und so stürzten die meisten bei jedem Anhalten hinaus und hielten Umschau und liefen wieder hinein, sobald der Zug anfuhr, und ließen die Flasche kreisen.

Sie waren hochmütig, und sie fühlten sich geschmeichelt, aber im geheimsten wusste keiner so recht, was man eigentlich von ihm wollte: sie waren wie Kinder. Daß sie vor den anderen Menschen auffielen und die Gaffer an den Bahnhöfen der kleinen Städte lachend ihre Kleider betrachteten, die sie mit bunten Wollgarnen ausgestickt hatten, merkten sie nicht. Die meisten waren auch schon betrunken, als der Zug endlich des Abends spät in der Hauptstadt ankam, und hier verloren sie einander aus dem Sinn. Sie sahen einander ja noch immer wieder, sie schliefen auch alle auf ein und demselben Strohlager im Turnsaal einer großen Schule, aber jetzt war ein jeder mit sich beschäftigt, und die fremde Stadtwelt erforschte ein jeder für sich allein. Zum Schlaf des Nachts sahen sich nur die wenigsten. Die meisten von ihnen hatte die Stadt verschluckt, die fremdartigen Vergnügungen, das Laster, die Unzucht; sie kamen gar nicht mehr auf ihr gemeinsames Stroh. Und wenn einer von ihnen doch am helllichten Tag daher torkelte, wurde er vom Diener der Schule hinausgewiesen und schlief irgendwo in einer Spelunke seinen schweren Rausch aus.

Das wurde anders, als sie jeder einen „Paten“ bekamen, ihren Führer, und ihre Arbeit leisten sollten. Sie wurden kurz gehalten und in ihrem Tun und Treiben bewacht. Es musste auch ein jeder vorspielen und singen, was er konnte, und die Lieder wurden aufgeschrieben und auf ein Programm gesetzt. Zwei Abende lang hatten sie in einem großen Saal vor vielen Menschen und dem Präsidenten oder Kaiser und seinen Ministern selbst vorzuspielen und wurden streng ermahnt, nüchtern zu sein und sauber. Am Tage zeigten ihnen die Paten die Hauptstadt und versuchten, sie über alles zu belehren. Gar nicht zu sagen, was alles in diesen Tagen auf sie einstürmte, und die beiden Abende im großen Saal, in dem sie singen und spielen sollten, waren auch [59] nicht so leicht zu bestehen. Die meisten von ihnen tranken sich vorher doch ein wenig Mut an, aber mit Maßen, so daß er nicht zum Übermut wurde; es wäre eine lange Geschichte, würde von jedem einzelnen berichtet, wie seine Tage dort geendet haben.

Das Gefängnis nahm einige von ihnen für kürzere Zeit auf, weil sie im Rausch zu den Messern gegriffen hatten; andere das Laster, in dem sie tiefer und tiefer sanken; die Dudelsackbläser wurden Spielleute in einem Nachtwirtshaus, aus dem sie, als man ihrer überdrüssig war, in die Bettelhöfe wanderten; die wenigsten kamen zurück, einige erst nach Jahren, und von den wenigen - wer weiß, wie viele mit heiler Seele, ihr Horn oder die Fiedel oder die Flöte unter dem Arm.

Die größte Aufmerksamkeit bei den Menschen der Stadt erregte Makari. Nach den beiden Abenden, da er mit allen anderen im großen Saal seine Kunst gezeigt, führte ihn sein Begleiter zu immer neuen Menschen in der Stadt, und alle stellten sie ihm mit Fragen nach. Was er erzählte - sie schrieben es also gleich auf, aber er erzählte ihnen längst nicht genug. So führten sie ihn dann in ein seltsames Haus, in dem es wie in einer Werkstatt aussah, und dort hießen sie ihn, in einen Trichter zu singen und zu spielen, was er nur widerwillig tat; und kaum hatte er diese Pflicht erfüllt, da spielten sie ihm, was er eben gesungen, auf flachen Scheiben zum Spaß gleich vor, damit er sich auch selbst einmal höre.

Was Wunder, wenn ob solch schwarzer Künste seine Seele nicht aus dem Staunen geriet! Alle Lieder, die er kannte, musste er ihnen vorsingen; die meisten in den Trichter, indes sie daneben saßen und sorgsam die Worte aufschrieben und dünne Linien mit Punkten füllten; bei jedem Lied musste er erzählen, was er darüber wusste. Er wusste nichts. Sie forschten ihn nach seinem Leben aus und waren erstaunt bei allem, was sie zu hören bekamen. Und endlich fragte ein Magister, der sich seiner sonderlich angenommen hatte, ob er ihm nicht sein Kannel verkaufen wolle. Nein! sprach Makari. - Aber er könnte sich doch ein neues schnitzen - Niemals! entgegnete ihm Makari. Da ließ der andere von ihm ab. Nun aber, sagte er, nun sei die Arbeit getan, und es müsse das Vergnügen beginnen; ob er nicht mit ihm frühstücken wollte? Darauf ging Makari ein. Es war am letzten Tag seines Aufenthaltes in der Stadt. Man hatte ihnen allen Geld [60] gegeben am zweiten der Abende und die Anweisung auf eine Fahrkarte für die Eisenbahn. Sein Zug, sagte der Magister, ginge erst am Nachmittag und in der Nacht wäre er bei unserer Station; aber die Wanderung in der Finsternis bis nach Haus sei ja wohl für ihn ein leichtes. So ging denn Makari mit dem Magister zum Frühstück. Der Fremde war ein tüchtiger Zecher und ließ auch den Gast nicht darben. Soviel er nur erfahren konnte, forschte er Makari aus; über das Kannel schien er noch längst nicht genug zu wissen; und unaufhörlich trank er ihm zu. Das geschah in einem kleinen Wirtshaus, dicht vor dem Bahnhof, und als sie mit dem Imbiss fertig geworden, aber die Zeit bis zum Abgang des Zuges noch lang war, schlenderten sie abermals in die Stadt hinein, Makari mit seinem Kannel unter dem Arm, nicht mehr ganz sicheren Schrittes.

Die seltsamsten Geschäfte gab es auf ihrem Weg, und vor jedem Laden hielten sie an, die ausgestellten Waren zu betrachten. So kamen sie auch zu einem prächtigen Geschäft, in dessen beiden Fenstern es vor Gold und Silber nur so funkelte; und es war kein Schmuckwarenhändler, der hier seine Sachen feilhielt, wie Makari anfangs dachte, sondern ein Mann, der Musikinstrumente verkaufte! Sie lagen da in den Fenstern, geschwungen und gekrümmt, gedreht und gedrechselt, unglaubliche Wunder aus Gold und Silber. Gar nicht auszudenken, was für Töne aus ihnen herausgelockt werden konnten! Der Magister nun, der ward nicht müde, Makari diese Wunder auszumalen, aber Töne muss man ja hören, denn auch der beste Nachahmer gibt keine rechte Vorstellung vom Klang.

Ich kenne den Mann, der die Dinger verkauft, sagte da mit einem Male der Fremde, und unversehens standen sie auch schon im Laden, der so groß war, daß kleine Häuschen in ihm Platz gefunden hatten, und aus jedem der erleuchteten Häuschen klang gedämpfte Musik.

War es nun eine Folge des überreichlich genossenen Branntweins, der Makari jetzt nach dem Weg durch die frische Luft und dem Eintritt in den halbdunkeln, märchenhaften Laden zu Kopf stieg - oder mehr die Verwirrung durch das Fremde, das unaufhörlich mit dem Staunen über Wunderbares und Rätselhaftes auf ihn eindrang - nur wie durch einen Schleier entsann er sich, daß der fremde Magister ihm etwas auf dem merkwürdigsten aller Instrumente vorgeblasen hatte. Es war aus Silber, dieses [61] Instrument, und hatte eine Form, als sei es mutwillig verbogen worden, aber es gleißte und glänzte unvorstellbar schön, Klappen und Hebel besaß es, wie ein Tausendfüßler Beinchen. Und die Töne, die ihm der Fremde entlockte! So etwas Lustiges und Lächerliches hatte Makari noch nie gehört. Es blökte wie ein Schäfchen, dann wieder kamen seine Töne wie mit dem warmen Atem einer Kuh, es konnte gar lachen und kichern und rührselig flennen und sanft vor sich hin dudeln.

Sein Ja auf die mutwillig-anmaßende Frage des Fremden, ob ihm denn dieses wunderbare Instrument aus Silber nicht sein hölzernes Kannel wert sei, hörte Makari wie ein Echo. Und er verstand später nicht mehr, daß es das Echo seiner eigenen Stimme gewesen war...

Was dann noch mit ihm in der Stadt geschah, wusste er nicht recht. Ja, irgendwo hatte er geschlafen, mit dem silbernen Ding im Arm, sehr froh über den Tausch; dann war er mit dem Fremden in einer Kutsche gefahren und endlich neuerlich eingeschlafen in einem ununterbrochenen Rollen... Dunkel war es, als er erwachte und langsam begriff, daß er in der Eisenbahn auf einer Bank lag; so langsam er dies begriff, ging ihm auch manches andere auf, aber immer wie unter Schleiern verborgen. Das silberne Instrument lag unter seinem Kopf, in einem vortrefflich angemessenen Kasten, und als er den bei sich sah, war er ganz zufrieden. Wach lag er schon, als ein Schaffner kam und ihn knuffte, bei der nächsten Station müsste er raus.

Ob es die Station war, wusste er nicht: er stieg aus, als der Zug anhielt. Ja, dort, wo er stand, brannten auch ein paar Lampen, aber wie kümmerlich nahmen sich die nach dem Lichterglanz der Stadt aus!

Die Fahrt war, während er geschlafen hatte, so schnell vergangen, daß er sich jetzt erst fassen musste und vertraut machen mit der alten Welt. Er stand und stand, seinen Kasten unter dem Arm, und war sich selbst damit ein wenig fremd. Im Dunkel eilten die Schaffner umher und schwenkten ihre Laternen, auch ein paar Bedienstete der Station; einer pfiff, einige kletterten schnell in die Wagen und dann fuhr der Zug ab mit Donnern und Rollen und sprühenden Funken auf dem eisernen Strang.

Sogleich war es still. Das rote Licht am letzten Wagen verglühte in der Nacht. Und Makari stand noch immer, wohin er gestiegen war. Kein Mensch war zu sehen. Es schien, als löschte der [62] Wind die wenigen Laternen rundum. Und da mit einem Mal spürte er, wie bitterlich kalt die Nacht war. Er machte, daß er fortkam, überquerte die Geleise und fand auch sofort die Landstraße mit ihren Spuren von Schlitten und Pferden. Mit denen als Richtmarke schritt er kräftig aus. Wie lange, das wusste er nicht. Ein unbezähmbares Verlangen danach, sich zu setzen, ließ ihn die nächste Schneewehe erwählen. Weit und breit war es dunkel; kein Gesinde in der Nähe und der Bahnhof schon fern und das letzte Licht in ihm wieder verlöscht. Über ihm summte eine Telegraphenlinie, die das Land durchquerte; wohin, das wusste Makari nicht. Vielleicht sind die letzten Gesinde schon hinter mir, dachte er; es steht wirklich vom Kloster an kein Haus mehr bis zu den wenigen Höfen, die schon dicht an der Eisenbahn liegen. Er begann schläfrig zu werden und streckte sich eben aus, als ihn die Angst vor dem Erfrieren durchzuckte und sofort wieder munter werden ließ. Damit er etwas höre, schlug er seine Stiefel zusammen; das konnte ihm auch die Füße wärmen. Und die ganze Zeit über war ihm, als müsste er sich auf etwas besinnen, nur fiel ihm nicht ein, was es war. Die Folgen der Trunkenheit ekelten ihn; er war seiner selbst Leid, wie niemals zuvor. Ach, ich.., ich..., dachte er, als er seine Glieder zusammensuchte und von neuem zu wandern begann.

Langsam ging es damit. Der Weg war schlecht, und ihm war so traurig zumute. Stunde um Stunde verging, und er war auf den Beinen. Längst war er von der Landstraße abgebogen und hatte den Weg ins Moor eingeschlagen, der nur zu ahnen war im Dunkel der Nacht. Der Schnee wurde tiefer. Wenn sich zur Rechten und zur Linken das Land ein wenig erhob, war der Weg so verweht, daß Makari die Hänge erklettern und über die Felder wandern musste. Auszuruhen fürchtete er sich, denn er war zum Umfallen müde, müde wie nach dem schwersten Tagewerk nicht, und Einschlafen bedeutete jetzt den Tod. Und doch gab es nichts Einschläfernderes als das Dunkel der Nacht, das Holpern seiner Schritte auf der gefrorenen und bloß gewehten Erde, dem er lauschte, und das Singen des wandernden Schnees, der aus jedem seiner Fußstapfen sprühte.

Ich will mich doch ein wenig ausruhen, dachte er, als der Weg an einer sanften Halde entlang führte, auf die auch kein Lüftchen sprang - aber nein, er wanderte weiter. Die Nacht war noch lang, und er wollte nicht mehr als eine Rast wagen. So kam er an [63] den Anfang des Moores. Und fast war es nicht die Müdigkeit, die ihn hier wie an den Schultern zu Boden drückte, sondern seine Traurigkeit. Er war traurig; warum? Er wusste es selbst nicht und hätte sich auf jener Wanderung auch kaum danach gefragt. Es kroch nur etwas in ihm zusammen und bangte und wagte nicht aufzublicken; so, wie er auch auf der Rast den Kopf zwischen die Schultern einzog und nicht vor sich hin blicken mochte. Er war ganz allein in der Nacht, zum ersten Male in seinem Leben. Rund um ihn zischte der Schnee und knarrten vereiste Bäumchen im Frost; über ihm blitzten die Sterne hinter einem milchigen Schleier, sehr fern voraus war seine Hütte, und hinter ihm lag die Station in ihrem winddurchwehten Dunkel, schliefen die Bahnbediensteten neben ihren Laternen, fuhr der Zug durch die Nacht. Und weiter noch, in der Ferne, prunkte die Hauptstadt mit Lichtern und Bahnen und Wirtshäusern, mit Schlössern und Kirchen und Menschen, ob bei Tag oder bei Nacht; glitzernde Perlensäume waren ihre Straßen am Meer, Schiffe zogen auf sie zu, und Schiffe fuhren von ihr aus... Ach, daß dies alles war und nicht voneinander wusste, machte ihn traurig; traurig, daß er selbst darin enthalten war und niemand ihm einen Gedanken schenkte.

Er war eben am Einschlafen, als ihm der Kasten mit dem silbernen Instrument entglitt. Das weckte ihn auf. Ach, dachte er erleichtert und rieb sich die Hände, ich will versuchen, ob auch ich blasen kann, das wird mich munter machen! Es soll sich zwar nicht gut in der Kälte blasen, aber ein paar Töne wird das Ding immerhin geben! Nur war das Öffnen des Kastens nicht leicht; nicht wie bei dem Sack, den er seinem Kannel geflochten: er zog an der Schnur und griff hinein - sondern hier gab es vornehme stählerne Haken und Knöpfe, die man im Finstern nicht so schnell fand. Die Suche aber ermunterte ihn, und so war auch das zum Nutzen, und endlich sprang der Deckel wie im Versehen auf, und zwischen dem dunkeln Tuch, damit der Kasten ausgeschlagen war, glitzerte und gleißte es wie das Allerheiligste... Nur betörte das Makari nicht mehr wie ehemals im Laden der Hauptstadt. Das Ding war fremd und in seinen etwas frostklammen Fingern so ungebärdig, als wollte es ihm aus den Händen springen. Ja, als er es da zum Munde führte, war es eigentlich wie etwas Bösartiges und Unheimliches; es schauderte ihn fast vor dem kalten Metall, das in der Kälte sogleich wie Höllenpech [64] an seinen Fingern zu kleben schien. Aber er schöpfte Luft, halb zornig; mochte es doch seine Stimme geben!

Er blies hinein und setzte es schnell wieder ab, obschon es ihm die Lippen wund riss. Was für ein Ton...! Es klang, als hätte ein Geißbock gelacht; ein Heulen war das, wie ein abtrünniger Seufzer des Bösen. Er sah sich ängstlich um, als könnte ihn jemand gehört haben; er schämte sich sogar vor der Nacht. Hatte er das in der Stadt gehört und dagegen den stillen Klang des Kannels getauscht?

Er rieb sich die Ohren, setzte das glitzernde Ding abermals an die schmerzenden Lippen und blies, ob ihm auch die Ohren wehtaten; und dann legte er es hastig wieder in den Kasten, schlug den Deckel zu und sprang auf. Ich werde es nie wieder anrühren! dachte er ganz benommen, denn seine Ohren gellten noch von dem abscheulichen Geschrei und Gejohle.

Wieder musste er Umschau halten. Dies wird die Richtung sein! dachte er, als er sich anschickte, weiterzugehen, und durchforschte die Finsternis, in der er doch nichts sah - nichts als zwei glimmende Punkte vor ihm, zwei zur Linken, zur Rechten abermals zwei und zwischen ihnen krochen knurrende Schatten entlang...

Unzählige Male zuvor hatte Makari den Wölfen getrotzt und war Herr und Meister geworden über ihren Blutdurst, denn er hatte etwas, das sie seine Nähe scheuen ließ wie das Feuer. In Wahrheit - hatte er es gehabt. Denn als er jetzt, die Zähne zusammenbeißend, den Kasten mit dem silbernen Instrument an seine Brust presste, entrang sich ihm im nächsten Augenblick ein Stöhnen. Seine Hände wurden schwach, und der Kasten fiel in den Schnee: dumpf und weich, ohne ein Klingen, ohne das Raunen der Saiten, ihr Flüstern und Lispeln wie im Schlaf oder im Träumen. Mit wehrlosen Händen stand er da allein in der Nacht, umkreist von den Schatten, näher und immer näher gierig betrachtet aus glühenden Augen. Ihm stieg auf einmal ein Heißes in den Blick, der forschend die Nacht zu durchdringen und keinen der Schatten zu verlieren suchte, und in ohnmächtigen Entsetzen gab er sich zum ersten Male verloren. Kein Wolf hatte sich in die Nähe seiner Hütte am Kaldama-Bach gewagt, wenn das Kannel erklang. Und jetzt... Er trat auf den dumpf hallenden Kasten und drehte und wandte sich unausgesetzt, um keinen der Feinde unbemerkt nahen zu lassen.

[65]Er hatte ein Messer! Er hatte es doch?... Einen Augenblick lang fürchtete er, es nicht bei sich oder verloren zu haben, aber nein, es stak in seinem Gurt. Und als er das hervorzog und blank zwischen die Zahne nahm, daß der Stahl nicht die Lippen berühre, klapperte etwas in seiner Tasche. Zündhölzer lagen darin! In der Windeseile, mit der er die Griffe nach Messer und Zündhölzern tat, schöpfte er frischen Mut. Er konnte wenigstens Stück um Stück verbrennen: die Fäustlinge zuerst, dann das Sacktuch, die Bluse - alles, bis auf den Pelz. Der zum mindesten musste ihm bleiben, wenn er nicht erfrieren wollte.

Wie ein Soldat vor der Feldschlacht, legte er seine Waffen bereit. Mochten sie näherkommen! Noch war es zu weit, um sie mit Feuer zu scheuchen, noch waren die Waffen zu kostbar. Sein Blick wanderte wachsam in die Runde. Er sprang auf der Stelle und lief hin und wieder ein paar Schritte zur Seite, wenn er meinte, dort besseren Stand zu haben. Er versuchte sich warm zu halten und klemmte die Zündhölzer so in die Schachtel, daß er nur eilends ein paar davon anzureißen brauchte; und über den Schnee und die darauf schweifenden Schatten erhob sich sein irrender Blick in den Himmel, die ersten Zeichen des Morgens zu suchen. Überdem aber hatten sich die Sterne verhüllt, und allmählich begann es zu schneien... Da fing die mit den Augen nun vollends undurchdringbare Finsternis von allen Seiten her an, leise zu knurren... Er hielt es nicht mehr aus, riss ein paar Zündhölzer an und steckte einen Fäustling in Brand. Wartend, bis die Flamme größer und heller geworden war - ob sie auch seine Finger versengte -, ergriff er die Lohe und trug sie wie ein Besessener mit wilden Sprüngen und Schwüngen in der Nacht umher. Dicht vor ihm floh aufkreischend ein Schatten, und im Nu hatte er sich zurückgeworfen und raste mit dem schon die Hand verbrennenden Feuer ins Dunkel, das ihm noch eben im Rücken gestanden, das Messer zu jedem Kampf bereit zwischen den Zähnen.

Bar und blank war die Erde, auf die er sprang: keine Wurzel, kein Bäumchen bot sich als Nahrung für ein Feuer, und im weiteren Umkreis zu suchen, war es zu dunkel. Das Messer blieb ihm zum letzten Versuch einer Rettung.

Aber es war seltsam, zu wie vielen Gedanken der Kampf ihm noch Zeit ließ. Vielen? Es war immer ein und derselbe Gedanke, den er in seinen Nöten gleichsam von den vielen Seiten her [66] dachte: er hatte das Kannel verloren, und sein Friede war dahin, seine Kraft, seine Macht über das wilde Getier, die er ehedem, als felsenfestes Vertrauen gespürt, fast nur als Liebe zum Kannel. Ihm war jetzt, als sei er abtrünnig geworden, als hätte er sein Leben mitverkauft, und die Reue überwältigte ihn so, daß er lange Zeit, ohne sich zu wehren, die Meute näher und näher kommen ließ, bis er, wieder gepackt von einer wilden Gier zu leben, ein ganzes Bündel Zündhölzer anriss und ihnen entgegenwarf.

Danach hatte er einige Zeit lang Ruhe. Die Wölfe hockten irgendwo vor ihm beisammen und heulten und knurrten; es klang, als klagten sie ihn für seinen hartnäckigen Widerstand an.

In dieser Zeit, ehe sie den Ansturm mit der Witterung für den Morgen heftiger denn je erneuten, saß Makari gedankenverloren im Schnee, der ihn tiefer und immer tiefer begrub. Gewiss hat das Geblök aus dem silbernen Teufelsdreck des Magisters sie hergerufen, dachte er, wie konnte ich auch nur das Kannel weggeben! Warum tat ich das? Mein Vater gab es mir, als ich jung war; es ist seit ältesten Zeiten bei unserem Geschlecht...

Eine wundersame Helligkeit erfüllte ihn. Es fiel wie Schuppen von seinen Augen, unbeschreiblich weit tat sich etwas in ihm auf; zum ersten Mal, dünkte ihn, und doch war ihm, als hätte er schon einmal darin verweilt. Mein Vater gab es mir doch..., murmelte er vor sich hin. Die Tränen stürzten ihm in die Augen, es würgte ihn vom Schluchzen, er sprang auf - in vieler Bedeutung: wie aus dem Schlaf -, hier in der finsteren Nacht wurde sein Leben mit einem Mal so unermesslich weit, fühlte er, er war auferstanden, wie aus dem Grabe... Seine in der Wildnis des Moores geschärften Sinne handelten dann für ihn, der noch in die innere Welt verirrt war, als er neue Zündhölzer in den zweiten Fäustling anriss und den noch zeitig genug zum Brennen bekam, um einer Woge geduckter Leiber schreiend entgegen zu stürzen...!

Barhäuptig war er längst, sein Pelz lag im Schnee, er hatte sich vom Leibe gerissen, was seinen Fäusten nachgab, als der Morgen anbrach. Und noch im grauenden Tag sprang er keuchend umher: eine belagerte Festung, die Sturm auf Sturm erduldet hatte im Dunkel. Mit dem Morgen wurden die Wölfe scheuer. Nur [67] einer von ihnen stand unaufhörlich bleckend und knurrend da und maß den Stand des Menschen. Das war ein Untier, das man noch niemals hatte zur Strecke bringen können, obgleich es all-winterlich hauste. „Der graue Alte“ nannten es die Leute und erzählten sich schaudernd, es sei der Herrscher des Roten Reiches selbst, der, zum Werwolf verwandelt, die Christenheit jenseits der Grenze seines abtrünnigen Landes heimsuchen wollte. Er war der letzte auf dem Plan gegen Makari, und dann war die Festung befreit.

Einen jungen Baum in den Fäusten, den er eilends gebrochen, schleppte Makari sich durch den schneeverhangenen Morgen in die Höhle am Kaldama-Bach. Tag und Nacht schlief er wie ein Toter, und als er aufwachte, zitterten seine von vielen Brandblasen bedeckten Hände und fuhren ungelenk hierher und dorthin, als müsste er noch immer Flammen um sich werfen. Als er nach neuem Schlaf abermals erwachte, war ihm, als hätte er wie im Traum einmal in unendlicher Klarheit und Weite verweilt, in einem himmlischen Licht, dessen Widerschein bis in diese Stunde noch immer nicht verblasst war. Sein Gedächtnis reichte bis zu dem Tag, da er mit den fröhlichen Kumpanen in die Hauptstadt gefahren war, aber an die Geschehnisse dort in den letzten Stunden vermochte er sich nur undeutlich zu erinnern. Auf dem Weg der Träume vor dem Erfrieren, bevor ihn der Angriff der Wölfe aufschreckte, hatte er von seinem Vater gehört, durch eine liebliche Stimme voll Klarheit und Licht, wie sie in den Träumen des weißen Todes spricht; vom Vater... Ja, Vater..., murmelte er verloren am Ende seiner Erzählung und wandte sich ab.

Die Stunde war umwoben von Träumen, erfüllt von doppelter Wirklichkeit, beschattet vom Schlaf; es wusste wohl keiner von uns, welches Leben ihn trug. Geist und Gestalt waren verwirrt, die Erscheinung trog, das Unsichtbare war so gegenwärtig wie wir, zwei Menschen von Fleisch und Blut. Das Schweigen des dunkeln Tages schien der Vergangenheit Zeuge zu sein. In Gottes Hand atmeten wir beide.

Mein Sohn..., sagte ich leise und legte ihm meine Hand auf die Schulter. Mehr wusste ich nicht zu sagen. Sie kommen! murmelte er, sie kommen jedes Mal! Ich spiele, ich blase auf dem höllischen Silber, ich kann es nicht lassen, ich weiß nicht, warum. Ich liege da und johle und leide dabei und sage mir, daß [68] dies gerecht ist. Und wenn ich innehalte...? Sie sind da! keuchte er, wie lauschend, und starrte zum Fenster, sie sind gekommen, es hat sie gelockt! Ich höre sie schleichen und kratzen über mir. Ich möchte die Tür aufreißen vor ihrem Rachen, da bin ich! sagen - aber ich lasse sie noch eine Weile scharren und ihnen das Wasser im Maul zusammenlaufen. Ich komme ja doch, und das Silber sollen sie zuerst fressen oder darauf blasen, wenn sie es verstehen... Ich will es nicht mehr!

Er drehte sich hastig zu mir herum, als hätte ich es ihm zugemutet, und starrte mich aus flackernden Augen an, lange, unbarmherzig lange. Und je länger sein Blick auf mir verweilte, umso tiefer veränderte sich der Ausdruck seines Gesichtes. Etwas wie die Ruhe des Schlafes glitt wieder hinein, eine Glätte und Lösung - aber ihr war kein Ende gesetzt, so beschwörend ich auch seine Hand ergriff, ihn am Einschlafen zu hindern. Vor meinen Augen verfiel sein Antlitz. Es nahm den Ausdruck der Totenstarre an, der Erloschenheit, und wurde darin zum Schrecken. Der Schlaf kam über ihn und verwandelte ihn nach jenem kurzen Aufleuchten der Gedächtniskraft und eines übersinnlichen Erkennens wieder zum lebendigen Toten.

Makari, sagte ich, und es war dieser Plan meine größte Hoffnung, ich werde für dich in die Hauptstadt fahren und danach trachten, das Kannel zurückzubekommen. Bleibe du derweilen hier, und kehre erst wieder ins Moor zurück, wenn ich dir das Kannel gebracht habe!

Er starrte mich an, daß es mir vorkam, als habe er mich gar nicht verstanden. Noch einmal und eindringlicher gestand ich ihm mein Vorhaben, und während ich sprach, merkte ich, daß sein Verstand sich mühte, gegenwärtig zu sein. Es zuckte in seinem Gesicht von Qualen der Anstrengung; es war, als wollte er Fesseln zerreißen, um die Welt aus der meine Stimme zu ihm klang, zu erreichen.

Vergeblich. Er machte zuletzt eine Gebärde: so hilflos und alles verloren gehend, daß mir die Brust zu eng ward. Ihm war das Kannel für ewig dahin. Und ich glaube: auch wenn er es wirklich wiederbekommen - es wäre für ihn verloren gewesen. Jene übersinnliche Kraft, die ich in ihm so oft am Wirken gespürt, sagte ihm deutlich, daß der Geist des Geschlechtes, der Geist Gottes zurückgekehrt war in die Heimat der Sphären. Er schickte sich an, zur Tür zu gehen, aber ich vertrat ihm den Weg. [69] Bleibe, mein Teurer! flehte ich ihn an, bleibe bei deinem Vater! Makari, Söhnchen...! Ich hing an seinem Hals und rief ihm die zärtlichsten Namen zu, die so frisch in meinem Gedächtnis hafteten, als hätte ich sie erst gestern das letzte Mal gesprochen. - Er aber löst meinen Arm von seinem Hals und blickt mich nur stumm an. Für Sekunden steht ein Lächeln auf seinem Gesicht, Lächeln, aus dem ich schon die Erfüllung meiner Wünsche lese und die abermalige Rückkehr seiner Erinnerung, und dann öffnet er, mit dem Arm mir wehrend, die Tür und geht. Ich schleppe mich, vor das Bild des Erlösers und bete...

Ich betete Tag und Nacht, Tage und Nächte; ihr wisst, geliebte Brüder, daß ihr, von der Kunde gerufen, zu mir kamt, um dieses Gebet über Tag und Nacht und die Gebote der Notdurft als Zeichen meiner Auserwähltheit vor Gott zu ehren. Oh, hättet ihr gewußt, welche Not und Drangsal des Herzens das Gesetz der Kreatur in mir zum Schweigen gebracht! Oh, hättet ihr die Selbstsucht meiner Gebete, in denen mein Fleisch gestorben war, erkannt - ihr wäret mit Schaudern geflohen!

Ich rang mit dem Höchsten, und er besiegte mich. Alle die Lähmungen, die meine Liebe zu meinem Sohn in seine Unnahbarkeit schrie, sie seien euch besser verschwiegen. Der Herr, der Höchste, er hat sie gehört. Und als er nach jenem Kampf von mir abließ, geschah es nur, um mich durch euch seinen harten Sieg wissen zu lassen.

Es hatten Männer im Moor Makaris Gebeine gefunden. Er war Opfer der Wölfe geworden, oder er hatte sich ihnen selbst hingeworfen, da ihn sein Leben leer dünkte ohne das Kannel, das er verschenkt hatte. „Denn wo dein Schatz ist, da ist dein Herz“, spricht der Herr, der Erbarmer.

SCHAPER, Edzard: Das Lied der Väter. In: Geschichten aus vielen Leben - Sämtliche Erzählungen. Zürich 1977, 9-69.