Der grosse, offenbare Tag

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WIR WAREN noch nicht weit gekommen, als Pitirim das erste Zeichen des Lebens von sich gab. Und hatten wir vor dem geglaubt, daß er alles Wasser von sich gegeben hätte, das er geschluckt, so wurden wir eines anderen belehrt. Das Schütteln und Rumpeln des Bootes, das wir abwechselnd vor uns herschoben, hatte dieses heilsame Erbrechen gefördert. Wir mussten Halt machen und ihn versorgen und ihm trockene Kleider anziehen. Wir konnten sie uns nur selber vom Leibe ziehen, denn unser Vorrat war dahin. Abermals einige Stunden, und er gab ein kaum hörbares Stöhnen von sich. Wir hätten ohnehin rasten müssen, denn es war um die Mittagszeit, und taten das jetzt. Dabei flößten wir ihm zum ersten Mal ein Getränk ein. Noch aber hatte keiner von uns seine Augen offen gesehen. Wir kürzten die Rast für uns ab, ohne auch nur mit einem einzigen Wort übereingekommen zu sein. Wir hatten den gleichen Gedanken: so schnell wie nur möglich nach Hause zu kommen. Wenn wir stehen blieben, geschah es nur, um die Boote ins Wasser zu schieben oder sie aus dem Wasser aufs Eis hinaufzuziehen, oder um Pitirims Hände zu befühlen, die Stirn - uns zu vergewissern, daß wir nicht einen Toten vor uns herschoben. Nein, das taten wir nicht. Er lebte. Aber dieses Leben wurde von einer Heftigkeit, die uns noch mehr erschreckte als die vermeintliche Leblosigkeit früher. Mit jeder Stunde schien uns sein Körper wärmer zu werden, und nichts war willkommener. Aber als die Lippen nicht mehr blau waren, sondern rot, öffnete sich der Mund zu keuchenden Atemstößen, das Kinn fiel hinunter wie bei einem Sterbenden, die Zähne bleckten entblößt, aus der Tiefe der Brust stieg ein Stöhnen und Gurgeln, das immer hohler und rasselnder klang. Man konnte es jagen nennen, was wir taten. Schneller als wir konnten Menschen, die ein schweres Boot vor sich herschoben, einfach nicht das Eis überqueren. Einmal brach ich ein, wollte mich bäuchlings nach vorn werfen, aber das Boot schnellte unter mir weg, und ich hing, an dem sich neigenden Bord klimmend, im Wasser, das mir bis an die Hüften reichte, bis Makari mich eingeholt hatte und mich befreite. Da waren meine [116] Füße und Beine auch schon so starr wie aus Holz. Und dann holte die Nacht uns ein.

Wir waren vor ihr weg gerannt, so weit wir vermochten - in Wirklichkeit ihrer Feste im Osten entgegen -; aber dann umschlang uns der Mantel ihrer Finsternis doch. Als wir Wasser von Eis nicht mehr zu unterscheiden vermochten, mussten wir stehen bleiben. Und nun wussten wir nicht: war es eine große, oder war es eine kleine Scholle? Würde sie sich während der Nacht spalten? Würde sie von einer anderen bezwungen und unter das Wasser gedrückt werden? Nichts wussten wir. Wir hatten es zu spät werden lassen, als daß wir hätten wählen können, wo wir den Morgen abwarten wollten. Das einzige, was uns übrig blieb, war: daß wir die Boote miteinander vertäuten, damit sie unter keinen Umständen getrennt werden konnten, und uns nebeneinander in einem von ihnen ausstreckten, unter einer Decke. Das taten wir auch. Aber keiner von uns wusste, wann er schlief und wann er auf den keuchenden, röchelnden Atem aus dem anderen Boot lauschte. Und dies war die längste Nacht meines Lebens. Ich war so müde, daß ich nicht dachte, nicht betete. Ich lebte nur mit den Ohren: lauschend, und mit den Augen: suchend, wann endlich das Dunkel sich lichten würde. Und endlich, endlich wurden sie mit dem leisesten Grau, das sich einschlich und den ebenmäßigen Mantel der Finsternis faltete, daß die Eisschollen und die Waken sich voneinander schieden, belohnt. Da brachen wir auf. Als es hell geworden war, grüßte uns der Saum der Wälder am Ufer und gab uns neue Kraft. Sprechen miteinander - das taten wir längst nicht mehr. Der dritte sprach für uns, im Fieberwahn. Ungeformt und unbegreiflich, aber es war eine Zunge, bei der uns das Entsetzen überrieselte. Bald die einer ringenden Menschenseele, bald das Geheul einer Meute von Dämonen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, daß die Knöchel weiß durch die Haut schimmerten, und hämmerten rastlos die Luft, während der Schaum ihm blasig um die Lippen stand. Und dieses Angesicht stundenlang vor Augen, diese Fäuste stundenlang gegen uns geballt, diese Reden stundenlang gegen unsere Ohren gehalten - ohnmächtiger als ohnmächtig eilten wir dem Ufer entgegen.

Am späten Vormittag langten wir an. Wie die Träumenden. Man hatte uns schon geraume Zeit kommen sehen, und alles, was Beine hatte, war unten am Strand zusammengelaufen. Über [117] unsere Sinne war ein barmherziger Schleier gebreitet. Mein Weib stürzte mir entgegen und schloss mich in die Arme, das weiß ich noch. Ich sagte zu ihr: Nimm ihn auf als deinen Sohn!

Die Meinen traten auf mich zu. Sie schüttelten mir die Hände, sie küssten mir die Hand, sie fragten aufgeregt durcheinander - ich aber bin wie taub, ich nehme Makari beim Arm. Wir wollen gehen, man soll Pitirim hinauftragen. Jemand sagt, man solle die Ambulanzbahre aus der Kinderkrippe des Ortssowjets holen. Oder die Totenbahre, das ist näher! ruft ein anderer, aber ich schüttle den Kopf und wehre ab, nein, nein, und da eilen ein paar Beherzte zum nächsten Schuppen, heben eine Tür aus den Angeln und kommen mit der als Bahre zurück.

Nimm ihn auf als deinen Sohn! sage ich noch einmal zu meinem Weibe, und sie nickt mir mit von Tränen der Freude verklärten Augen zu.

Wir gehen, Makari und ich.

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