Der grosse, offenbare Tag

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WIEWOHL DIE Neuankömmlinge in den folgenden Tagen und Wochen ebenso willenlose Insassen des Pferches waren wie wir anderen auch und vor einer Schar von gleichbleibend freundlich und verlegen lächelnden Beamten Rede und Antwort stehen mussten über alles, was sich in ihrem Leben zugetragen hatte, vor dem Arzt den Mund öffnen, das Haar betrachten lassen und über alle Krankheiten, die sie je gehabt, Auskunft geben mussten - während so Stöße von Akten über sie sich häuften, stand doch auf keinem der Papiere das Wichtigste. Dies war ihre seltsame, allen spürbare Wirkung in dem Lager selbst, das mit ihrem Kommen auf beinahe zweihundert Insassen angewachsen war. Die Wirkung lag nicht darin, dass vor der neu bezogenen Baracke nun mehr als ein Dutzend flachsköpfiger Kinder spielte, oder, wenn es regnete, aufgereiht wie Blumentöpfe hinter den Fenstern hervorlugte oder daß ein regeres Kommen und Gehen auf dem Hof war, ein lauteres Stimmengewirr im Küchenhaus, daß die Äxte der Holzhacker einen rascheren und munteren Takt schlugen - im Wachsen der Zahl und in der gesteigerten Regsamkeit lag die Wirkung nicht. Die Wirkung lag bei den Ursachen dazu. Sicherlich hatten die wortkargen Männer, denen man das Zuhause sein in Wäldern und auf Feldern ansah, und die sich, wenn sie etwas sagten, einer gleichsam weit, weit entlege-[75]nen karelischen Mundart mit vielen darin eingestreuten russischen Brocken und einem viel weicheren Ton, als er dem Finnischen eigen ist, bedienten, ebenso viel und ebenso Merkwürdiges erlebt wie wir anderen auch, die Frauen und Kinder ebensolche Schrecken und Ängste ausgestanden wie andere Frauen und Kinder, nur trugen sie das viel kreatürlicher, und kein Rätseln und Hadern während der erzwungenen Lageruntätigkeit lähmte ihre Selbstsicherheit. Die meisten von uns, seit beinahe fünf Jahren aus dem gewohnten Leben gerissen und seitdem dazu verurteilt, Gewalt zu verüben oder Gewalt zu erleiden und, seit den düsteren Novembertagen des Jahres 1939 dazu geneigt, alles verloren zu sehen, was das angestammte Glück eines Menschen ausmacht: sein Vaterhaus, seine Heimat, sein Vaterland - bedachten hier einen verworrenen, von viel Schuld beladenen Weg, und in den ebenso hilflosen wie verständnislosen Blicken der schwedischen Beamten, die über einen schmalen Tisch hinweg die Beichte und die Rechtfertigung Neunzehnjähriger empfingen, warum sie hatten töten und brennen, fliehen und kämpfen und abermals fliehen müssen, wozu das nur scheinbar Böse gut gewesen sei, eine Pflicht, eine Ehre - in diesen Blicken begegnete ihnen gleichsam die eigene verlorene Kindheit, und sie fühlten, wie weit sie abgeirrt waren von einer natürlicheren Gemeinschaft als der einer Kompanie, und einer gerechteren Ordnung als der des Faustrechts. Selbst bei den alten Weibern, die - mit allen Wurzeln ihres Lebens immer noch auf den kargen Inseln vor der estnischen Festlandsküste haftend und nur dem allmählich verdorrenden Stamm nach hier im Lager, in einem fremden Lande weilend - irgendwo in einem Winkel hockten und sich etwas von Hausbier-Rezepten und Kirchfahrten und verschwundenen Nachbarn erzählten, selbst bei ihnen kam etwas Glanz in den trüben Blick, wenn sie mit einer von den Frauen der Neuankömmlinge zu sprechen versuchten. Vielleicht spürten sie die unsichtbare Kraft des Zusammenhanges, in den auch diese eine Frau noch einbeschlossen war. Und wie die Gewohnheiten und Sitten der Neugekommenen sich allmählich als eine eigene Ordnung neben der Lagerordnung abhoben, wurde es den meisten von uns, obschon lutherischen Glaubens, zur Gewohnheit oder zum Bedürfnis, am Abend in die Baracke der Neugekommenen zu gehen und mit ihnen zusammen den Gottesdienst der dritten Stunde zu feiern und eine kurze Ausle-[76]gung dessen zu hören, den sie mit Ehrerbietung Vater Tichon nannten.

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