Der grosse, offenbare Tag

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AN EINEM der ersten Abende schon machte ich die Bekanntschaft Vater Tichons, des Flößers, und auf meine Fragen erzählte er mir, diese Schar sei in der Tat der Rest seiner einstigen Gemeinde in Ostkarelien jenseits der russischen Grenze, nachdem der Krieg mit seinen Aushebungen und schwere Verluste während ihres Lebens zwischen den Fronten breite Lücken in die Reihe der erwachsenen Männer gerissen hätten. Im Spätsommer des Jahres 1941 von finnischen Fernpatrouillen in einem Waldlager mitten in der Ödmark aufgespürt, als sie - Haus und Habe in dem Dorfe Tuulos Gottes Schutz anheimstellend - das Dorf verlassen hätten, um der Drangsalierung und neuen Aushebungen zu entgehen, hätten sie geraume Zeit sich im Walde verborgen halten müssen, da die russischen Truppen sich gerade in ihrem Dorfe, das auf der Vormarschstraße nach Olonez gelegen habe, festgesetzt und den nachdrängenden finnischen Jägern den Übergang über den Tuulos-Fluß verwehrt hätten. So hätten sie ein paar Wochen lang unter der Bahn der Geschosse gelebt, bis der von den finnischen Truppen wieder aufgenommene Vormarsch, der gerade bei Tuulos seinen Anfang genommen habe, sie eines Morgens unversehens im Hinterland der Kriegsfront habe aufwachen lassen. Da aber sei von ihrem heimatlichen Dorfe wenig übrig gewesen, was man hätte bewohnen können, die wenigen Häuser entweder vermint oder für finnische Feldlazarette beschlagnahmt, und so viele ihrer noch gewesen wären, hätten die Behörden sie ins nördliche Savo umgesiedelt, bis daß der Ausgang des Krieges darüber entschieden habe, wohin sie gehörten.

Aber nicht mehr dorthin! sagte Vater Tichon mit einem kranken Lächeln, das nur andeutete, wie er das von dem geschlagenen Finnland ausbedungene Versprechen, Menschen wie ihn und seine Gemeinde auszuliefern, empfand.

Mir blieb keine Zeit, stürmisch herandrängende Erinnerungen auszusprechen; denn etliche von seinen Gemeindegliedern warteten schon darauf; mit dem Priester sprechen zu können, und gleich danach hatte im Lager Ruhe einzukehren.

[79]Ich ging allein über den dunkeln Hof, auf dem der erste Frost schon eine spröde Kruste gefroren hatte, unter welcher das aufgeweichte Erdreich federnd wie Moorboden lag, und sah den Himmel weit ausgestirnt mit jenen leuchtenden Zeichen, zu denen in vergangenen Jahren so häufig aufgeschaut worden war und die unzählige Erinnerungen aus verworrenem Dunkel, in denen wir uns unser eigenes Schicksal abhanden gekommen meinten, grüßten.

Es waren aber nicht die trübsten Bilder des Feldzugs in Karelien östlich des Ladogasees, die sich mit dem Dorfe Tuulos verbanden - gerade jenem Dorfe, aus dem die Gemeinde und Vater Tichon, der Flößer, stammten. Ich nahm es auf mich, gegen die Lagerregel zu verstoßen und wanderte hin und her auf dem nächtlich verödeten Hof, der weiter und weiter wurde, je mehr Licht hinter den Fenstern der Häuser, die ihn umgaben, erlosch. Am Ende lag die erleuchtete Straße, von der mich nur der hohe Zaun ausschloss, beinahe so hell da wie einst das Tal des Tuulos Flusses zwischen der Mauer des karelischen Urwaldes auf der einen Seite, auf der wir vorgerückt waren, und dem recht steilen Ufer auf der anderen, auf der längs dem Uferhang stromaufwärts das Dorf mit seinen silbrig-grauen Häusern in der Septembersonne badete, während flussabwärts, bei der Mündung des Flusses in den gewaltigen See zwischen hohen Dünen, unserem Walde gegenüber schon wieder ein Dickicht von jungen Erlen und Birken stand, in dem unsere Vorhut, die dort gestauten Floßstämme mit ziemlich hohen Verlusten zum Übergang benutzend, einen Brückenkopf gebildet hatte und in ständigem Scharmützel mit dem Feinde stand. "Freue dich, du russische Thebais, frohlocket, ihr heiligen Wälder und Einöden von Olonez...!" war mir die alte Lobpreisung dieses Landes, das von Alters her eine Zuflucht der frömmsten unter den Rechtgläubigen gewesen war, durch den Sinn gegangen, wenn die von keinem eigenen Suchen geleiteten Wege des Krieges uns in den vergangenen Tagen und Nächten oftmals doch zufällig wie ins Herz der Thebais geführt hatten: durch die unergründlichen, schwermutsvollen Wälder, in denen heute noch der Klang der Kantele und die Zauberrunen des Kalewala neben den vom Einsiedler aus dämmerigem Blockhaus ins Unendliche gestammelten Hymnen und dem fortwährenden Gebet schwebten; zu stillen, blauenden Seen, deren Spiegel noch kein Ruder je zerschlagen zu haben schien; in [80] Dörfer, deren steil aufragende Brunnenschwengel wie silbergraue Wahrzeiger zum Himmel deuteten, daß der ihre Verlassenheit behütete; in rauchige Badstuben, in denen wir stumm und lahm gewordenen Meilenfresser wieder entdeckten, daß wir noch leibhaftige Menschen unter den staubergrauten Uniformen waren; vor winzige Äcker, bei deren liegengebliebenen Geräten die dafür Kundigen unter uns mit etwas wie Ergriffenheit erkannten, daß die von gleicher Art und nach demselben uralten Gesetz verfertigt wären wie die in Finnland jenseits der überschrittenen Grenze, und daß man doch nicht in der Fremde sei, sondern bei Brüdern; zu versonnen und lautkarg dahingleitenden Wasserläufen voll abgebarkter, rötlich schwärender und leuchtender Stämme, die sich an den Ufern festgefahren und wirre, ächzende, knirschend aneinander gepresste Verhaue gebildet hatten, hinter denen das Wasser blasig aufbrodelte, weil die Flößer abberufen worden waren...

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