Würdigung

Erwin Iserloh (1915–1996) – ein „Moderner von (über)morgen“

Barbara Hallensleben

Vortrag, gehalten am 25. Januar 2011 in Trier

publiziert in: TThZ 120 (2011) 150-163

 

„In Trier schadet der gute Wein der Wissenschaft“ – Erwin Iserloh hatte eine ganze Kiste guten Mosel-Wein für den ausgesetzt, der ihm diesen angeblichen Ausspruch des Humanisten Erasmus von Rotterdam auch schriftlich belegte. Bis zu seinem Lebensende hat er diese Wette nicht einlösen müssen. Iserloh selbst war mit Erasmus offenbar nicht einverstanden: Der Wein, den er sonntags abends in der Münsteraner Domherrenkurie zur Recollectio mit dem Bischof anbot, stammte weiterhin von einem Weinbauern aus der Nähe von Trier. Auch in anderer Hinsicht lässt sich Iserloh geradezu als Widerpart des frühneuzeitlichen Humanisten charakterisieren: Erasmus galt ihm als Modell katholischer Mitschuld an der Kirchenspaltung – ja im weiteren Sinne als Typus des Versagens gegenüber den Herausforderungen der Geschichte: „Erasmus sieht zu klar das Falsche im Wahren und das Wahre im Falschen, um allzu bestimmt aufzutreten. Es ist ihm unheimlich in einer Zeit, die so unerbittlich auf Entscheidung drängt“.1 Er zaudert – bis es zu spät ist.

Erwin Iserloh war alles andere als „erasmianisch“. Von Kindesbeinen an prägte ihn die Erfahrung, dass man sich aus der Geschichte nicht heraushalten kann. Geboren am 15. Mai 1915 in Duisburg-Beeck als jüngster von drei Söhnen einer Lehrerfamilie, ging er, wie seine Eltern, keine Kompromisse mit der Nazi-Ideologie ein. Mehr als die Schule wurde der Jugendbund „Neudeutschland“ sein Lebensraum, und die Wunden aus Handgemengen mit der Hitlerjugend zeigte er sein Leben lang stolz vor. Ihm als Klassenbestem wurde für ein Jahr die Hochschulreife verweigert – ein „Sabbatjahr“, in dem er sich um so engagierter als Jugendführer betätigte, bevor er 1935 endlich das Theologiestudium beginnen durfte. Das Dreigestirn der ihn prägenden Professoren – Peter Wust, Joseph Lortz und Michael Schmaus – zeichnet die Verbindung der Kirchengeschichte mit der Dogmatik und der philosophischen Reflexion über das eigene Tun und Denken vor, wie sie kennzeichnend für Iserlohs Werk wurde. Das erste Dissertationsprojekt, im fünften Semester begonnen, scheiterte vor seinem Beginn, weil Iserloh sich durch allzu kritische Worte über Kant mit dem Philosophen Peter Wust zerstritt. Kurz nach dieser Auseinandersetzung entdeckte er die Ausschreibung einer Preisarbeit „Der Kampf um die Messe in den ersten Jahren der Auseinandersetzung mit Luther“ – machte sich an die Arbeit und gewann nicht nur den Preis, sondern auch den Zugang zu Joseph Lortz und damit den Weg zur Kirchengeschichte und zur Reformationsgeschichte.

 

1. Drei Grundfragen der eigenen Lebensgeschichte

Die Verbindung von zupackender Planung und Annahme der Zufälle des Lebens als zufallendes Geschick kennzeichnet Erwin Iserloh grundlegend. In den Lebenserinnerungen, die er 1987 in der Römischen Quartalschrift veröffentlichte, finden sich in den Abschnitten über die prägenden Jahre der Jugend und Ausbildung drei Fragen, die als Fragen der eigenen Lebensgeschichte für Erwin Iserloh Grundfragen des kirchengeschichtlichen Arbeitens wurden:

1) Dem am 14. Juni 1940 geweihten Neupriester wurde die Freistellung zum Studium durch Bischof Clemens August von Galen zunächst verweigert. Als er bei seiner ersten Kaplanstelle ankam, teilten ihm die Haushälterin und dann auch der Pfarrer recht schroff mit, dass man auf seine Dienste verzichte, und schickten ihn ohne ausreichendes Fahrgeld umgehend zurück. Iserloh fügt an: „Vielleicht sollte mir durch diese Verweigerung der Stelle klarwerden, dass man auf mich nicht gerade gewartet hatte, dass das Reich Gottes auf mich nicht angewiesen war?“2

2) Gerade auf diesem Umweg erhielt Iserloh eine Seelsorgestelle am St.-Rochus-Hospital bei Telgte, die ihm genug Freiheit ließ, seine Dissertation vorzubereiten. Nach der erfolgreich verteidigten Arbeit über „Die Eucharistie in der Darstellung des Johann Eck“ wurde Iserloh Präses der „Knabenerziehungsanstalt St. Josefshaus“ bei Wettringen. Dort spielte er mit schwer er­ziehbaren Jungen Fußball und schaffte es zum allgemeinen Erstaunen, ihre Freude sogar am Religionsunterricht zu wecken. Zugleich führte er im Verborgenen die Arbeit des 1939 verbotenen Bund „Neudeutschland“ weiter. Der Gestapo wurden Informationen über diese Arbeit zugetragen, und die Anklage auf Fortführung illegaler Verbände und Wehrkraftzersetzung konzentrierte sich auf Iserloh. Die Akte ist im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf einsehbar.3 Er selbst versicherte dem Bischof, er „hielte es für ehrenvoller, im Konzentrationslager umzukommen, als für das Großdeutsche Reich in Russland zu fallen“4, doch Bischof Clemens August von Galen besorgte umgehend einen Stellungsbefehl, und Iserloh verbrachte die Kriegszeit als Sanitäter in Russland. Der erste Eindruck bei der Ankunft unweit von Leningrad war ein deutscher Soldatenfriedhof. Und wieder eine Frage: „War es tröstlich oder erbitternd, hier festzustellen, dass dem NS-Regime, welches in der Heimat die Bekenner des Kreuzes verfolgte und das Kreuz aus den Schulen verbannte, hier nichts anderes einfiel, als auf den Gräbern der Gefallenen das Kreuz wiederum zu errichten?“5

3) Die geschichtlichen Umstände bewahrten Iserloh davor, jemals einen Eid auf den Führer abzulegen oder einen scharfen Schuss abzugeben. Hingegen konnte er als Priester vielen Sterbenden beistehen. Als er selbst schwer verwundet war und kriechend einen Platz auf einer Fähre zur Bergung von Verwundeten zu erlangen suchte, begegnete ihm unerwartet „als ein Engel vom Himmel“6 sein Bruder Leo, der kurz darauf in der Schlacht um Berlin fiel. Hier wird die Frage zum Gebet: „‚Wie unbegreiflich sind Deine Wege, o Herr!’ Sollte er erst mich retten, bevor er selbst abberufen wurde? Weshalb mussten meine Brüder, die Frau und Kinder zurückließen, fallen, und ich blieb am Leben?“7

Die drei Fragen der eigenen Lebensgeschichte wurden Grundfragen und Grundeinsichten für die Deutung der Kirchengeschichte:

  1. Das Reich Gottes nimmt uns ganz in Anspruch, ohne auf uns angewiesen zu sein.
  2. Im Zeichen des Kreuzes schwindet die Furcht vor allen Mächte und Mächtigen der Welt.
  3. Es bleibt ein „Warum?“, das sich letzter Erklärung entzieht, das aber – im Gebet vor Gott getragen – die Hoffnung auf Sinn in sich trägt.

 

2. Kirchengeschichte – eine theologische Wissenschaft

Diese mit großer Entschiedenheit vorgetragene und verteidigte Grundposition Iserlohs gewinnt auf dem Hintergrund seiner Lebenserfahrung einen neuen Klang. Als philosophisch geschulter Denker reflektierte Iserloh sein Selbstverständnis der Kirchengeschichte immer wieder ausdrücklich8 und bezog sich dabei auf eine Theologie der Offenbarung, die der Konstitution „Dei Verbum“ des II. Vatikanischen Konzils entspricht. Seine Position ist noch stärker geworden, seit die Naturwissenschaften, die er gemäß dem Dilt­hey’schen Begriffspaar von „erklären“ und „verstehen“ als Gegenbild zur Geschichtswissenschaft anführt9, den Anspruch vollständigen Erklärens aufgegeben haben und um den Interpretationsbedarf ihrer Daten wissen, seit die Postmoderne die Einheit der Geschichte zugunsten eines beziehungslosen Nebeneinander von Geschichten preisgeben muss. Die theologische Sicht der Geschichte dispensiert den Kirchenhistoriker nicht von der sorgfältigen Quellenarbeit – im Gegenteil: die vorurteilsfreie Bindung an die Quellen wird um so stärker, weil alle noch so unscheinbaren Ereignisse im heilsgeschichtlichen Horizont ihre unverlierbare Kostbarkeit erhalten. „Gott braucht unsere Lügen nicht“ – Iserloh zitierte unter diesem Motto gern das Schuldbekenntnis Papst Hadrians VI. in Nürnberg 1522/2­3, das angesichts der Reformation die Katholische Reform einleitete.10

Besonderen Eindruck machte auf die Studierenden Iserlohs Betonung der Offenheit der Geschichte nach vorn. „Die Vergangenheit wirkt nicht nur auf die Gegenwart, wir sind nicht nur von ihr betroffen, sondern umgekehrt ist sie uns auch aufgetragen“.11 Dies gilt für Iserloh nicht nur intellektuell, sondern gleichsam ontologisch, und wiederum wird seine eigene Lebenserfahrung ihm zum Ernstfall: „Der 30. Januar 1933 und die folgenden Ereignisse sind für uns Deutsche und für die Welt bittere Tatsachen, und wir können sie nicht ungeschehen machen. Aber wer wollte  sagen, dass sie abgeschlossen sind? Ob die Schuld zu einer felix culpa wird oder zu der Tat, die fortzeugend Böses muss gebären, das hängt von uns und von den nachfolgenden Generationen ab...“.12 Stärker hat es nur der russische Religionsphilosoph Nikolai Fedorov im 19. Jahrhundert ausgedrückt, als er „die Auferweckung der Väter durch die Söhne“, der Eltern durch die Kinder als das gemeinsame geschichtliche Werk der Menschheit bezeichnete.13 So ging Iserloh nicht zuletzt mit der Reformationsgeschichte um: Sein Anliegen war die „Auferweckung der Kirchenreform“ aus der Tragödie der Kirchenspaltung. Letztlich wollte er nicht Recht behalten oder eine katholische Position durchzusetzen, sondern die Brüche der Geschichte in einen größeren, eschatologischen Sinnzusammenhang zu stellen und von dorther Umkehr und Versöhnung ermöglichen.

In diesem Sinne übertrug er gern das Gleichnis vom verlorenen Sohn, besser: von den beiden verlorenen Söhnen, noch besser: vom barmherzigen Vater, auf die getrennten Christen der Westkirche: Mag sein, dass die reformatorischen Gemeinschaften dem Sohn entsprechen, der aus dem Vaterhaus weggelaufen ist – doch erweist sich nicht der zu Hause gebliebene Sohn, in dem die katholische Kirche symbolisiert ist, als weit verlorener? Er vermag die Güte des Vaters und dessen überschwängliche Freude über die Rückkehr des Bruders nicht nachzuvollziehen und hat mitten im Vaterhaus den Geist des Vaters nicht in sich aufgenommen. Die Umkehr betrifft beide Söhne, „Rückkehr­ökumene“ bedeutet für Iserloh die gemeinsame Bekehrung zur barmherzigen Liebe Gottes, die mitten in der Geschichte ihre Kraft in der Ohnmacht der Menschen erweist.

Diese Einstellung zur Kirchengeschichte wird zur methodischen Herausforderung auch in der Darstellung von Leben und Werk von Erwin Iserloh. Vor dieser Aufgabe bin ich bei der Einladung aus Trier spontan zurückgeschreckt und habe sie doch fast im selben Moment freudig angenommen. Von meinem zweiten Studienjahr an bis zum Doktorat habe ich in der Domherrenwohnung von Erwin Iserloh gewohnt und seinen Lebens- und Arbeitsrhythmus geteilt, auch an der Universität als wissenschaftliche Hilfskraft, dann als Assistentin. Im Stillen hatte ich beschlossen, nie „über“ Iserloh zu sprechen oder zu schreiben. Nun bin ich dankbar, dass Sie – und auch das herannahende Reformationsgedenken 2017 – diesen Vorsatz zum Wanken bringen. Eine Folge der Trierer Initiative ist die Vorbereitung einer Erwin-Iserloh-Homepage, auf der vor allem die reformationsgeschichtlichen Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen werden.14 Nach meiner Berufung nach Fribourg habe ich Iserlohs reformationsgeschichtliche Forschungsbibliothek mit meinem Anfangskredit auf abenteuerlichen Wegen nach Fribourg geholt, wo sie nun unter seinem Namen katalogisiert ist. Im Rahmen des Fribourger „Instituts für Ökumenische Studien“ musste ich zunächst lernen, dass die reformierte Welt der Schweiz an Lutherforschung wenig Interesse zeigt. Doch in der Arbeit im reformierten Umfeld und in der Öffnung für die Zusammenarbeit mit der orthodoxen Welt hoffe ich Iserlohs Einsatz für die Einheit der Kirche treu geblieben zu sein. Wie gern würde ich ihn einladen, wenn wir am 25. März den Russischen Orthodoxen Metropoliten Hilarion Alfeyev zum Titularprofessor der Fakultät ernennen werden.

 

3. Iserlohs Wirken in Trier

Seinen ersten Lehrstuhl erhielt Iserloh 1954 hier an der Theologischen Fakultät in Trier, wo er zehn Jahre lang als Professor für die Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit wirkte. Bei seiner Ankunft galt er als so „modern“, dass der Bischof ihm mit der Lehrerlaubnis die römische Mahnung übermittelte, er solle sich „einer weniger kritischen Art befleißigen“.15 Wie an allen Stätten seines Wirkens ließ Iserloh sich in Trier auf die Aufgaben vor Ort ein. Seine Bibliographie zeigt, dass er vom ersten bis zum letzten Trierer Jahr regelmäßig in der Trierer Theologischen Zeitschrift publizierte. Er wohnte mit anderen Professoren und Studenten im Rudolfinum, was offenbar von der Seminarleitung damals nicht ungeteilt geschätzt wurde. „Es lag nahe, dass gerade Studenten, die Schwierigkeiten bezüglich ihres Berufs hatten oder sich mit der Hausleitung rieben, das Gespräch mit einem Professor suchten und nach den Mahlzeiten den Rundgang ums Haus nutzten, um ihre Schwierigkeiten zu besprechen. Mancher Student stand faktisch schon außerhalb des Seminars, ihn konnte und durfte man nicht halten; es galt aber, ihm zu helfen, ohne Ressentiments auszuscheiden“.16

1) Als 1959 anlässlich der Ausstellung des Heiligen Rockes die Frage nach der Echtheit der Reliquie aufkam, erwartete man von dem Kirchenhistoriker eine klärende Stellungnahme. Iserloh reagierte als Wissenschaftler und Seelsorger zugleich: Einerseits zog er die materielle Identität mit dem ungeteilten Leibrock Christi aufgrund der Quellen in Zweifel, andererseits plädierte er entschieden für den tiefen Sinn der Wallfahrt angesichts der Qualität des Heiligen Rockes als Berührungsreliquie und als Sinnbild der einheitstiftenden Kraft des Leidens Christi. „Mir kam es darauf an, kritischen Christen, vor allem Lehrern und Priestern, die von Berufs wegen die Wallfahrt mitmachen mussten, zu ermöglichen, es mit gutem Gewissen und ohne Augurenlächeln zu tun“.17 Der Dank war groß: Kardinal Döpfner bescheinigte Iserloh, seine Deutung des Heiligen Rockes habe es ihm „ermöglicht, die Wallfahrt guten Gewissens mitzumachen und seine Diözesanen dazu einzuladen“.18 Der entsprechende Aufsatz erschien übrigens nic­ht in der „Trierer Theologischen Zeitschrift“, sondern in der Jesuitenzeitschrift „Geist und Leben“.19 Die Veröffentlichung in Trier wurde offenbar als nicht opportun erachtet.

2) „Der Thesenanschlag fand nicht statt“ – diese wohl bekannteste These Iserlohs, die er auf Anregung seines Freundes Konrad Repgen20 entwickelte und entschieden vertrat, stammt ebenfalls aus der Trierer Zeit des Kirchenhistorikers.21 Mit ihr schaffte er den Sprung in den „Spiegel“ und in profanwissenschaftliche Debatten – wie wohl kaum einer seiner Kollegen in der Theologie. Der Fund einer handschriftlichen Notiz von Georg Rörer über den Thesenanschlag im März 2007 stiftete keine größere Klarheit, sondern erneuerte die Kontroverse.22 Martin Treu sieht in dem Text einen Beleg für die Authentizität des Thesenanschlags, Volker Leppin einen weiteren Mosaikstein der Legendenbildung. So ist es nur folgerichtig, dass sich bei einer Arbeitstagung am 26./27. Oktober 2007 in Wittenberg die Untersuchung auf die Frage verschob: Weshalb die starke öffentliche Aufmerksamkeit für eine ereignisgeschichtliche Detailfrage? Reinhardt Brandt kommt zu dem Schluss: „Die öffentliche Aufmerksamkeit ... galt und gilt ... einem Symbol, dem Thesenanschlag (nicht den 95 Thesen selbst) als einer Symbolhandlung. Öffentlich wirksam wurde die historische Kritik als Depotenzierung der Macht eines Symbols“.23 Ihre Symbolqualität für das Verhältnis von Kirchenreform und Reformation wird die Frage nach der Historizität des Thesenanschlags wohl behalten. Hat Iserloh recht, dann gilt, „dass Luther nicht in Verwegenheit auf einen Bruch mit der Kirche hingesteuert ist, sondern eher absichtslos zum Reformator wurde. Allerdings trifft dann die zuständigen Bischöfe noch größere Verantwortung. Denn dann hat Luther den Bischöfen Zeit gelassen, religiös-seelsorglich zu reagieren“.24 (RQ 39). Da Iserloh sich im wesentlichen auf die Selbstaussagen Luthers beruft, wirkt bis heute das Erstaunen einer Göttinger Diskussion der 60er Jahre nach, „dass der katholische Redner [Iserloh] für die Ehrlichkeit Luthers eingetreten sei, während der evangelische Partner so leichthin eine Lüge Luthers in Kauf genommen habe“ (RQ 39).

3) In einem weiteren Fall wurde Iserloh in Trier aus kirchengeschichtlicher Kompetenz in einer Frage des kirchlichen Lebens tätig: Am 14. Februar 1961 hatte die Ritenkongregation die Revision der Eigenfeste der Diözesen angeordnet. Das beliebte Fest und Patronat des Werner von Oberwesel (18. April) entfiel bei dieser Reform. Iserloh machte mit der gewohnten sorgsamen Analyse der Quellen die Unhaltbarkeit der Überlieferung auf dem Hintergrund der verhängnisvollen Legenden über Ritualmorde an christlichen Kindern durch Juden und über Hostienschändung deutlich. Er schloss sich der Überzeugung an: „An dieser Stelle solle man lieber derer gedenken, die die Märtyrer der verhängnisvollen Legende geworden seien, solle man sich der vielen Juden erinnern, die unschuldig Opfer des Antisemitismus geworden, der die Legende zum Vorwand für seinen Hass genommen habe“.25 Sein Vorschlag einer Transformation der Wernerkapelle in Bacharach zu einem Mahnmahl ist heute verwirklicht.

4) Von Trier aus übernahm Iserloh seit dem Wintersemester 1961/62 zusätzlich einen dreistündigen Lehrauftrag an der Universität Saarbrücken, der der Lehrerausbildung diente. „Das war sehr anstrengend, aber auch sehr anregend“, lautet sein Kommentar, „weil man sich auf eine andere Mentalität einzustellen hatte“.26

 

4. Reformata reformanda – die Kirche als Mitte der Berufung

Erwin Iserloh verließ Trier nicht wegen des (zu) guten Weins. Es zog ihn zurück in sein Heimatbistum. 1964 wurde er als Professor  für Ökumenische Theologie nach Münster berufen, 1967 wechselte er auf den dortigen Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte. Der Schwerpunkt seines Arbeitens war und blieb die Kirchengeschichte, insofern die Mitte seiner Berufung die Kirche war. „Persönlichkeit und Gemeinschaft im religiösen Leben“ – so lautet der Titel des Aufsatzes aus dem Gemen-Werkheft des Bundes Neudeutschland im Jahr 194727, der nicht nur chronologisch den Auftakt zur Sammlung seiner persönlichen Publikationen bildet. Echte Gemeinschaft als Alternative zu Individualismus und Kollektivismus – mit diesem Plädoyer greift Iserloh wiederum auf Erfahrungen der Jugendbewegung und der Liturgischen Bewegung zurück. Entsprechend scharf fällt die Auseinandersetzung mit Karl Rahner aus, der ein Jahr zuvor in einem Aufsatz „Der Einzelne in der Kirche“ in „Stimmen der Zeit“ zwischen der Kirche als Rechts­gemeinschaft und dem „grundsätzlich privaten religiösen Leben“ unterschieden hatte.28 Iserloh entwirft demgegenüber eine Anthropologie, die dem II. Vatikanischen Konzil Ehre macht: „Der Mensch ist in jeder Hinsicht auf die Gemeinschaft hingeordnet, ja er ist ein Wesen in Gemeinschaft, nicht nur in den peripheren Schichten seines Seins, sondern gerade in der Tiefenschicht seine Person, hier wieder besonders im Bereich des Gnadenlebens. Das Leben des Menschen muss also notwendig verkümmern, wenn er versuchen wollte, sich zu isolieren, sich auf sich selbst zurückzuziehen“.29

In dieser Sicht der anima naturaliter ecclesiastica kommunizieren mehr oder weniger sichtbar alle großen Linien seiner Lehre und Forschung, nicht zuletzt sein Engagement für die Einheit der Kirche. Nicht konfessionelle Streitigkeiten interessierten ihn, sondern die gelungene Gestalt menschlicher Gemeinschaft, in der Kirche wie im menschlichen Gemeinwesen überhaupt. Deshalb reagierte er auch besonders allergisch auf die protestantische Lehre von der unsichtbaren Kirche und sah – mit Kardinal Cajetan30 und wie Paul Hacker31 – in der Lehre von der Heilsgewissheit die Versuchung einer individualistischen Selbstvergewisserung, die den Glauben als Gnadengeschenk in ein opus humanumverkehrt. In der Münsteraner Fakultät gewann die Erforschung der Reformationsgeschichte immer größere, wenn auch nie exklusive Bedeutung in Iserlohs theologischer Arbeit. Im Band IV des Handbuchs der Kirchengeschichte32 und im dem Lehrbuch „Geschichte und Theologie der Reformation im Grundriss“33 erarbeitete er zwei Standardwerke, die nachhaltig Forschung und Lehre prägten und prägen werden. Zu meiner großen Freude habe ich entdeckt, dass dieses Lehrbuch und auch die zweibändige Aufsatzsammlung, die zu Iserlohs 70. Geburtstag unter dem Titel „Kirche – Ereignis und Institution“ veröffentlicht wurde, weiterhin lieferbar sind. Band II vereinigt die wichtigsten Aufsätze über die Anfänge der Reformation, Luthers Theologie in katholischer Sicht, zu neuerer Luther-Forschung, zum Augsburger Reichstag 1530, anderen Reformatoren und katholischen Kontrovers­theologen, insbesondere zur Eucharistie als Sakrament der Einheit und zu Perspektiven der Ökumenischen Bewegung. Nach neuesten Auskünften des Aschendorff Verlages warten 134 Exemplare auf Ihre Bestellung!

Zu den wissenschaftlichen Aufgaben gesellten sich mehr und mehr weitere Verpflichtungen, die viel Zeit und Kraft in Anspruch nahmen, vor allem seit Iserlohs Ernennung zum residierenden Domkapitular 1976 durch Bischof Reinhard Lettmann: im Bistum Münster der Vorsitz der Kommission für kirchliche Zeitgeschichte sowie der Ökumene-Kommission, und auch die Deutsche Bischofskonferenz ernannte ihn zum Berater der Kommission für ökumenische Fragen. In der Görres-Gesellschaft wirkte er im Vorstand mit, im Johann-Adam-Möhler-Institut in Paderborn sowie im Institut für Europäische Geschichte wurde er in den Wissenschaftlichen Beirat berufen. 1971 wählte ihn die Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz zum ordentlichen Mitglied, 1972 übernahm er den Vorsitz der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum, der Schriften katholischer Kontroverstheologen. 1972–1975 war er Mitglied der Gemeinsamen Synode der deutschen Bistümer, lange Jahre gab er die Rezensionszeitschrift „Theologische Revue“ heraus und wirkte als Herausgeber an weiteren Werken und Zeitschriften mit. Gro­ße Tagungen zum 450. Jubiläum des Augsburger Reichstages von 1530 im Jahr 1980 und zum 500. Geburtstag von Johannes Eck im Jahre 1986 begleiteten seine wissenschaftliche Arbeit. Ehrenvoll war für ihn die Aufgabe, als erster Katholik auf dem Dritten Internationalen Kongress für Lutherforschung einen Vortrag zu halten, für den er das Thema „Luther und die Mystik“ wählte. Während des folgenden Kongresses wurde ihm 1971 die philosophische Ehrendoktorwürde der Saint Louis University verliehen. 1986 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Er war sich aber auch nicht zu schade, viele Anfragen als Gemeinden und Erwachsenbildungshäusern anzunehmen und geduldig zu antworten, wenn nach einem Vortrag über die Ursachen der Reformation die Frage lautete, ob man sich heute noch unter gregorianischen Chorälen beerdigen lassen dürfe ...

Iserlohs großer Einsatz für die Ausgabe der Werke und Briefe des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler34, dessen 200. Geburtstag wir in diesem Jahr begehen, fügt sich in sein Gesamtwerk durchaus konsequent ein: Die soziale Frage war für ihn gleichsam die Wendung seiner kirchlichen Berufung zur Sendung in die politische Welt. In der Übergangszeit zwischen Habilitation und Berufung nach Trier leitete er für ein Jahr das Franz-Hitze-Haus, die Soziale Bildungsstätte der Diözese Münster, und gab der noch profillosen Einrichtung eine nachhaltige Prägung. Sowohl in seinem kirchengeschichtlichen Arbeiten als auch bei seiner Wahrnehmung der kirchlichen und gesellschaftlichen Gegenwart hatte Iserloh eine wache Aufmerksamkeit für politische Vorgänge und weltweite Entwicklungen. 1971 brach er aus eigenem Antrieb zu einem pastoralen Einsatz in Afrika auf. Im Flur seiner Wohnung hing an markanter Stelle das Foto, das ihn bei der Taufe afrikanischer Kinder zeigt.

 

5. Reformatus reformandus – Theologie in lebensgeschichtlicher Bewährung

„Reformata Reformanda“ lautet der Titel der Festschrift für Hubert Jedin, dem Bonner Kirchenhistoriker, bei dem Iserloh sich habilitiert hatte.35 Die Formulierung nimmt die Aussage aus der Dogmatischen Konstitution des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche als sancta simul et semper purificanda, heilig und stets der Reinigung bedürftig, auf (Lumen Gentium 8) und verbindet sie mit dem Gedanken der Kirchenreform. „Reformatus Reformandus“ heißt eine Anti-Festschrift, die Iserlohs Mitarbeiterinnen zu seinem 65. Geburtstag 1980 in streng limitierter Auflage zusammenstellten. Diese Variation gilt dem akademischen Lehrer, Chef und einfach dem Menschen Erwin Iserloh, der gern zuließ, dass man über seine Ecken und Kanten liebevoll scherzte, wusste er selbst doch im Grunde, was er anderen manchmal zumutete und wie sehr er auf Hilfe und einfach auf menschliches Verständnis angewiesen war. Als er einmal im Kreis von Studierenden erklärte: „Ich komme vom Niederrhein, und so verbinde ich die Festigkeit des Westfalen mit der Ausgelassenheit des Rheinländers“ – antwortete ein schlagfertiger Student: „Man könnte auch sagen: die Sturheit des Westfalen mit der Unbeherrschtheit des Rheinländers“ ... „Unsere Tugenden sind die guten Seiten unserer schlechten Eigenschaften – und unsere Laster sind die schlechten Seiten unserer guten Eigenschaften“, so lauteten die beiden psychologischen Regeln, die Iserloh für hinreichend im Umgang mit sich selbst und anderen hielt, während ihm Psychologen im übrigen als „feindselige Tiefseetaucher der menschlichen Seele“ galten.

Erwin Iserloh setzte sein Leben stets der Welt aus, in die es ihn verschlug. An jeder Stelle legte er Wert darauf, in einer Gemeinde regelmäßig die Heilige Messe zu feiern, ab 1976 früh morgens im Dom mit der Verpflichtung, ab und zu am Sonntag das feierliche Hochamt zu halten und zu predigen. Dass er stets ein Zimmer zur Untermiete an einen Studenten oder eine Studentin vermietete, geschah einerseits in der Hoffnung, durch Gesprächspartner im Dialog mit Entwicklungen der Theologie und Fragen der nächsten Generation zu bleiben, zugleich zeigte sich darin die Bereitschaft, Anteil zu geben an seinem Leben, seinen Erfahrungen, seinen theologischen Einsichten, seiner Bibliothek. In diesem Leben gab es eine ruhige, disziplinierte Ordnung, gewährleistet durch die Haushälterin, es gab Rhythmen und Gewohnheiten, die Begegnungen ermöglichten und strukturierten. Abends um 22 Uhr gehörte die gemeinsame Vesper zum Tagesabschluss, meist gefolgt durch ein Gläschen Trierer Wein. Am Samstag nachmittag gab es, wenn die Zeit es zuließ, einen kleinen Spaziergang um den Aasee, am Sonntag nachmittag nach der Vesper im Dom einen größeren Ausflug, z.B. in die Baumberge. Einmal pro Semester wurden die Seminarteilnehmer eingeladen, dabei verschenkte Iserloh großzügig Sonderdrucke und Dubletten aus der Bibliothek. Mit dem Ausspruch „Mutt­er mach’s Licht aus, meine Gäste wollen gehen“, kündigte sich der Abschluss solcher Abende an. Einmal im Jahr stellte sein Schulfreund Fred Quecke dem Professor sein Ferienhaus am Lago Maggiore zur Verfügung, in das acht bis zehn Studierende mitgenommen wurden. Gemeinsame Bibellektüre, Ausflüge bis nach Mailand, tägliche Heilige Messe, manchmal mit Predigtübungen, gehörten zum pädagogischen Programm. Einkäufe und Kochen übernahm der Professor gern und gut selbst, die Nacharbeiten zur Reinigung der Küche erforderten die vereinten Kräfte aller Gäste. Die Ferienzeit mit einem kleineren Kreis von Assistenten wurde ebenfalls teilweise am Lago Maggiore verbracht mit einer guten Mischung aus Erholung und Studienzeit.

Auch für Studierende und Kollegen, die nicht zu diesem engeren Kreis gehörten, war Erwin Iserloh der engagierte akademische Lehrer. Was ihm wichtig war, wollte er vermitteln und zumindest ernstgenommen wissen. Dabei konnte er sich in einen großen Kämpfer vor dem Herrn verwandeln, und die energische Einleitung „Aber entschuldigen Sie mal!“, zeigte meist, dass er jetzt keine Entschuldigung mehr gelten lassen wollte. Solch ein urgewaltiger Ausbruch konnte viele verschrecken, war aber nie persönlich gemeint und wich erquickender Frische nach solch plötzlichem Gewitter. Wirklich zornig machte ihn nicht der sachliche Widerspruch, den er schätzte und dem er Anerkennung zollte, sondern nur der Mangel an Sorgfalt, Wissen und Ehrlichkeit. Freunden und allen gegenüber, für die er irgendeine Verantwortung trug, war er unbedingt treu. „Ich leg’ mich ja gern krumm, wenn’s Ihnen nur gut geht“, war einer seiner „Sprüche“, die eben mehr waren als Sprüche.

Unter der rauen Schale war immer wieder das weiche Herz zu spüren – und nicht zuletzt auch die Bescheidenheit, in der er eben wusste: Das Reich Gottes ist nicht auf mich angewiesen. So sehr Iserloh geneigt war, Ja zu sagen, wenn er um etwas gebeten wurde, was in seiner Macht und seinem Aufgabenbereich lag, so hat er doch mehrfach klar, ruhig und spontan ehrenvolle Angebote abgewiesen, die ihn nach seiner Selbsteinschätzung überfordert hätten oder einfach nicht zu seiner Berufung gehörten, so etwa die Leitung der Bruderschaft der Canisianer 1945, die Berufung auf den Romano-Guardini-Lehrstuhl in Berlin 1955, eine Berufung nach Würzburg 1966. Er rieb sich nicht selten an den Grenzen von Raum und Zeit, wenn er wieder einmal in letzter Minute zu einem Vortrag aufbrach und von den armen Chauffeuren die Übertretung aller Verkehrsregeln erwartete, um doch noch pünktlich zu kommen – aber er kannte und anerkannte Grenzen, die nicht mehr zu überwinden waren.

 

6. Herr, ich danke Dir, dass Du mich so gefesselt hast ... Krankheit und Tod

Sein Glaube bedeutete für Iserloh Ergebung in die Endlichkeit, lebenslang eingeübt. Gerade in seiner Lebensfreude und seinem Gestaltungswillen war er ein Meister der ars moriendi. So nahm er auch den langwierigen, schmerz­haften Abschied von seiner Schaffenskraft an, die seinen Lebensraum und seine Kommunikationsmöglichkeiten zunehmend einschränkten, bis ihn die erblich bedingte Krankheit schließlich von ständiger Pflege abhängig machte.

„Herr, ich danke Dir, dass Du mich so gefesselt hast ...“ In der ersten Szene des Romans „Der seidene Schuh“ legt Paul Claudel dem Jesuiten­pa­ter, der an das Kreuz des Mastbaums gefesselt auf offener See dem Tod entgegen­treibt, diese Worte in den Mund und lässt ihn sprechen von „denen, die sich nicht anders retten können, als indem sie das ganze Gewimmel miterlösen, das, in ihrem Gefolge, durch sie Gestalt gewinnt“.36 „Selbstheiligung durch Apostolat“, hieß diese theologische Figur in Iserlohs Vorlesung über die Kennzeichen der nachtridentinischen Kirche, die er gern an Berufung und Sendung der Jesuiten exemplifizierte, aber auf die christliche Berufung als solche bezog.37 Als Erwin Iserloh mir nach meinem ersten Studiensemester anlässlich eines Vortrags in meiner Heimatstadt Braunschweig – es war auf dem Platz vor der Burg Heinrichs des Löwen – erzählte, dass dieses Wort Claudels viel für ihn bedeute, konnte er nicht wissen, wie er selbst es würde einlösen müssen, sogar ohne es noch aussprechen zu können.

Erwin Iserloh starb am Morgen des Weißen Sonntags 1996, im Jahr der Heilig-Rock-Wallfahrt in Trier, und er wurde auf dem Domherrenfriedhof am Dom zu Münster im Innenhof des Kreuzgangs beer­digt – zur gleichen Zeit, als im Trierer Dom der Heilige Rock ausgestellt war. Seine Anstecknadel von der Heilig-Rock-Wallfahrt 1959 hatte er über alle Umzüge hinweg gerettet – und das will bei den zahllosen Suchaktionen, die zu jeder Zeit in seiner Umgebung nötig wurden, viel heißen. W­er glaubt, bleibt nicht ohne Zeichen. Der Trierer Heilige Rock – „Bild Christi und erhabenes Zeichen der Einheit der Kirche“ (Johannes XXIII.) – steht versöhnlich und verheißungsvoll über Erwin Iserlohs Leben.

 

7. Der Moderne von (über)morgen ...

Der Tod hat im Leben der Christen nicht das letzte Wort. Wie für Bonhoeffer, so galt auch für Iserloh: „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll“.38 Iserloh schätzte sehr das Buch von Walter Dirks: Die Antwort der Mönche.39 Dirks zeigt, wie die verschiedenen Berufungsgestalten des Ordenslebens und Stile christlicher Heiligkeit im allgemeinen nicht allein als Frömmigkeitsstile zu bewerten sind, sondern als Antwort auf die jeweiligen Anfragen, die eine Zeit in sich birgt. Der Autor formuliert in seiner Einleitung, worauf es ihm ankommt: „dass Gott der Heiligen bedarf – der kanonisierten und der gewöhnlichen, nämlich der Christen –, um nicht nur die Kirchengeschichte, sondern auch die Weltgeschichte richtig geschehen zu lassen. (Was freilich nicht bedeutet, dass die Weltgeschichte je ‚richtig’ geschehen wäre)“.40 Iserloh pflegte es noch einfacher zu sagen: Es geht darum, das zu tun, was kein anderer tut.

Dieses schlichte Motto aus tiefster Glaubensüberzeugung leitete ihn in seinen alltäglichen Optionen in Lehre und Forschung, im fakultätspolitischen Disput, der sich in seinen Münsteraner Jahren mit der kontroversen Rezeption des II. Vatikanischen Konzils verband und nicht selten äußerst kontrovers und polemisch ausfiel. An der Theologischen Fakultät in Münster hatte Iserloh es nicht leicht. Als überzeugter Anhänger des II. Vatikanischen Konzils war er der unbequeme Mahner, der nicht einsah, warum man als lästigen Ballast abwerfen sollte, was er als lebenskräftige kirchliche Tradition erfuhr. Er tat ganz einfach, was kaum ein anderer tat – nec laudibus, nec timore, unbeirrt durch Lob oder Menschenfurcht, wie das Motto seines Bischofs Clemens August von Galen lautete: Er hielt den Weg offen für eine neue theologische Synthese, die zu formulieren der ganzen Generation – vielleicht bis heute – nicht gegeben war. Wer hier eine kirchenpolitische Wende diagnostizieren möchte, hat die viel tiefere Kontinuität seiner geistigen Beweglichkeit offenbar nicht bemerkt. „Ich bin der Moderne von übermorgen“, pflegte Iserloh zu sagen, wenn er seinen Humor wiedergefunden hatte – vielleicht schon der Moderne von morgen?



1    Erwin Iserloh, Geschichte und Theologie der Reformation im Grundriss, Paderborn 31985, S. 67.

2   Erwin Iserloh, [Lebenserinnerungen], in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 82 (1987) 15–43, hier: S. 19; im folgenden zitiert als: RQ + Seitenzahl.

3   Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, RW 58, Nr. 7272.

4   RQ 22.

5    Ebd.

6   RQ 25.

7    Ebd.

8   Vgl. Erwin Iserloh, Kirchengeschichte – eine theologische Wissenschaft, in: ders., Kirche – Ereignis und Institution. Aufsätze und Vorträge, Bd I: Kirchengeschichte als Theologie, Münster 1985, 1–29.

9   Vgl. ebd. 2.

10  Vgl. Handbuch der Kirchengeschichte, Bd IV: Reformation, Katholische Reform und Gegenreformation, hg. von Erwin Iserloh, Josef Glazik, Hubert Jedin, Freiburg – Basel – Wien (1967) 21975, 109–112.

11   Erwin Iserloh, Kirchengeschichte – eine theologische Wissenschaft, a.a.O., 5.

12  Ebd. 6.

13  Vgl. Michael Hagemeister, Nikolaj Fedorov. Studien zu Leben, Werk und Wirkung, München 1989.

14  http://fns.unifr.ch/erwin-iserloh

15   RQ 36.

16  Ebd.

17   RQ 38.

18  Ebd.

19  Erwin Iserloh, Der Heilige Rock und die Wallfahrt nach Trier, in: Geist und Leben 32 (1959) 271–279.

20  Vgl. den Nachruf: Konrad Repgen, In memoriam Erwin Iserloh (1915–1996), in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 117 (1997) 255–270.

21  Erwin Iserloh, Luthers Thesenanschlag. Tatsache oder Legende?, in: TThZ 70 (1961) 303–312; als eigenständige Veröffentlichung unter demselben Titel: Wiesbaden 1962.

22  Vgl. Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, hg. von Joachim Ott und Martin Treu, (= Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Bd 9), Leipzig 2008.

23  Ebd. 138.

24  RQ 39.

25  Erwin Iserloh, Werner von Oberwesel. Zur Tilgung seines Festes im Trierer Kalender, in: TThZ 72 (1963) 270–285; wieder abgedruckt in: Erwin Iserloh, Kirche – Ereignis und Institution. Aufsätze und Vorträge, Bd I: Kirchengeschichte als Theologie, Münster 1985, 95–110, hier: S. 110.

26  RQ 40.

27  Erwin Iserloh, Persönlichkeit und Gemeinschaft im religiösen Leben, in: Gemen-Werkheft. Das Leben in Gott in seiner Bedeutung und Verwirklichung als religiöses Leben. Berichte von der Werkwoche der Neudeutschen Studentengemeinschaft Münster i.W. auf der Burg Gemen vom 14. bis 21. März 1947, 30–37.

28  Karl Rahner, Der Einzelne in der Kirche, in: Stimmen der Zeit 130 (1946), 260–276.

29  Erwin Iserloh, Persönlichkeit und Gemeinschaft, a.a.O., 34.

30  Vgl. Barbara Hallensleben, „Das heißt eine neue Kirche bauen”. Kardinal Cajetans Antwort auf die reformatorische Lehre von der Rechtfertigungsgewissheit: Catholica 39 (1985) 217–239.

31  Vgl. Paul Hacker, Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz – Wien – Köln 1966.

32  Handbuch der Kirchengeschichte, Bd IV: Reformation, Katholische Reform und Gegenreformation, hg. von Erwin Iserloh, Josef Glazik, Hubert Jedin, Freiburg – Basel – Wien (1967) 21975.

33  Erwin Iserloh, Geschichte und Theologie der Reformation im Grundriss, Paderborn 1980 und weitere Auflagen.

34  Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, Sämtliche Werke und Briefe, hg. im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz von Erwin Iserloh, Abt. I: Schriften, Aufsätze und Reden, 5 Bände, Mainz 1977–1985; Abt. II: Briefwechsel und öffentliche Erklärungen 1850–1854, Mainz 1984–2001.

35  Erwin Iserloh/Konrad Repgen (Hg.), Reformata reformanda. Festgabe für Hubert Jedin zum 17. Juni 1965, 2 Bände, Münster 1965 (mit Bibliographie).

36  Paul Claudel, Der seidene Schuh – oder: Das Schlimmste trifft nicht immer zu, übersetzt von Hans Urs von Balthasar, Salzburg 3. deutsche Auflage 1948, S. 19.

37  Vgl. Erwin Iserloh, Der Gestaltwandel der Kirche – Vom Konzil von Trient zum Vatikanum II, in: ders., Kirche – Ereignis und Institution. Aufsätze und Vorträge, Bd I: Kirchengeschichte als Theologie, Münster 1985, 388–404, 395f.

38  Widerstand und Ergebung, Gütersloh 151994, S. 14 (aus: Nach zehn Jahren. Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943).

39  Walter Dirks, Die Antwort der Mönche, Frankfurt 21953.

40  Ebd. 6.