Nigg und die Wissenschaft (1983-2006)

Die Schwierigkeiten einiger Wissenschaftler im Umgang mit Niggs Werk lassen sich exemplarisch an der Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Universität Zürich (1983) zeigen. Hier wirkte Nigg von 1931 bis 1955 nebenamtlich als Privatdozent, ab 1940 als Titularprofessor. Die Festschrift erwähnt das lange Wirken des aus heutiger Sicht berühmtesten Mitgliedes der Theologischen Fakultät nur am Rande und stellt sein Werk als bewusst popularisierende Darstellung in die feuilletonistische Ecke und damit ins wissenschaftliche Abseits. Der Titel von Niggs Habilitation wird sogar falsch zitiert. Fritz Büsser, der den Artikel "Kirchengeschichte" verfasste, schrieb über Nigg: "Er habilitierte sich 1931 - nach K.F. Städlin und F.Ch. Baur - als erster Kirchenhistoriker des 20. Jahrhunderts in seinem Buch 'Die Kirchengeschichtsschreibung' mit Prinzipienfragen seines Faches."[1] Nigg sah in diesen falschen Angaben einen gezielten Angriff auf seine Person: "Über meine Habilitation will ich mich in diesem Zusammenhang nicht äussern, nur dies sei bemerkt, was darüber in der Festschrift 'Die Universität Zürich 1933-1983' steht, verrät eine fatale Unwissenheit. Der Mann, der jene Ausführungen schrieb, wusste nichts davon, und der es genau wusste, hat nichts darüber geschrieben."[2]

Im Unterschied zu anderen großen Theologen des 20. Jahrhundert wie etwa Albert Schweitzer oder Paul Tillich verfügt die Forschung bisher kaum über gesicherte Einblicke in Niggs Lebenslauf. Selbst unter den Weggefährten blieb seine äußerst bewegte Biographie weitgehend unbekannt. Diese Materiallage ist ein Grund, warum Niggs Name in den einschlägigen biographischen Portraitsammlungen großer evangelischer Theologen[3] des 20. Jahrhunderts in der Regel fehlt oder nur am Rande erwähnt wird. Ein zweites Hindernis für die Rezeption seiner Werke in der evangelischen Theologie der Nachkriegsjahre war der unbegründete Verdacht, Nigg folge katholisierenden Tendenzen. Man las Walter Nigg und ließ sich von der Gedankenfülle seiner Werke anregen, aber man scheute ihn zu zitieren, wie Jürgen Moltmann mir bestätigte: "Er ist in der Tat zu Unrecht etwas in Vergessenheit geraten. Um so mehr erwarten wir von Ihrer Biographie eine kräftige Vergegenwärtigung seiner Theologie. Warum er vergessen wurde, weiß ich auch nicht. Ich habe seine Werke gern gelesen und verdanke ihm viele gute Hinweise."[4]

Walter Niggs erste wissenschaftliche Arbeit über "Das religiöse Moment bei Pestalozzi"[5] wurde von der Universität Zürich nicht nur mit einem Preis ausgezeichnet, sondern brachte ihm die Einladung zur Mitarbeit an der historisch-kritischen Pestalozzi-Ausgabe[6]. Dass die Pestalozzi-Forschung Niggs Beiträge vergessen hat, gehört zu einer weiteren Besonderheit des Umgangs mit einem Grenzgänger zwischen Theologie und Pädagogik.

 


[1] Peter Stadler (Hrsg.). Die Universität Zürich 1933-1983. Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Universität Zürich. Verlag der Neuen Zürcher Zeitung. Zürich 1983. S. 254.

[2] Walter Nigg. Ein Wörtlein über meine Bücher. S. 4. Den Namen des Mannes, der "es genau wusste", gibt Nigg nicht preis.

[3] Walter Niggs Name fehlt beispielsweise in: Friedrich Wilhelm Kantzenbach. Programme der Theologie. Denker, Schulen, Wirkungen. Von Schleiermacher bis Moltmann. Claudius Verlag. München. 1978; Herbert Vorgrimler/ Robert Van der Gucht (Hrsg.). Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert. Bahnbrechende Theologen. Herder Verlag. Freiburg 1970. Im dritten Band von "Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert. Perspektiven, Strömungen, Motive in der christlichen und nichtchristlichen Welt" wird Nigg nur an zwei Stellen kurz zitiert.

[4] Jürgen Moltmann. Brief vom 3. November 2006 an Uwe Wolff. In seiner Autobiographie (Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte. Gütersloher Verlagshaus. Gütersloh 2006.) erwähnt er Walter Nigg nicht.

[5] Walter Nigg. Das religiöse Moment bei Pestalozzi. Preisschrift an der theologischen Fakultät der Universität Zürich mit dem Hauptpreis ausgezeichnet. Verlag von Walter de Gruyter & Co. Berlin 1927. Vgl. auch: Walter Nigg. Die Sexualethik und Sexualpädagogik Pestalozzis. In: Neue Schweizer Rundschau. XX. Jahrgang. Februar 1927. S. 119-130.

[6] Pestalozzi. Sämtliche Werke. Band 7. Die Kinderlehre der Wohnstube. Christoph und Else. Berarbeitet von Emanuel Dejung und Walter Nigg. Verlag von Walter de Gruyter. Berlin und Leipzig 1940.