Ida Friederike Görres

Gutheit als Knechtsgestalt der Heiligkeit

Heiligkeit - rätselhafteste, unaussagbare, unzugängliche, vorbehaltene Gotteigentümlichkeit: Wesen Gottes, hinter und über allem, was alte Weltfrömmigkeit als das Numinose kannte, als überwältigend-erhabene, als schaudervoll-erregende, als lockend-beglückende Ausstrahlung, die sich in tausend natürlichen Theophanien zeigt - aussondernd und erhöhend, Dinge, Menschen, Orte, Zeiten beglänzend, die in irgendeiner Weise ihr gewidmet sind. Dem Christen ist Heiligkeit wirklicher Einstrom, wirkliche Teilhabe jener innersten Herzmitte Gottes, die keiner erreichen, die nur Er schenken kann: Liebeseinung, deren letztes Bild die Hochzeit bleibt. Verliehene Heiligkeit, so versteht sich allmählich die langsame, unaufhörliche Reflexion dieses Geheimnisses, manifestiert sich in zwei Tatsachen: als Gnadein der unsichtbaren, unfassbaren, dem Wort fast ganz entzogenen "Injektion", von der Taufe dem Seelengrund, der "feinen Spitze" der Seele, eingestiftet; zweitens als Wirkung dieses Vorgangs, als die Antwort vom Menschen her, als "Wandel würdig der Berufung", als ihre Kundgebung in der Lebensumgestaltung.

Die ältere Kirche bedachte und betrachtete vor allem das erste Element und nannte alle ihre durch das Sakrament Eingegliederten 'Heilige'. Spätere Sekten haben diesen Sprachgebrauch wieder belebt. Die jüngere Kirche betonte das zweite, und diese Gepflogenheit beherrscht die katholische Tradition.

 

Wie aber kann, wie soll der Mensch dieses ihm Fremdeste ausdrücken, in welcher Dimension seines Lebens?

Auch in der alten Weltfrömmigkeit gab es 'göttliche Menschen', Leitbilder, die jeweils das Tremendum oder das Fascinosum spiegeln. Sie verkörpern Macht, Reichtum, Herrschaft, Hoheit, Schönheit, Zeugungsfülle, Wissen oder auch okkulte Schau und Kräfte, auf dem asketischen Weg gewonnen, alles höchstgegipfelte Potenzen der menschlichen Natur, zugleich Entsprechungen zu den Eigenschaften der Götter: Dies ist ihrer 'Abbildlichkeit', oft genug göttlicher Abkunft oder besonderer Erwählung zugeschrieben. In andern Worten: Numinos ist nur die große, die exzellierende Existenz.

Aber Christus hat die kleine, die geringe Existenz gewählt, bar all des aufgezählten Glanzes. Was bleibt ihr noch als Gott-spiegelnde 'Unterlage', und welches Attribut vermag sie abzubilden? Die Gutheit als Knechtsgestalt der Heiligkeit.

Innerhalb der unmessbaren Distanz der Analogien, in denen Göttliches sich in Irdischem darstellt, ist es die Gutheit, und sie allein, welche die innerste, fremdeste und unaussprechbare Heimlichkeit Gottes auf Erden erkennbar repräsentiert: gerade die Eigenschaft, die mit keinem Schimmer der alten 'Gottgestalten' verbunden zu sein braucht, die alle ohne sie bestehen können, und die oft genug entblößt von ihnen allen und wie am Rand ihres Daseins auftritt.

Jede Einzeltugend hat eine besondere Gestalt: als natürliche ist sie etwa Tapferkeit, Gerechtigkeit, Geduld, Großmut, Reinheit; ist Glaube, Hoffnung, Liebe im Bereich der religiösen Geheimnisse. Aber die 'Gutheit' hat weder Form noch legitimen Namen (wenigstens nicht - was merkwürdig genug ist - in unserer Sprache, die sie als 'Güte' eingeschränkt hat). Obschon auch wir sagen: dieser Mensch ist gut und der Herr gesagt hat: 'keiner ist gut, außer Gott'.

Ist Heiligkeit 'nackte' Gutheit, ihre entfaltete Fülle, ihre flammende Essenz und zugleich ihr verborgener Urquell, bar aller dämpfenden Krusten, Beimengungen, Vermummungen und Verzierungen? Ist sie wie der Wein zur Traube, der Schmetterling zur Raupe, das weiße Licht, dem alle sieben Farben sich entspielen?

Wie dem auch sei: Heiligkeit gibt es nicht ohne Gutheit; Gutheit nicht ohne Meidung der Sünde, ohne Halten der Gebote, ohne mühselige beständige Überwindung alles Widerstehenden. Hier steckt die so unbeliebte, so gern geleugnete, dennoch so unausreißbar tiefe Verknotung von 'Religion und Moral', auch die Wurzel jener 'Moralisierung der Religion durch das Christentum', der Vermoralisierung des Christentums, die heute so sehr berannt werden. Gewiss: dieser Aufruhr ist begreiflich, ist Notwehr. Akzente und Gewichte sind bis ins Absurde, Lächerliche, Unerträgliche verschoben und verdeutet worden, und wir bedürfen gründlichster Richtigstellung. Doch kein Missverständnis, keine Verzerrung vermag die Wirklichkeit des Urverhältnisses zu erschüttern: Heiligkeit und Gutheit haben miteinander zu tun, beide sind auf verschiedenen Ranghöhen Einverständnis mit dem Willen Gottes, dem richtenden, befehlenden, ordnenden, weisenden und auch verbietenden. Auf Erden ist und bleibt die mitgeteilte Gottesglorie demütigt verkleidet in den grauen Alltagskittel der 'sittlichen Bewährung'. Der Sünder kann nicht anders als durch 'Umkehr', praktische, detaillierte Umkehr und Gehorsam, durch die mühselige, oft so kleinlich scheinende Nachfolge Christi seine gnadenhaft geschenkte Sohnschaft erweisen.

Ein neues Leitbild entsteht: der Heilige, alle andern überragend an ungeahnter Macht und Strahlkraft.

 aus: Ida Friederike Görres, Weltfrömmigkeit. Aus dem Nachlass herausgegeben von Beatrix Klaiber, Frankfurt a.M. 1975, 151-154.