Kirche der Märtyrer

Die orthodoxen Kirchen in Osteuropa haben im 20. Jahrhunderte eine schmerzvolle Periode der Unterdrückung und Verfolgung durch die Kommunistischen Regime durchlebt. Diese Erfahrung prägt orthodoxe Christen nachhaltig, über die politische Wende von 1989 hinaus.

Die russische orthodoxe Kirche kanonisierte zum Beispiel während des Moskauer Bischofskonzils des Jahres 2000 die Märtyrer der Verfolgungszeit, zu denen auch die Familie des letzten Zaren Nikolaus' II. gehört. Den seitlichen und unteren Rand des Ikone bilden historisch belegte Martyriumsszenen aus der Verfolgungszeit:

Die französische Soziologin Laurence Beauvisage hat als Forscherin am "Institut national des langues et civilisations orientales" in Paris die Entwicklungen Russland nach der politischen Wende untersucht und dabei auch auf das amtliche Material der "Kommission für die Rehabilitierung der Opfer politischer Unterdrückungen" zurückgreifen konnte: vgl. Laurence Beauvisage: La croix et la faucille. La religion à l'épreuve du postsoviétisme, Paris 1998.

Sie weist in ihrem Buch die antireligiöse Verfolgung als Grundzug des sowjetischen Regimes auf:

November 1917: Enteignung der Kirche (Land, Gebäude, Finanzen).

Januar 1918: Trennung von Kirche und Staat sowie Schule und Kirche.

Der Widerstand kostete mindestens 28 Bischöfen, 1000en von Priestern, Ordensleuten und ungefähr 12.000 Laien das Leben.

1922: Liberalisierung während der Hungersnot von 1921-22; Patriarch Tichon richtete einen Aufruf seiner Kirche an die ausländischen Gläubigen. Damit daraus keine Steigerung des Ansehens für die Kirche werden konnte, ließ Lenin im Februar 1922 die Kirchengüter konfiszieren. Der Widerstand führte zu einer erneuten Verfolgungswelle, die 1000en von Laien und ungefähr 8.000 Priestern und Ordensleuten das Leben kostete.

Parallel dazu wurde ein promarxistischer Weltklerus der sogenannten „Kirche der Erneuerung" bzw. „Lebendigen Kirche" gefördert, die nach der Verhaftung des Patriarchen im Mai 1922 eine „provisorische Verwaltung der russischen Kirche" bildete. Doch die Mehrheit der Gläubigen kehrte im Juni 1923 zum freigelassenen Patriarchen zurück, die „Lebendige Kirche" verschwand endgültig etwa 1945.

1925 wurde die regierungsnahe „Liga der gottlosen Kämpfer" gegründet, die 1929 und 1932 zwei 5-Jahres-Pläne zur „Liquidation" der Religion aufstellte und eine weitreichende antireligiöse Propaganda entfaltete. Hatte die Verfassung von 1918 noch die „Freiheit der Religion und der Nicht-Religion" garantiert, so erfolgte 1929 die Einschränkung auf „die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und der antireligiösen Propaganda", 1936 unter Stalin auf „die Freiheit des religiösen Kultes und der antireligiösen Propaganda". Soziale, kulturelle, caritative und publizistische Tätigkeiten wurden unterbunden. Die obligatorische Registrierung der Pfarreien hing von den lokalen Soviets ab. Durch das Arbeitsgesetz wurden die arbeitsfreien Sonn- und Feiertage abgeschafft.

Während der Kollektivierungskampagne in der Landwirtschaft wurden zahlreiche Mitglieder des Klerus verhaftet, Kirchen zu 100en geschlossen, Glocken und Ikonen zerstört. Bsp. aus einem internen Bericht des Jahrs 1930: Im Distrikt von Serpuchov organisierte der Landwirtschaftsclub einen Schießstand im Innenhof der Kirche – die Ikonen dienten als Zielscheiben. In einer bereits geschlossenen Kirche wurde eine der Ikonen aus der Ikonostase herausgebrochen und an ihrer Stelle ein Lenin-Porträt aufgehängt.

Ergebnis: Von ca. 70.000 Kirchen und Kapellen vor der Revolution behielt die orthodoxe Kirche nur noch einige 100 Pfarrkirchen im Jahre 1940. Mehr als 600 Bischöfe (= 95 %) und 40.000 orthodoxe Priester (= 80 – 85 % des Klerus vor der Revolution) kamen bis zum Ende des 2. Weltkriegs um. Die katholische Kirche hörte Anfangs des 30er Jahre praktisch zu bestehen auf. Die protestantischen Gruppierungen verschwanden bis Ende des 30er Jahre. Die Millionen von Laien unter den Opfern sind nicht genau zu bestimmen.

Der II. Weltkrieg war ein Wendepunkt in der antireligiösen sowjetischen Politik. Aus taktischen Gründen lockerte man den Druck, um die nationalen Kräfte zu mobilisieren. Nach dem Krieg wurden die Baptisten, Evangelikalen, Pfingstler und Zeugen Jehovas sowie die katholischen unierten Kirchen als erste von neuen Verfolgungen betroffen. Durch die Gebietsgewinne in Litauen, Lettland und der Ukraine wurde die Katholische Kirche mit 12 Millionen Gläubigen die zweitgrößte christliche Gruppierung in den UdSSR. Als übernationale und daher nicht so leicht manipulierbare Institution wurde sie besonders erbittert verfolgt unter dem Vorwand mangelnder nationaler Loyalität und der Kollaboration mit den faschistischen Regimen. Widerstände gegen die Eingliederung der unierten Gläubigen in die orthodoxe Kirche wurden mit besonderer Grausamkeit niedergeschlagen.

Ab 1959 wurde unter Chruschtschow eine neue Kampagne gegen die Kirche lanciert, vor allem auf ideologischem Gebiet. Bis 1986 findet man in den Äußerungen M. Gorbatschows Aufrufe zu atheistischer Propaganda. Kurse in „wissenschaftlichem Atheismus" wurden verpflichtend in den Schulen wie in den Gymnasien. Die Gläubigen wurden „Bürger zweiter Klasse" und erfuhren alle möglichen Benachteiligungen. Zwischen 1959 und 1964 verringerte sich die Zahl der orthodoxen Kirchen um mehr als die Hälfte, vor allem auf dem Lande, und die meisten Klöster verschwanden. Viele Kirchengebäude wurden zerstört, z.T. gesprengt, oder verkauft. Auf raffinierte Weise versuchte man herausragende religiöse Persönlichkeiten zum Abfall zu bewegen und damit die Autorität der Kirche zu diskreditieren.

1961 wurde der orthodoxen Kirche eine „Reform" auferlegt, die die Aktivitäten der Priester strikt auf den geistlichen Bereich beschränkte. Lokale Agenten des Regimes wurden in die Gemeinderäte eingeschleust. Der „Rat für religiöse Angelegenheiten" wurde 1965 mit dem „Rat für religiöse Kulte" zusammengelegt und entwickelte sich zu einer Kontroll- und Leitungsinstanz.

Die 1000-Jahr-Feier der Christianisierung Rußlands 1988 erweckte den Eindruck einer offiziellen Versöhnung des sowjetischen Staates mit der Religion. Der Staat übertrug der Kirche gleichsam die Wiederherstellung der öffentlichen Moral einschließlich der sozialen Werte.

Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Kirche zu den größten Opfern des Kommunismus gehörte. Die Kommission zur Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen legte am 27. November 1995 einen Bericht vor, wonach zwischen 1917 und 1980 200.000 Mitglieder des Klerus umgebracht und 500.000 weitere inhaftiert oder deportiert worden sind. Die Zahl der Kirchen ist auf 10 % reduziert worden. Im Jahr 1986 verfügte die Orthodoxe Kirche über 7.500 Priester (77.680 im Jahre 1917) für 5.800 Kirchen (mehr als 70.000 vor der Revolution) sowie 17 Klöster (mehr als 1.000 vor 1917).

Laurence Beauvisage stellt eine unerwartete, aber sehr pausible These auf: Die Sowjetperiode bedeutet nicht etwa eine Säkularisierungsphase, die durch eine neue religiöse Prägung der Gesellschaft abgelöst wird - im Gegenteil: "aussi paradoxal que cela paraisse, l'expérience soviétique aura finalement retardé la sécularisation de la Russie" (130). Die Sowjetideologie war gleichsam eine staatlich auferlegte Zwangsreligion, die das gesamte gesellschaftliche Leben durchdrang. Erst die postsowjetische Zeit geht mit den typischen Merkmalen der Säkularisierung einher.