Gastkommentar

Temporärer Machtzuwachs des Bundesrats: Zur Frage der Gewaltenteilung in Pandemiezeiten

Wie kann die Gewaltenteilung in ausserordentlichen Lagen so gut wie möglich aufrechterhalten und möglichst schnell wiederhergestellt werden?

Andreas Stöckli, Eva Maria Belser und Bernhard Waldmann
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In Krisenzeiten haben in Bern Bundesrat und Verwaltung das Sagen.

In Krisenzeiten haben in Bern Bundesrat und Verwaltung das Sagen.

Denis Balibouse / Reuters

In der Corona-Krise haben Regierungen das Zepter in der Pandemiebekämpfung in die Hand genommen. Parlamente sind vorläufig zu Nebendarstellern zurückgestuft worden. So auch in der Schweiz. Der temporäre Machtzuwachs des Bundesrats, der über einen ressourcenstarken Verwaltungsapparat verfügt, erweist sich zur Aufrechterhaltung der staatlichen Handlungsfähigkeit aber als sachgerecht – eine Erkenntnis, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Staatslehre zieht. Das Bundesparlament ist weniger gut in der Lage, rasch und effektiv zu handeln. In einer Pandemie zeigt sich dies besonders deutlich, da Massnahmen dauernd den sich ändernden Verhältnissen angepasst werden müssen.

Defizite und Vorschläge

Um Missbräuche zu verhindern, sind die exekutiven Notrechtsbefugnisse allerdings bereits heute in ein Korsett rechtsstaatlich-demokratischer Sicherungen eingebunden, die nach der UBS-Rettungsaktion in der Finanzkrise teilweise gestärkt worden sind. Dieses Sicherungsnetz weist allerdings einige Defizite auf, weshalb Verbesserungen für zukünftige Krisen ins Auge zu fassen sind.

Erstens könnten die Rolle der Bundesversammlung in ausserordentlichen Lagen und die demokratische Legitimation der Massnahmen durch einen vorgängigen und begleitenden Einbezug des gesamten Parlaments, einer Parlamentskommission oder -delegation gestärkt werden. Der Bundesrat könnte beispielsweise verpflichtet werden, dem Parlament in periodischen Abständen die Frage vorzulegen, ob die Voraussetzungen für notrechtliches Handeln (noch) erfüllt sind. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass ein zu starkes Zusammenwirken der Gewalten Verantwortlichkeiten verwischen und die nachträgliche parlamentarische Kontrolle schwächen kann.

Zweitens sind die parlamentarischen Möglichkeiten der Einflussnahme auf die einzelnen exekutiven Massnahmen zu stärken. In der laufenden Corona-Krise hat der Bundesrat der Bundesversammlung informell zugesichert, parlamentarische Motionen rasch zu behandeln und bei Mehrheiten in beiden Räten umgehend umzusetzen. Für die Zukunft sind verpflichtende und dringliche Formen der Einflussnahme und der Zusammenarbeit zu finden. Kann sich das Parlament nicht rasch in die bundesrätlichen Entscheidungsprozesse einbringen, besteht die Gefahr, dass es eigenes Notrecht erlässt und damit die Kohärenz der Pandemiebekämpfung beeinträchtigt.

Drittens sollten die Rechtsgrundlagen für ein «E-Parlament» geschaffen werden, um die eidgenössischen Räte in ausserordentlichen Lagen widerstands- und handlungsfähiger zu machen. – Viertens sollten Rechtsschutzlücken in Bezug auf die Notrechtsanwendung geschlossen werden. Zu überlegen ist insbesondere, gegen notrechtliche Akte des Bundesrats (und allenfalls auch des Parlaments) eine direkte Anfechtungsmöglichkeit (im Rahmen eines Eilverfahrens) beim Bundesgericht einzuführen. – Fünftens sollte der Bundesrat gesetzlich verpflichtet werden, die Gründe für die einzelnen notrechtlichen Massnahmen in einem begleitenden schriftlichen Rechenschaftsbericht darzulegen.

Auch wenn davon auszugehen ist, dass das Parlament die exekutive Krisenbewältigung im Nachhinein einer Überprüfung zuführen wird, sollten sechstens eine entsprechende Pflicht und der Prüfungsinhalt gesetzlich verankert werden. – Siebtens sollten die im Epidemiengesetz (Art. 7) und in der Bundesverfassung (Art. 185 Abs. 3) verankerten Notrechtsbefugnisse des Bundesrats einer detaillierten Analyse hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs, ihrer Schranken, ihrer Modalitäten und ihres gegenseitigen Verhältnisses unterzogen und allenfalls präzisiert werden; zu prüfen wären zudem einige zusätzliche Bestimmungen im Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz.

Kein extrakonstitutionelles Notrecht

Der Bundesrat hat sich unseres Erachtens bisher grundsätzlich auf dem Boden gesetzlicher und verfassungsrechtlicher Zuständigkeiten bewegt. Im Gegensatz zu einigen autoritären Regierungen im Ausland hat er sich auch nicht Kompetenzen angeeignet oder sich mit solchen ausstatten lassen, die über das zur Bekämpfung der Pandemie Notwendige hinausgehen. Insofern hinkt auch der Vergleich mit den «Vollmachtenregimen» während der beiden Weltkriege, die ausserhalb der Bundesverfassung standen («extrakonstitutionelles Notrecht»).

Im Hinblick auf die nachträgliche Aufarbeitung und Beurteilung der bundesrätlichen Notrechtsanwendung sollte sich das Parlament nicht zuletzt auch mit der Idee auseinandersetzen, eine unabhängige, mit externen Fachexperten besetzte Rechtskommission einzusetzen, deren Schlussfolgerungen in den parlamentarischen Untersuchungsbericht Eingang finden könnten. Diese Idee könnte deshalb vielversprechend sein, weil die gerichtliche Kontrolle – soweit ersichtlich – derzeit kaum zum Tragen kommt und die Gefahr besteht, dass eine rein parlamentarische Aufarbeitung der exekutiven Notrechtsanwendungen zu stark parteipolitisch gefärbt sein dürfte.

Andreas Stöckli, Eva Maria Belser und Bernhard Waldmann unterrichten Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Freiburg und leiten gemeinsam das Institut für Föderalismus.