Forschungsprojekt „Tradition und Theologie. Wandel als Möglichkeit islamischer Hermeneutik“

Das Sich-Berufen auf islamische Tradition stößt in gegenwärtigen muslimischen Wissensdiskursen auf ein enormes Interesse. Die Bewahrung und Weitertradierung des Islam als religiöses Symbolsystem ist nicht nur Kernforderung globaler muslimischer Orthodoxie. Auch für etliche areligiöse oder andersreligiöse Menschen in der muslimischen Welt ist die Bewahrung islamischer Tradition unabdingbarer Teil ihrer kulturellen Identifikation. Auffallend ist zugleich, dass es trotz der elementaren Bezugnahme auf Tradition kaum zu Ausformulierungen einer systematischen Traditionstheorie gekommen ist. Die Rede über islamische Tradition ist daher genauso inflationär wie inhaltlich unscharf. Mit Beginn des 19. Jh. lassen sich jedoch intensivere Ansätze dokumentieren, die sich einer systematischen Konzeption des Begriffs und des Verstehens Islamischer Tradition widmen. Die hier intendierte Forschung meint jedoch gerade nicht die Behandlung einer beliebigen Fragestellung zum Islam unter den Vorzeichen einer „Spannung zwischen Tradition und Moderne“. Es geht in diesem Forschungsprojekt darum zu ermitteln, inwiefern sich ein spezifisch islamisches Verständnis des Traditionsbegriffes feststellen lässt. Damit unmittelbar einhergehend stellt sich die Frage nach der Wandlungs- und Aktualisierungsfähigkeit islamischer Religionshermeneutik; die Bestimmung des Verhältnisses von Tradition und Wandel berührt insofern die Frage nach der Funktion und Aufgabe religiöser Weltanschauung sowie ihrer akademischen Artikulation.

Der Philosoph Peter Sloterdijk bezeichnete Tradition einmal als eine „Replikationskompetenz“, also als ein Vermögen von Zivilisationen, ihre Langlebigkeit durch die selbstähnliche und sakral gewordene Wiederholung von prägenden Merkmalen der Sprache, Ethik, des Rituals und des Mythos zu erhalten (Sloterdijk (2013): Der Heilige und der Hochstapler, S. 13-19). Das Mittel dieses Vermögens sei die überwachte Replikation von Kultur: identitäts- und replikationsgefährdende Innovationen würden ausgeschaltet, nicht-abwehrbare Innovationen sorgsam integriert. Je optimaler also einer Zivilisation der Prozess der positiv-negativen Traditionsbildung gelänge, desto höher sei ihre Replikationskompetenz und damit einhergehend die Aussicht für ihre Weiterexistenz. Sloterdijk verwendet für die Beschreibung dieses Prozesses den Begriff „elastischer Konservatismus“. Neben dem Begriff der Tradition wird der Begriff des Wandels demnach zur zweiten wichtigen Zutat eines soziokulturellen Amalgams, das sich zum Zwecke seines Weiterbestehens eben dieser Elastizität versichern muss. Was eine Aufnahme dieses Ansatzes für die Diskussion um die Erschließung eines islamischen Traditionsbegriffs bedeutet, macht der marokkanische Philosoph Mohammad Abed Jabri deutlich. Die Grundthemen der Auseinandersetzung in seiner Kritik der arabischen Vernunft betreffen gleichsam das Verständnis von Tradition und Wandel. Jabri dekonstruiert das bis dato weitgehend herrschende Verständnis von Tradition und Wandel in muslimischen Wissensdiskursen, indem er das kategoriale Sich-Berufen auf Tradition als ein übermächtiges Paradigma beschreibt, das wiederum mit Sloterdijk gesprochen, seine elastische Konsistenz zu verlieren riskiert.

Das Ziel des Forschungsprojektes „Tradition und Theologie. Wandel als Möglichkeit islamischer Hermeneutik“ besteht darin, anhand einschlägiger Autoren und Wissensdiskurse eine systematische Untersuchung zu traditionstheoretisch verwertbaren Begriffen und Konzepten muslimischer Religionshermeneutik zu leisten. Welche begrifflichen und konzeptionellen Äquivalente von Tradition und Wandel lassen sich in muslimischen Wissensdiskursen identifizieren? Welche unterschiedlichen Vorstellungen von Tradition und ihres Verhältnisses zu Geschichtlichkeit, Ereignis und Erinnerung zeigen muslimische Gelehrte der Moderne auf? Welche Möglichkeiten sehen muslimische Religionsgelehrte religiöse Weltdeutungen zu aktualisieren und welche Instrumente entwickeln sie dazu? Welche Aufgabe resultiert daraus für eine akademisch betriebene Theologie? In welchem Verhältnis steht der muslimische Traditionsbegriff zu Fragen sozialer und religiöser Vergewisserung? Das Forschungsprojekt „Tradition und Theologie. Wandel als Möglichkeit islamischer Hermeneutik“ bietet unterschiedliche Formate wissenschaftlicher Beiträge in Form von Vorträgen, Aufsätzen und Tagungen, die auf dieser Plattform sukzessive zur Verfügung gestellt werden und in eine finale Monographie fließen.

ProjektverantwortungProf. Dr. Amir Dziri