Interview

«Am Ende bezahlt immer die alte blinde Frau»

Korruption, Bestechung, Günstlingswirtschaft. Die Begriffe sind negativ besetzt. Aber wo liegt über­haupt das Problem? Wir haben uns mit Wirtschafts­professor Reiner Eichenberger und Rechtsprofessor Marcel Niggli unterhalten.

Meine Herren, ich habe Ihnen je ein Mandelbärli mitgebracht. Was bekomme ich dafür?

Marcel Niggli: Sie bekommen Nettigkeit, Anstand, Goodwill. Wenn Sie freundlich grüssen, werden Sie freundlich zurückgegrüsst. Aber auch nicht mehr.

Reiner Eichenberger: Das Bärli ist eine nette Geste: Sie haben sich vorbereitet und dieses Geschenk nehme ich gerne an. Wenn Sie mir stattdessen zwei Franken hingelegt hätten, wäre meine Reaktion sicher eine andere gewesen. Auch bei Bestechung gilt: Es kommt sehr darauf an, wie man es tut.

Marcel Niggli: Das Mitbringsel ist ja nett, aber wenn Sie damit eine Debatte über Korruption starten wollen, gehen Sie komplett in die falsche Richtung. Ein Bärli ist doch keine Bestechung! Es ist eine Aufmerksamkeit. Und solche Aufmerksamkeiten sind wichtig: Eine Gesellschaft funktioniert nämlich nur, wenn man gegenseitig nett ist. Wenn ich dem Zimmermädchen Trinkgeld gebe, dann bezahle ich damit ja nicht ihren Lohn, sondern signalisiere einfach «ich schätze das, was Du tust – und wenn Du es besonders gut machst, schätze ich es besonders».

 

Ein Geschenk verlangt also nicht automatisch nach einer Gegenleistung?

Marcel Niggli: Rechtlich nicht. Aber Menschen sind kompliziert: an Weihnachten ein Geschenk von jemandem zu erhalten, für den man selber keines hat, ist unangenehm. Wir wollen etwas zurückgeben. Deshalb bedarf rechtlich die Schenkung auch einer Annahme. Sie können niemandem etwas gegen seinen Willen schenken. Aber das Problem sind nicht die Geschenke, sondern die Tendenz, jeden Austausch von Nettigkeiten als Geschäft zu definieren. Das ist eine sehr amerikanische, d.h. anonyme Logik. Das führt dazu, dass sogar zwei, die miteinander Sex haben wollen, zuerst einen Vertrag unterschreiben müssen (Anm.d. Red.: «Yes-means-Yes-Gesetz»).

Wir sollten aufpassen, dass wir nicht alles durch diese kurzfristige wirtschaftliche Tausch-Optik betrachten. Wenn wir anfangen, empathische Gesten als Bestechung zu sehen, dann haben wir ein Problem. Dann haben wir eine Gesellschaft, die nicht solidarisch ist und die wird nicht funktionieren.

 

Wann wird die Nettigkeit zur Bestechung?

Reiner Eichenberger: Also das Bärli ist natürlich keine Bestechung. Bestechung ist immer Diebstahl. Wenn Sie dem Polizisten Geld geben, damit er Ihnen keine Busse gibt, dann bestehlen Sie gemeinsam den Staat und teilen sich die Beute – nämlich das Bussgeld.

Marcel Niggli: Das sehe ich anders. Mein Problem ist, dass wir angefangen haben, Dinge als Bestechung zu beurteilen, die keine sind. In Deutschland wurde eine Lehrerin verurteilt, weil ihr die Eltern am Ende des Schuljahres ein Geschenk gemacht haben und sie es angenommen hat. Wo bitte ist hier das Problem? Oder sagen wir ich habe ein Geschäft und ein Polizist kommt vorbei. Früher konnte ich dem auf seiner Runde einen Kaffee anbieten. Heute ist das strafbar, wenn ich es regelmässig tue. Dabei sehe ich echt nicht, wo da der Schaden ist. Wenn man diesen Kaffee unter Strafe stellt, heisst das, man möchte eine Gesellschaft, in der niemand niemanden mag.

 

Marcel Alexander Niggli, © STEMUTZ.COM

Ihnen geht es also um diese Freundlichkeiten in der Grauzone.

Marcel Niggli: Also Entschuldigung: Grauzone! Ich darf doch jemandem etwas schenken!

Reiner Eichenberger: Wir müssen konkrete Beispiele anschauen. Wenn man zum Zöllner nett ist und 100 Dollar in den Pass legt: ist das verwerflich? Ja, weil man eben nicht nur erwartet, dass er freundlich ist, sondern will, dass er gewisse Kontrollpflichten vernachlässigt. Auch wenn man das Geld natürlich aus Freundlichkeit geben kann, weil der arme Mann sein Leben lang am Zoll stehen muss.

Marcel Niggli: Und wenn ich ihm den Schein nach der Kontrolle gebe? Nach geltendem Recht besteche ich ihn damit fürs nächste Mal. Ich hingegen halte das für zulässig. Wenn er nett war, kann ich ihm doch etwas geben.

Reiner Eichenberger: Das Problem ist: Menschen sind keine isolierten passiven Schafe. Wenn einzelne Reisende Zöllnern etwas geben, spricht sich das herum. Manche Zöllner werden dann anfangen, Leute, die nicht bezahlen übermässig schlecht zu behandeln. Dieser Übergang passiert leider schnell. Auch wenn Polizisten für das Nicht-Erheben von Bussen bestochen werden können, spricht sich das herum. Dann dauert es nicht lange und man hat keine Polizei mehr, sondern Wegelagerer.

 

Das hat dann auch volkswirtschaftliche Konsequenzen.

Reiner Eichenberger: Ja. Dazu gibt es tolle Studien für Entwicklungs- und Schwellenländer. Wenn das System korrupt ist, gehen die gescheitesten Leute dorthin, wo sie am besten Geld abschöpfen können. Dann sitzt die Intelligenzija am Zoll. Ausserdem muss man irgendwann nur schon bestechen, damit man an eine Stelle kommt, an der man sich bestechen lassen kann.

 

Aber hat Bestechung denn nur Nachteile? Nehmen wir einen Arzt im Busch, der von jedem Kunden so viel holt, wie er holen kann. Der kann dann auch wieder mehr Medikamente kaufen, wovon seine Patienten profitieren.

Reiner Eichenberger: Das führt einfach zu einem Wettbewerb, wer in den schäbigsten Kleidern ins Spital kommen kann. Zudem kann der «honorige Arzt» von den Patienten am meisten verlangen, die keine Alternativen haben. Also von den Schwächsten und Armen. Die Reichen fahren einfach mit dem Auto in ein anderes Spital.

 

Sie halten also nichts davon, dass Reiche mehr bezahlen müssen.

Reiner Eichenberger: In der Theorie klingt das nett, ist aber in der Praxis pervers. Nehmen Sie die Grossverteiler: Die haben grosse teure Abteilungen, die sich mit Preisdifferenzierung beschäftigen. Anfangs denkt man noch «toll, solche Aktionen sind gut für die Familien». Die Folge ist aber, dass die Immobilen und Bedürftigen mehr bezahlen. Wer kauft denn die ganzen Aktionen? Leute mit Zeit und Fähigkeiten, um nach Aktionen zu suchen und das Gekaufte einzulagern. Und wer kann das nicht? Alleinerziehende Mütter und alte blinde Frauen.

Marcel Niggli: Und was ist mit den Steuern? Da bezahlen die Reichen ja auch mehr.

Reiner Eichenberger: Ja, aber erstens profitieren Reiche auch überproportional von staatlichen Leistungen und zweitens geschieht es nach klaren Regeln.

Marcel Niggli: Ausser bei denen, die reich und mobil sind.

 

Gehen wir zurück zur Bestechung. Stichwort FIFA.

Marcel Niggli: Da sehe ich ehrlich gesagt das Problem nicht. Die FIFA tut, was sie tun darf: Sie vergibt Spiele. Wenn alle möglichen Gastgeber valabel sind, muss die WM ja irgendwo hin und die FIFA hat die Kompetenz, das zu entscheiden. Natürlich sieht es nicht schön aus und natürlich ist es unfair, wenn bestochen wird. Aber ich sehe nicht, wer geschädigt ist. Am Ende steht dann die Behauptung, die «Reinheit des Sports» sei geschädigt. Was ist das bitte für eine Vorstellung?

Reiner Eichenberger: Dass es bei der Vergabe von Sportanlässen Absprachen gibt, ist nicht neu. Aber früher wurde mit Sportanlässen bezahlt. Wir stimmen für Togo bei der Weltmeisterschaft im Ringen, dafür stimmt Togo für uns bei der Fussball-WM. Entsprechend ging es den Delegierten noch um Sport, und jeder konnte mitmachen. Heute ist die Währung aber Geld. Das führt dazu, dass jene die nicht bestechen wollen oder nicht bestechen können, gar nicht kandidieren. Dann hat man am Ende die Wahl zwischen Russland, Katar und ähnlichen Kandidaten.

 

Und was lässt sich dagegen tun?

Reiner Eichenberger: Bei der FIFA sehe ich drei Lösungen. Entweder man vergibt sie transparent an den offen Meistbietenden. Oder man vergibt sie nach einer Vorauswahl per Los. Oder man macht Volksabstimmungen wie bei Gesangswettbewerben.

 

Und wie können Staaten gegen Korruption vorgehen?

Marcel Niggli: Sicher nicht mit Gesetzen. Heute haben wir immer mehr Regulierungen. Da wird alles Mögliche kriminalisiert. Wenn wir eine Geschäftsbeziehung haben und ich lade Sie zum Essen ein, dann ist es möglicherweise Bestechung. Aber vielleicht ist es auch einfach eine nette Geste. Wenn zwei Geschäftspartner im Bett landen, betrifft das sicherlich nicht den Staat! Was wir brauchen sind nicht mehr Gesetze, sondern mehr Augenmass und weniger Moralin. Das Verwaltungsrecht glaubt ja, dass man alles mit Verordnungen lösen kann. Und weil das nicht funktioniert, braucht es zu jeder Verordnung noch eine Zusatzverordnung. Das Problem ist nur: damit schränkt man Korruption nicht ein – man fördert sie. Jede Regel muss interpretiert werden. Und das kann man so oder anders tun. Mehr Regeln bedeuten mehr Ermessen, mehr Nischen und mehr Spezialisten – die dann wieder eine gewisse Macht haben und anfällig sind für Korruption. Am Ende haben Sie dann wieder so Hubers, die…

 

Reiner Eichenberger, © STEMUTZ.COM

Hubers?

Reiner Eichenberger: Raphael Huber hat in Zürich vor rund 30 Jahren die Restaurantküchen kontrolliert. Geld hat er natürlich keines genommen, das wäre primitiv gewesen. Aber er hat Bilder seines Grossvaters überteuert verkauft. Am Schluss musste die Polizei nur schauen: Welcher Wirt hat einen Original Huber auf dem Estrich?

Marcel Niggli: Ich plädiere einfach für mehr Einfachheit, mehr Dezentralisierung und weniger Moralin.

Reiner Eichenberger: Wir haben jetzt ganz unterschiedliche Fälle angeschaut und es braucht auch unterschiedliche Massnahmen. Was sicher hilft, ist Machtmonopole zu brechen. In vielen Schwellenländern können Sie heute Formulare online ausfüllen und so den korrupten Beamten mit dem Stempel umgehen. Oder man stellt einfach einen zweiten Beamten ein. Etwas anderes ist, vernünftige Regeln zu erlassen, die transparent, leicht nachvollziehbar und einfach einklagbar sind. Weiter hilft es, wenn man die Leute anständig bezahlt. Wenn ein Polizist von seinem Lohn nicht leben kann, dann kommen nur Leute zur Polizei die gut Geld eintreiben können. Und schliesslich hilft es, eine Kultur der Nichtbestechlichkeit aufzubauen.

 

Ist denn Korruption eine kulturelle Frage?

Reiner Eichenberger: Die Kultur ist weniger die Ursache von Korruption, als ihre Folge. Nehmen wir die Steuermoral: wenn ich in der Schweiz keine Steuern zahle, sagen die Nachbarn «Du Betrüger, das Geld fehlt doch bei uns in der Gemeindekasse». Hingegen wenn ich auf einer griechischen Insel Steuern bezahle, sagen meine Nachbarn «Du Trottel, alles Geld geht nach Athen und kommt nie mehr zurück». Deshalb ist die von Herrn Niggli angesprochene Dezentralisierung ein vernünftiges Mittel gegen Korruption. Oft lohnt es sich auch, international das Image des Saubermanns zu haben. Wenn Sie den Ruf haben, dass Sie bestechen, macht der Zollbeamte die hohle Hand. Weiss man aber, dass Sie nicht bestechen und den Zöllner sogar noch verklagen, wenn er zu viel verlangt, dann bekommen Sie die Dinge am Ende gratis. Es braucht Zeit, sich so einen Ruf aufzubauen, aber es lohnt sich.

 

Frage zum Schluss: Haben Sie auch schon bestochen oder sind bestochen worden?

Marcel Niggli: Also bestochen habe ich noch nie und ich würde es auch nicht tun. Nur schon aus Respekt vor mir selbst. Ich würde es aber tun, wenn beispielsweise mein Sohn eine neue Leber bräuchte, die ich sonst nicht bekäme. Umgekehrt hatte ich einmal einen Studenten, der eine Frist verpasst hatte. Da stand eines Tages der Vater vor mir, legte die Brieftasche auf den Tisch und meinte: «Also, wieviel macht das?».

Reiner Eichenberger: Das hat es bei mir auch schon gegeben. Ein Vater meinte, er habe schöne Hotels in der Ägäis und ich könne ja sicher auch mal Ferien vertragen.

Marcel Niggli: Für unsere Studenten ist es wichtig zu lernen, dass gewisse Dinge nicht verhandelbar sind. Erwachsenwerden heisst, lernen Konsequenzen zu tragen. Und solange die nicht unmenschlich sind, solange einer nicht ausgeschafft wird oder nie mehr studieren darf, ist es wichtig, dass wir lernen, dass die Regeln auch für uns gelten.

 

Ich sitze also zwei unbestechlichen Menschen gegenüber.

Reiner Eichenberger: Nein, nein: wir sind näher an der Bestechlichkeit, als wir denken. Ein Beispiel sind die Flugmeilen. Wenn die Uni die Flugtickets zahlt und die Professoren die Meilen erhalten, haben diese ein Interesse, beim nächsten Mal nicht mit der billigsten Airline zu fliegen sondern mit jener, von der sie Flugmeilen bekommen. Dann bestehlen sie zusammen mit der Fluggesellschaft die Universität. Zum Glück ist das in Freiburg anders. Da zahlen viele Professoren ihre Flüge für die Uni mit ihren eigenen Meilen.

 

Marcel Alexander Niggli ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie. Er hinterfragt aus juristischer Perspektive Notwendigkeit und Nutzen von Regulierungen zur Bestechungs­bekämpfung.

marcel.niggli@unifr.ch

 

Reiner Eichenberger ist Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschafts­politik. In seinen Studien analysiert er politische Institutionen und verknüpft ökonomische mit psychologischen Ansätzen, etwa in der Auseinandersetzung mit Bestechlichkeit.

reiner.eichenberger@unifr.ch