Forschung & Lehre

Ein Talent mit Potential

Gesichtserkennung ist das Thema der Stunde, wenn es um kluge Maschinen geht. Noch aber ist das menschliche Gehirn der Technik um Lichtjahre voraus. Wieso wir Menschen so gut Gesichter erkennen, ist nach wie vor nicht erklärt. Und wieso es gewisse gar nicht können, ebenso wenig.

Unser Gehirn ist ein kleines Wunder von einem Apparat – das wissen wir. Eine der unglaublichsten Leistungen unseres Denkorgans fällt uns jedoch normalerweise gar nicht auf, obwohl sie für unseren Alltag von zentraler Bedeutung ist. Irgendwie schaffen wir es, hunderte oder gar tausende zuverlässig auseinanderzuhalten, obwohl sie sehr ähnlich sind: Gesichter. Auch Maschinen lernen das übrigens allmählich. Eben ist in Berlin an einem Bahnhof einer der ersten grossen Tests angelaufen, mit dem Polizeibehörden herausfinden wollen, ob die Technik schon flächendeckend eingesetzt werden könnte. Drei Kameras filmen seit dem 1. August sämtliche Passanten, 300 Testpersonen die den Bahnhof regelmässig benutzen, haben ihre Gesichter speichern lassen. Nun will man herausfinden, ob der Computer die gespeicherten Gesichter zuverlässig aus dem Passantenstrom herausfiltern kann. Datenschützer schlagen Alarm, denn hier stehen nicht nur die üblichen Privatsphären-Themen zur Debatte, es geht um einen der Grundpfeiler unseres Zusammenlebens – das Erkennen beziehungsweise Nichterkennen von Gesichtern. Denn unsere Gesichtszüge sind gewissermassen eine für alle sichtbare Identitätskarte – würde diese immer und überall gescannt, dann wäre es vorbei mit der angenehmen Anonymität, wie wir sie gerade in der Grossstadt schätzen.

 

Damit vorbei wäre es übrigens auch mehr oder weniger, wenn wir alle über die besonderen Fähigkeiten der sogenannten Super-Recognizer verfügen würden. Diese Superhelden der Gesichtserkennung hebeln eine der Bedingungen der Anonymität aus – nämlich, dass wir uns nicht jedes Gesicht ewig merken können. Das hat zur Folge, dass wir laufend vor allem Unbekannten begegnen, obwohl wir sie vielleicht schon mal gesehen hatten, vor Jahren, auf einem Bild oder wo auch immer. Super-Recognizer vergessen so gut wie kein Gesicht, sie bauen allmählich einen riesigen Katalog von Identitäten auf, auf den sie jederzeit ohne weiteres zugreifen können. Aus diesem Grund ist auch die Polizei daran interessiert, statt mit Bilderkennungs-Maschinen mit Super-Recognizern zusammenzuarbeiten, zum Beispiel für das Abgleichen von Überwachungskamera-Aufnahmen und Bilddatenbanken von Verdächtigen – auch in Freiburg (CH) gab es schon solche Kollaborationen.

 

Obwohl wir nicht alle Super-Recognizer sind, ist unsere Gesichtserkennungsfähigkeit auch im Normalmodus bemerkenswert. Und sie ist nach wie vor um Welten besser als bei Computern, glaubt die Neurowissenschaftlerin Meike Ramon, die an der Uni Freiburg zur Gesichtserkennung forscht (siehe Kasten). Allerdings hört man von Machine Learning-Experten oft etwas Anderes, besonders in den letzten Jahren – dank Deep Learning hat die Technologie tatsächlich grosse Fortschritte gemacht. «Die meisten automatisierten Programme operierten bislang auf der Grundlage von Bildvergleichen und versagten schon, wenn sich zwei Bilder derselben Person hinsichtlich oberflächlicher Merkmale wie Auflösung, Beleuchtung, etc. unterschieden», sagt Ramon. Das menschliche Gehirn hingegen sei richtig gut in der Erkennung von bekannten Gesichtern, selbst nach nur wenigen Interaktionen. Solche findet es in allen möglichen und unmöglichen Situationen, bei denen der Computer vergleichsweise chancenlos ist. Eine Freundin trägt eine dunkle Sonnenbrille? Kein Problem, dabei ist eigentlich klar, dass die Augenpartie eine zentrale Rolle bei der Gesichtserkennung spielt. Die Freundin hält ihr Gesicht nicht still, sondern tanzt und schüttelt ihr Haar? Kein Problem. Es ist nicht heller Tag, sondern wir suchen sie im Gewühl einer Disco auf der Tanzfläche? Kein Problem. Zudem können wir auch mit Unschärfen umgehen: So macht es uns keine grosse Mühe, Bekannte auf Kinderfotos zu identifizieren. «Bis ein Computer das kann, braucht er pro Identität um die 1000 Gesichtsfotos», so Ramon.

 

© Getty Images

Wie macht das Gehirn das? Das ist noch lange nicht abschliessend geklärt – intensiv erforscht wird das Gebiet erst seit kurzem. Einen Meilenstein gab es vor exakt 20 Jahren: Eine Forschungsgruppe postulierte spezialisierte Gehirnareale mit sonderbaren Namen, die immer dann «aufleuchteten» wenn wir ein Gesicht im Vergleich zu anderen Objekten wahrnehmen: die Fusiform Face Area (FFA) und die Occiptal Face Area (OFA).Die Idee, dass es nur ein paar spezifische Gesichtserkennungsareale oder Module im Gehirn gibt, sei inzwischen überholt, sagt Ramon. Man müsse sich das eher so vorstellen, dass ein ganzes Netzwerk von Arealen zusammenspielt und dabei wohl auch verschiedene Erkennungssignale zugleich verarbeitet. Klar ist, dass wir Gesichter auf grosse Distanz ganz anders erkennen als wenn wir sie von Nahem sehen – das Gehirn verfügt da wohl über eine ganze Palette von unterschiedlichen Werkzeugen, die je nachdem auch andere Gehirnregionen beschäftigen. Was auch zweifellos feststeht: Die Gesichtserkennung hat einen exklusiven Status im Datenfluss des Gehirns – wenn wir Gesichter erkennen passiert etwas distinktiv Anderes als wenn wir Objekte erkennen.

 

Diesbezüglich scheinen wir also alle über gewisse Superhelden-Fähigkeiten zu verfügen. Beziehungsweise: nicht alle. Denn den Super-Recognizern stehen die notorisch Unbegabten in Sachen Gesichtserkennung gegenüber. Zu denen sich übrigens auch der Autor zählt. Besuch also am Departement für Psychologie, im Forschungslabor von Meike Ramon im Keller des Regina-Mundi-Gebäudes: Während des Gesprächs kommt die Rede auf die Tests, mit denen die Gesichtserkennungs-Fähigkeiten erfasst werden können; der Autor erwähnt beiläufig die Selbstdiagnose «milde Gesichtsblindheit». Das interessiert die Expertin natürlich, sie startet einen Computer auf und führt in einen Nebenraum. Man nimmt Platz vor einem Screen mit Sichtblenden und nimmt eine Maus zur Hand. Dann startet der Test – der einem zumeist wie ein frustrierendes Spiel vorkommt: in jedem Durchgang taucht kurz ein Gesicht auf, nach rechts oder links gedreht, dann muss man aus zehn verschiedenen «normalen» Frontal-Porträts auswählen, wen man da zuvor gesehen hat. Nach und nach wird die Schwierigkeitsstufe erhöht – zum Teil sind aus den Gesichtern so viele Information herausgefiltert worden, dass sie aussehen wie aus einem surrealen Horrorfilm. So können die Forschenden herausfinden, welche Merkmale bei der Identifikation besonders wichtig sind, wie etwa die Augenpartie. Und wie erwartet: Der Proband schneidet lausig ab – meistens muss er die Zuordnung komplett zufällig vornehmen, weil ihm die Vorlage so gut wie keine Erkennungsmerkmale geliefert hat. Ramon zieht die Stirn lächelnd in Falten: «Einmal haben Sie nicht mal das Geschlecht richtig getroffen». Und der Proband ist froh, dass er mit der Diagnose keineswegs allein ist – der Autor Oliver Sacks zum Beispiel hat 2010 in einem berühmten Essay im New Yorker über sein Defizit geschrieben:

 

Parties, even my own birthday parties, are a challenge. (More than once, [my assistant] Kate has asked my guests to wear name tags.) I have been accused of «absent-mindedness», and no doubt this is true. But I think that a significant part of what is variously called my «shyness», my «reclusiveness», my «social ineptitude», my «eccentricity», even my «Asperger’s syndrome», is a consequence and a misinterpretation of my difficulty recognizing faces.

 

Gesichtsblindheit (Prosopagnosie im Fachjargon) gibt es in angeborener wie auch in erworbener Form – und sie kann skurrile Formen annehmen, bis hin zur Schwierigkeit, sich selbst im Spiegel zu erkennen. Wenn man also beide Extremformen ins Auge nimmt – die Super-Recognizer auf der einen und die Prosopagnostiker auf der anderen Seite: Sind die beiden Extreme eigentliche Konditionen in einem psychiatrischen Sinne oder einfach die beiden Pole eines Fähigkeits-Spektrums? «Tja, Kategorie oder Spektrum, das diskutieren wir immer noch», sagt Ramon. Sie persönlich glaube nicht, dass man da klare Kategorien abgrenzen könne. Aber das sei letztlich auch eine Definitionsfrage. Vor allem aber: «Gerade über Super-Recognizer weiss man immer noch viel zu wenig.» Was genau zeichnet ihr besonderes Talent aus? Wie hängen besonders gutes Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen zusammen? Und ist ihre Fähigkeit konstant vorhanden? Die Fragen müssten dringend geklärt werden, zumal es ja nicht einfach um ein erkenntnistheoretisches Faszinosum geht. «Die Forschung hat wichtige Implikationen, zum Beispiel wenn Super-Recognizer in der Terrorabwehr zum Einsatz kommen sollen, wie unlängst diskutiert worden ist.» Da will Meike Ramon unbedingt ihren Teil beitragen, um das Wunderwerk Gehirn und seine hollywood-reifen Besonderheiten ein bisschen besser zu verstehen.

 

Bist du mein Sohn?
Eines der geplanten Forschungsprojekte von Meike Ramon will Erkenntnisse aus der Gesichts­erkennungsforschung nutzen, um pathologische kognitive Veränderungen im Alter früh zu erkennen. So könnte womöglich ein verlässliches Frühdiagnoseverfahren für Demenz entwickelt werden. Die These, der nun experimentell nachgegangen werden soll: Abnormale alters­bedingte Änderungen lassen sich anhand von Problemen bei der Gesichtswahrnehmung erkennen. Wenn, wie man allmählich zu verstehen beginnt, bei der Gesichtserkennung Wahrnehmung und Gedächtnis zusammenspielen und ein eng verflochtenes Netzwerk bilden, dann könnte man womöglich auch auf der Wahrnehmungsebene schon früh Effekte erkennen, bevor sich Probleme auf der Gedächtnisseite kenntlich machen. Um dieser Hypothese nachzugehen, nutzt Meike Ramon Tests, die die Gesichts­erkennungsfähigkeiten direkt im Hirn nachweisen, also unabhängig von den Reaktionsmöglichkeiten oder dem Sehvermögen der Testpersonen. Für die Tests möchte Meike Ramon ein mobiles Labor einrichten – wobei ihr die jüngsten Fortschritte der Hirnstrommesstechnologie sehr zupass kommen; die entsprechenden Geräte werden immer simpler und leistungsfähiger. Während in der Schweiz die Mittelbeschaffung für das Projekt noch läuft, wird Ramon mit der Idee zunächst nach Indien reisen – sie hat einen Platz im nächsten Academia-Industry Training Camp erhalten, das von den Netzwerkorganisationen swiss­­nex und venturelab ausgerichtet wird.

 

Unsere Expertin Meike Ramon ist Kogni­tive Neurowissenschaftlerin und erforscht seit 2015 in der Gruppe für Neurosciences visuelles et sociales insbesondere die neurologischen Grund­lagen der Gesichtserkennung.

meike.ramon@unifr.ch