Dossier

Paris und die französische Wüste

Es gibt wenige Länder, in denen der Zentralismus so tief verankert ist wie in Frankreich. Er prägt die Politik, die Wirtschaft, die Infrastruktur und die Menschen. Nicolas Schmitt vom Institut für Föderalismus ist überzeugt, dass das so bleiben wird. Leider.

Das politische Leben Frankreichs dreht sich um Paris, die grossen Strassen und Eisenbahnlinien verlaufen sternförmig von der Hauptstadt in die Provinz und die Französinnen und Franzosen misstrauen regionaler Autonomie zutiefst. «So schnell wird sich daran nichts ändern», ist Nicolas Schmitt vom Institut für Föderalismus überzeugt und sagt dem Zentralismus in Frankreich ein langes Leben voraus. Seit Jahrhunderten werde diese Staatsform in unserem Nachbarland gehegt und gepflegt, zuweilen geradezu vergöttlicht. Dabei habe sie nur Nachteile. Die Ballung der Macht in Paris mache den Rest des Landes zur «französischen Wüste». Ein Begriff, den der Geograf Jean-François Gravier in einem berühmten Pamphlet schon 1947 geprägt hat. «Die Regionen haben keinen Handlungsspielraum, weder politisch noch ökonomisch», sagt Schmitt. Das bremse zum einen deren intellektuelle und wirtschaftliche Entwicklung. «Zum anderen wird das kulturelle und sprachliche Erbe der Regionen marginalisiert und damit auch ihre Identität.»

 

Trotzdem hält das Land dem Zentralismus unverbrüchlich die Treue. Ein Grund dafür ist schlicht die lange Tradition. Die französischen Könige haben den Adel früher und gründlicher ausgebootet als anderswo. Schon Philipp dem Schönen gelang es Ende des 13., Anfang des 14. Jahrhunderts viel Macht an sich zu reissen. Seine Nachfolger bauten ihren Einfluss weiter aus, unter Ludwig XIV erreichte er einen Höhepunkt. Der Sonnenkönig ist der Inbegriff des absolutistischen Herrschers. Alexis de Tocqueville kommt in seinem Buch «Der alte Staat und die Revolution» zum Schluss, ein Volk, das die Aristokratie zerstöre, eile «ganz von selbst der Zentralisation entgegen».

 

Die Französische Revolution, die so vieles umkrempelte, änderte daran nichts; ganz im Gegenteil. Die von den Königen begonnene Zentralisierung wurde vertieft. Für Robbespierre und Co. war es das willkommene Mittel, um ihre Ideen auf einen Schlag flächendeckend durchzusetzen. Andere Vorstellungen waren den Revolutionären suspekt und wurden kriminalisiert. Es wurde kein Ausgleich gesucht, sondern Gegner eliminiert. «Die Girondisten landeten auf der Guillotine, weil man ihnen vorwarf, Föderalisten zu sein», so Schmitt. Ein gutes Beispiel dafür, dass es auch anders ginge, sind für Schmitt die USA, die ihre Verfassungsgrundsätze zur gleichen Zeit entwickelten. Obwohl ein sehr homogenes Land, hätten sich die Vereinigten Staaten für ein föderalistisches System entschieden. Das regional und kulturell vielfältigere Frankreich wählte dagegen den Zentralismus. Schmitt ist überzeugt, dass dabei neben der Vorgeschichte auch Personen eine Rolle spielten. Die amerikanische Verfassung sei das Werk grosser Intellektueller und Staatsmänner. Die französischen Revolutionäre seien dagegen Versager, Abenteurer und Opportunisten gewesen. So lautet die These des Philosophen Michel Onfray, die Schmitt für plausibel hält: «Sie waren von niederen Ambitionen und Machthunger getrieben und zu keiner klugen politischen Vision fähig». Munition für die Vorstellung der einen und unteilbaren Republik lieferten ihnen namhafte Denker und Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau: «Wie die Natur jeden Menschen mit einer unumschränkten Macht über alle seine Glieder ausstattet, so stattet auch der Gesellschaftsvertrag den Staatskörper mit einer unumschränkten Macht über all die seinigen aus (…)», schreibt er im «Contrat social». Sein Staatsmodell sei aufgrund von rein theoretischen Überlegungen entwickelt worden, sagt Schmitt. «Die gesellschaftlichen, historischen und geografischen Realitäten interessierten ihn nicht.» Napoleon Bonaparte perfektionierte das zentralistische System. 1800 schuf er die Funktion des Präfekten, der die Departemente nach den Vorgaben aus Paris verwaltete. Das Amt wurde von allen folgenden Regimes und Regierungen beibehalten, unabhängig von der politischen Couleur. 1962 führte Charles de Gaulle gegen den Willen des Parlaments die Volkswahl des Präsidenten ein. «Damit wurde der Präsident zu einem ‹republikanischen König› geweiht», sagt Nicolas Schmitt. Die Folge: In Frankreich kreise das politische Leben nur noch um die Wahl des Präsidenten. «Eine Konzentration auf eine Person wie zu Zeiten des Sonnenkönigs.»

 

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Der Hang zum Zentralismus ist aber nicht nur unter den jeweils Herrschenden verbreitet. Scheue Versuche zu etwas föderaleren Strukturen scheiterten auch mehrfach am Unwillen der Bürgerinnen und Bürger. Anekdotische Evidenz dafür lieferte der Präsidentschaftswahlkampf von 1974. Der Kandidat Guy Héraud hatte sich den Föderalismus auf die Fahne geschrieben. Er erhielt 0,08 Prozent der Stimmen, das schlechteste Resultat, das je ein Präsidentschaftsanwärter erzielt hatte. «Die Mehrheit der Französinnen und Franzosen strebt nach dem Manna des Staates und ist gegen jede Konkurrenz», sagt Schmitt. Den Wettbewerb und die Vielfalt der Systeme, wie sie der Föderalismus bis zu einem gewissen Grad mit sich bringt, lehnten sie deshalb ab.

 

Vor dem gestrengen föderalistischen Auge von Nicolas Schmitt vermag nur ein französischer Politiker einigermassen zu bestehen: François Mitterand. Er habe die Dezentralisierung zumindest in der Kultur verwirklicht, indem er in den Regionen Museen gebaut habe. Auch sonst stiess er Reformen an. Die Dezentralisierungsgesetze von 1982 verliehen den Regionen einen gewichtigeren Status und mehr Kompetenzen. Die Zeit von 1982 bis 2003 wird als Akt 1 der Dezentralisierung bezeichnet, ihr folgten Akt 2 (2003 bis 2007) und Akt 3 (2007 bis heute). Dutzende von Gesetzen und Dekreten wurden geschaffen und sogar die Verfassung geändert. In deren erstem Artikel steht seit 2003, Frankreich sei ein dezentral organisiertes Land. «Das bedeutet gar nichts», sagt Nicolas Schmitt. «Auch in Nordkorea gibt es lokale Verwaltungseinheiten.» Die von oben verordnete, halbherzige Dezentralisierung, sei weit entfernt von Föderalismus. Die finanziellen Mittel und die Kompetenzen der Regionen seien immer noch verschwindend klein im Vergleich zu jenen des Zentralstaates. Dazu komme, dass das wenige Geld oft falsch eingesetzt werde; für aufgeblähte Verwaltungsapparate etwa oder pompöse «Hôtels de région». Ausserdem seien die Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen Gemeinden, Departementen, Regionen, Zentralstaat und einem halben Dutzend verschiedener Typen von Gemeindeverbänden unklar verteilt. Mischfinanzierungen machten Entscheidprozesse zusätzlich undurchsichtig und verschlungen. Man werfe dem Föderalismus gelegentlich vor, er führe zu komplizierten Strukturen. «Frankreich hat die komplizierten Strukturen und die Nachteile des Zentralismus.»

 

Das jüngste Beispiel verfehlter Politik sind für Schmitt die 2016 neu gezogenen Regionengrenzen. Auf dem europäischen Festland gibt es seither nur noch 13 statt 22 Regionen. Mit Folgen, die Schmitt aus der Fassung bringen: «Das Elsass existiert nicht mehr!», nennt er ein Beispiel, das ihn besonders schockiert. Die neuen Regionen würden grösste Mühe haben, eine eigene Identität zu entwickeln. Für das Funktionieren des Föderalismus sei es aber wichtig, dass sich die Menschen einem Gebiet zugehörig fühlten.

 

François Hollandes neue Regionen sind für Schmitt nur ein weiterer Beleg dafür, dass der Föderalismus in Frankreich keine Chance hat – auch unter dem neuen Präsidenten Emmanuel Macron nicht. «Der Graben zwischen einem ‹echten Föderalismus› und der politischen Kultur in Frankreich ist einfach zu tief.»

 

Unser Experte Nicolas Schmitt ist Senior Research fellow am Institut für Föderalismus. Der promovierte Jurist gehörte vor gut 30 Jahren zum Gründungsteam des Instituts und beschäftigt sich seither mit Födera­lismus und Dezentralisierung – in der Schweiz und auf der ganzen Welt.

nicolas.schmitt@unifr.ch