Porträt

Sonne für alle

Sie wollte nicht nur diskutieren. Sie wollte verändern. Ruth Lüthi tritt nach einer reichen Karriere als Politikerin kürzer.

Sie wohnt etwas ausserhalb und doch mittendrin. Mittendrin im Gemisch der Nationalitäten auf dem Schönberg. «Das geht tipptopp», sagt Ruth Lühti, wie man den Fussball an der Latte aufschlagen hört, drüben, auf der anderen Seite der Hecke, die ihren Garten von den Wohnblöcken trennt. Es ist eine Welt, die nicht zu jener von Ruth Lüthi passt, zu ihrem Landhaus und dem Steinway-Flügel im Salon. Und doch ist es genau diese Welt, die Welt der anderen, der sie Jahre ihres Lebens als Politikerin gewidmet hat.

 

Gerechtigkeit und Chancengleichheit sind die grossen Anliegen von Ruth Lüthi. «Man muss nur wollen», sagt sie, «ist ein dummer Spruch. Es braucht die idealen Voraussetzungen, damit die Menschen sich entfalten können». Um diesen «dummen Spruch» zu widerlegen, ist sie Politikerin geworden: 1998 Grossrätin im Kantonsparlament und 1991 Staatsrätin in der Freiburger Exekutive, wo sie während 15 Jahren wirkte. Sogar nach dem höchsten Amt, dem Amt als Bundesrätin, hat sie den Arm ausgestreckt. Gerne hätte sie 2002 Ruth Dreifuss abgelöst.

 

Selber hatte Ruth Lüthi gute Chancen. Sie wuchs in einer zwar einfachen aber bürgerlichen Familie in Grenchen auf. Der Grossvater hatte eine kleine Uhrenfabrik besessen. Doch der Vater wollte Architekt werden. Es waren die 1930er-Jahre und die Wirtschaft steckte in der grossen Krise. Die Fabrik des Grossvaters und das Bauunternehmen, wo der Vater eine Lehre machte, mussten den Betrieb einstellen. Und so blieb der Vater ohne Lehrabschluss. «Er war intelligent und engagiert», erzählt sie, und bei der Bevölkerung, die ihn später zum Zivilstandsbeamten wählte, anerkannt. Dass er keinen Berufsabschluss hatte, habe ihn sein Leben lang begleitet. Darum war es ihm wichtig, dass seine Kinder eine gute Ausbildung hatten. Von ihm hat Ruth Lüthi gelernt, genau und präzis zu denken. Er hat ihr auch ein politisches Bewusstsein mit auf den Weg gegeben und den Wunsch, diese Welt zu verbessern. Die Mutter ihrerseits lehrte sie musizieren, erst auf dem Klavier. Später wechselte Ruth Lüthi auf die Orgel. Die Politik und die Musik: Sie sind bis heute die Grundpfeiler im Leben von Ruth Lüthi. Die Politik bedient den Intellekt; die Musik schafft den Ausgleich, macht sie zufrieden. Sie nennt es: «Eine Leere im Kopf schaffen, die neue Kraft gibt».

 

Ruth Lüthi wurde schliesslich Lehrerin und unterrichtete zehn Jahre lang an der Grundschule, hatte 30 Schüler und doppelt so viele Eltern, die sie mit ins Boot holen lernte. Das Psychologiestudium war nur der logische Schritt. Mit Ambros Lüthi, einem Systemingenieur, der ein Zweitstudium in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften absolvierte, kam sie nach Freiburg. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie, hatte die gesellschaftlichen Schranken überwunden und war später Professor an der Universität.

 

Beide waren vom gleichen politischen Feuer und vom Wunsch nach einer gerechteren Welt beseelt. Sie engagierten sich in der AFEP, der Arbeitsgruppe für Entwicklungspolitik. Und sie reisten. Etwa auf den Philip-pinen. «Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich damals mit eigenen Augen die Diskrepanz zwischen Arm und Reich», erzählt sie. «Wenn ich in dem Land hätte leben müssen, ich wäre Kommunistin geworden.»

 

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Ruth Lüthi ging zur sozialdemokratischen Partei. Sie wollte nicht am Rand, in einer kleinen Partei, politisieren. Sie wollte etwas verändern, wollte Gesetze und Strukturen schaffen, um genau jenen, die auf der anderen Seite der Hecke Fussball spielen, ideale Lebensbedingungen zu schaffen. Die Zeit als Staatsrätin sei ihre schönste Zeit als Politikerin gewesen, sagt sie. «Entscheiden war schön. Aber die Argumente finden und die Leute überzeugen, das hat mir besonders gefallen.» Es brauchte einen langen Atem, die Schritte waren klein. Wenn aber die Richtung stimmte, war sie auch bereit, Kompromisse einzugehen. «Aber dazu muss man sicher sein, was man will.» Ihre klare Haltung hat ihr den Ruf einer entschiedenen und doch umsichtigen Politikerin eingebracht. «Die Strukturen und Gesetze haben sich auch in schwierigen Zeiten bewährt», sagt Ruth Lüthi und lässt für einen kurzen Moment durchblicken, wie viel sie erreicht hat und wie stolz sie darauf ist.

 

Auch wenn sie sich 2006 aus der Politik zurückgezogen hat, Ruth Lüthi wirkt im Hintergrund weiter. Etwa als Präsidentin der AHV-/IV-Kommission. Bis letztes Jahr war sie auch Präsidentin des Senats der Universität Freiburg. Doch nun will sie mehr Freizeit haben, Freundschaften pflegen und Musik machen. «Ich habe viel gearbeitet», sagt sie.

 

Ruth Lüthi wohnt in einem Haus mit Garten, wo jede Tageszeit ihren Platz hat. Für das Frühstück ist es der runde Tisch neben dem Rosmarinstrauch, über Mittag, wenn die Sonne brennt, setzt man sich ins offene, kühle Gartenhaus und am Abend verschwindet im Westen hinter den Juraketten der feuerrote Sonnenball. Es ist eine schöne Welt. Ruth Lüthi teilt sie mit einem befreundeten Ehepaar in einer Wohngemeinschaft. Weil die Sonnenseiten des Lebens allen gehören.

 

Ruth Lüthi war während 15 Jahren Staats­rätin im Kanton Freiburg. Sie präsidierte zahlreiche Kommissionen und Gremien, u.a. auch den Senat der Universität Freiburg und das Internationale Filmfestival  Freiburg FIFF. Geboren und aufgewachsen ist Ruth Lüthi in Grenchen, Kanton Solothurn. Seit 1973 lebt sie in Freiburg.

 

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