Dossier

Familien sind keine Inseln!

Sowohl in ihrer Forschung als auch in der Tätigkeit als Psychologin befasst sich Nathalie Meuwly mit sexueller Orientierung, gleich­geschlechtlichen Paaren und Regenbogenfamilien. Ein Gespräch über Coming-out, Kinder und das Geheimnis glücklicher Beziehungen.

Nathalie Meuwly, Sie befassen sich intensiv mit Kommunikation in der Partnerschaft. Welches ist Ihr Fokus?

Man weiss von Menschen, die in einer Beziehung sind und innerhalb dieser Partnerschaft viel positive Unterstützung erfahren, dass sie nicht nur gesünder sind, sondern auch länger leben. In diesem Forschungsbereich werden dabei häufig die Unterschiede zwischen Mann und Frau diskutiert. Es bestehen viele Klischees, z.B. dass Frauen lieber über Gefühle sprechen als Männer oder eher äussern, dass sie gestresst sind. Deshalb habe ich mir die Frage gestellt, ob das überhaupt stimmt und was wir wirklich darüber wissen. In der Paarforschung wurden bisher vor allem heterosexuelle Paare untersucht. Ich finde es wichtig, auch gleichgeschlechtliche Paare zu untersuchen, um Geschlechterunterschiede besser zu verstehen.

Haben Lesben also weniger Stress in der Beziehung?

Es ist natürlich auch eine Frage der Sozialisierung. Können zwei Frauen in einer lesbischen Beziehung davon profitieren, dass sich beide eine «weibliche Kommunikation» angeeignet haben? Oder können sie z.B. auch davon profitieren, dass ähnliche Themen für beide interessant sind? Allgemeine Fragen, die mich in der Paarforschung interessieren, sind, wer von den beiden emotionaler oder dominanter ist, wer mehr Nähe sucht… Solche individuellen Unterschiede können wichtiger sein als das Geschlecht. Bei einem heterosexuellen Paar ist ja nicht immer automatisch die Frau diejenige, die mehr Nähe sucht als der Mann. Die Varianz ist gross! Der ganze Kontext meiner Studie ist schon, Geschlecht und Unterschiede besser zu verstehen, aber auch, die Literatur breiter zu machen für gleichgeschlechtliche Paare.

Geht es auch um Sichtbarkeit von gleichgeschlechtlichen Paaren in der Forschung?

Ja, gleichgeschlechtliche Paare kämpfen immer noch um Akzeptanz. Deshalb hat es auch eine gesellschaftspolitische Dimension.

Kommunizieren gleichgeschlechtliche Paare anders als heterosexuelle Paare?

Darüber weiss man noch relativ wenig. Um Kommuni-kation gründlich zu erforschen, braucht es mehr objektive Daten. Wir filmen in unseren Studie die Paare dabei, wie sie sich gegenseitig unterstützen und Konflikte lösen. Einige wenige Studien weisen auf Unterschiede zwischen gleichgeschlechtlichen und gemischtgeschlechtlichen Paaren hin, was eine Folge der Zusammensetzung des Paares sein könnte. Interessant ist beispielsweise das Timing einer Unterstützung. Bei heterosexuellen Paaren können Frauen ihre Unterstützung besser timen, d.h. sie geben dem Partner die Unterstützung genau dann, wenn er sie braucht, während Männer mehr Schwierigkeiten haben, Unterstützung dann zu geben, wenn ihre Partnerin sie auch braucht. Einzelne Studien deuten darauf hin, dass sich das Phänomen, dass Frauen besser timen, bei lesbischen Paaren äusserst positiv auswirken kann. Bei ihnen ist zudem das Risiko kleiner, dass sie bei Konflikten oder negativer Kritik ihrerseits auch mit einem negativen Kommentar reagieren und so in eine Negativspirale geraten, was für eine Beziehung dann sehr schwierig sein kann.

Gibt es schon Forschung über Paare, in welchen mindestens eine Person trans ist?

Dazu gibt es in der Schweiz leider noch keine einzige Paarforschungsstudie. Ich bin aber froh, dass bei uns auch einige trans Menschen an der Studie teilgenommen haben. Die Gruppe war aber zu klein, um spezifische Aussagen für trans Personen zu machen.

Sind trans Frauen dominanter in der Kommunikation, falls sie ursprünglich als Männer sozialisiert wurden?

Darüber würde ich sehr gerne forschen! Dominanz ist ein spannendes Thema: Man kann sich auch fragen, weshalb jemand dominant ist. Dies muss nicht immer sein, weil sich jemand überlegen zeigen möchte. Dominanz kann auch Selbstschutz bedeuten. Studien mit trans Menschen sind für die Paarforschung schwierig umzusetzen, weil trans Menschen tendenziell weniger in Beziehungen leben – aber vielleicht ändert sich das irgendwann. Für mich wäre es auch interessant, über Beziehungen zu forschen, in welchen ein_e Partner_in sich in der Transition befindet: Was bedeutet dann die Transition für die Partnerschaft? Wie wirkt sich eine Transition auf die Partnerschaft aus, wenn man als Mann oder Frau in der Gesellschaft plötzlich anders behandelt wird, z.B. ernster oder weniger ernst genommen wird? Und welche Konstrukte hat man selber von Geschlecht und Geschlechtlichkeit? Da gibt es noch viel zu tun!

Sie haben das Wohlbefinden untersucht. Sind gleichgeschlechtliche Paare glücklicher oder gestresster als heterosexuelle Paare?

Ich habe Mühe damit, zu generalisieren. Ich würde sagen, es kommt bei gleichgeschlechtlichen Paaren zusätzlich darauf an, ob sie ihre Beziehung in einem akzeptierenden Umfeld leben können. Der sogenannte Minority Stress ist spezifisch für gleichgeschlechtliche Paare und kann bei manchen Paaren eine Auswirkung haben.

Welchen Einfluss haben Erfahrungen von Diskriminierung im Alltag auf die Kommunikation in der Beziehung?

Diskriminierungserfahrungen müssen sich nicht immer negativ auf eine Beziehung auswirken. Ein Paar kann sich z.B. zusammen nach aussen formieren, im Sinne von: «Wir gegen den Rest der Welt». Schwierig ist es, wenn jemand offen geoutet ist, die andere Person aber nur teilweise oder gar nicht. Dann kann es durchaus Spannungen in der Beziehung geben. In unserer Studie haben wir nach Erfahrungen gefragt, etwa wann ein Paar öffentlich Hand in Hand geht und wie sie dazu stehen, Zuneigung in der Öffentlichkeit zu zeigen. Dort hat sich gezeigt, dass Männerpaare weitaus weniger Zuneigung zeigen. Ich führe dies auf Erfahrungen oder Befürchtungen vor Diskriminierung zurück; vor allem die männliche Homosexualität wird oft noch stark negativ verurteilt.

Wie und wo werden LGBT+ Menschen heutzutage diskriminiert?

Diskriminierungserfahrungen sind sehr vielfältig. Intuitiv würde man denken, dass LGBT+ vor allem auf dem Land Diskriminierungserfahrungen machen. Es ist jedoch so, dass Diskriminierungserfahrungen oft da passieren, wo gleichgeschlechtliche Paare oder LGBT+ sichtbar sind. So können Beschimpfungen oder gar tätliche Angriffe vor allem in Städten geschehen, die als offen gelten. Dies deckt sich auch mit meinen persönlichen Erfahrungen. Diskriminierungen geschehen jedoch oft auf subtiler Ebene. Zum Beispiel, wenn die Existenz gleichgeschlechtlicher Paare in einem heteronormativen Umfeld keine Beachtung findet oder verschwiegen wird. Oder wenn für gleichgeschlechtliche Paare ein zusätzlicher Zivilstand kreiert wird. So können Paare nicht selber entscheiden, wem gegenüber sie sich outen möchten.

 

© STEMUTZ.COM

Tabea, 25, lesbisch
Sozialpädagogin i.A, Aktivistin
«Equality without borders.»

Sie führen hier in Freiburg seit bald einem Jahr eine eigene Praxis als Psychotherapeutin. Sind unter Ihren Klient_innen besonders viele gleichgeschlechtliche Paare und Menschen im Coming-out Prozess?

Ich habe viele Klient_innen, bei welchen Sexualität an sich ein Thema ist, darunter auch lesbische und bisexuelle Frauen. LGBT+ Menschen suchen häufiger psychologische oder psychiatrische Angebote auf als die Gesamtbevölkerung. Sie erleben zusätzliche Belastungen durch Diskriminierungen im Alltag oder auch befürchtete oder reale negative Reaktionen beim Coming-out. Nicht nur junge Generationen, insbesondere ältere Menschen sind betroffen, die noch eine Sozialisierung erlebt haben, in welcher Homosexualität stark stigmatisiert wurde.

Coming-out: Ja oder nein?

Ein Coming-out kann sich lohnen. Es gibt aber Fälle, bei welchen man sich diesen Schritt genau überlegen muss. Gründe können das späte Alter sein, der kulturelle Hintergrund, ein bestimmtes Arbeits- oder Schulumfeld. Wenn ein Jugendlicher in der Klasse gemobbt wird, kann es z.B. Sinn machen, das Ende des Schuljahres abzuwarten und nichts zu überstürzen. Aber grundsätzlich würde ich mich für das Coming-out aussprechen, weil in den meisten Fällen die Befürchtungen schlimmer sind als die tatsächlichen Reaktionen und nur über diesen Weg ein positives Selbstbild gestärkt werden kann.

Auf deutlich mehr Skepsis stossen die sogenannten Regenbogenfamilien – obwohl die Forschung bestätigt, dass es Kindern in Regenbogenfamilien nicht besser oder schlechter geht. Warum sind diese Emotionen so schwer aus der Welt zu schaffen?

Traditionell-christliche Werte fliessen mit ein sowie – wenn man sich die aktuellen politischen Debatten anschaut – die Angst vor dem Unbekannten und davor, dass jemandem damit etwas weggenommen wird. Menschen haben Schwierigkeiten, sich vorzustellen, wie es ist, mit zwei Vätern oder Müttern aufzuwachsen. In der eigenen Vorstellung müsste man also zwangsweise einen Elternteil aufgeben, weil nur eine Person Vater oder Mutter sein kann. Man könnte sich stattdessen fragen: Was macht die Beziehung zu meinem Vater und meiner Mutter aus? Spielt das Geschlecht oder die biologische Verwandtschaft eine Rolle für die Wichtigkeit dieser Beziehung? Die Diskussion um Regenbogenfamilien könnte uns persönlich anspornen, eigene Beziehungswerte und Rollenbilder zu überdenken.

Alleinerziehende Eltern scheinen weniger Kritik einstecken zu müssen als gleichgeschlechtliche Paare.

Bei alleinerziehenden Müttern ist der Vater meistens noch in irgendeiner Form präsent und das Bild einer «intakten» Familie dadurch eher bewahrt. Auch hier hat es Zeit gebraucht, bis man eingesehen hat, dass es Scheidungskindern nicht unbedingt schlechter geht als anderen. Einigen geht es nach einer Trennung sogar besser, weil sie nicht mehr chronisch Konflikten ausgesetzt sind und die gemeinsam verbrachte Zeit an Qualität gewinnt.

Brauchen Kinder denn immer Vater und Mutter?

Kinder brauchen vor allem emotional verlässliche Bezugspersonen. Sicher ist es gut, wenn ein Kind weibliche und männliche Bezugspersonen hat, aber diese müssen sich nicht auf Vater und Mutter beschränken. Manchmal kann ein_e Lehrer_in eine wichtige Bezugsperson oder Vorbild sein, ein Onkel, eine Tante… Ich sage immer: Familien sind keine Inseln!

Machen Kinder einen Unterschied, ob sie in einer Regenbogenfamilie oder in einer traditionellen Familie aufwachsen?

Es kommt darauf an, in welcher Phase sich das Kind befindet. Wenn es damit aufgewachsen ist und die Beziehungen schon immer da waren, d.h. wenn das Kind nichts Anderes kennt, wird es erst mit der Zeit realisieren, dass andere Kinder nicht auch zwei Mütter oder zwei Väter haben, sondern auch Vater und Mutter und sich vielleicht fragen, warum das so ist. Hier ist es wichtig, dass eine offene Kommunikation mit dem Kind gelebt wird. Wenn die Eltern die eigene Familienkonstellation als selbstverständlich ansehen können und dementsprechend entspannt Antworten liefern, wird auch der Nachwuchs einen natürlichen Umgang damit finden.

Was raten Sie Regenbogeneltern im Umgang mit skeptischen heterosexuellen Eltern?

Der beste Umgang mit skeptischen Einstellungen ist der direkte Kontakt zu «fremden» Lebensformen. Es ist deshalb wichtig, dass gleichgeschlechtliche Paare und Regenbogenfamilien sichtbar sind. So können Stigmatisierungen und Vorurteile abgebaut werden. Für das gleichgeschlechtliche Elternpaar ist es zudem wichtig, dass sich die Partner_innen gegenseitig die Sicherheit geben, dass ihr Weg gut ist. Wenn ein Kind dieses Selbstbewusstsein erfährt und verlässliche Eltern hat, die es stärken, kann es auch mit möglichen Hänseleien von Seiten der Mitschüler_innen umgehen.

 

Unsere Expertin Nathalie Meuwly ist Oberassistentin am Institut für Familienforschung und –beratung der Universität Freiburg und führt seit 2018 eine selbstständige Tätigkeit als Psychotherapeutin in eigener Praxis.

nathalie.meuwly@unifr.ch