Dossier

Recht für jedermensch?!

Haben Sie sich schon mal überlegt, welchen Platz das Geschlecht in unserer Rechtsprechung einnimmt? Tun Sie’s. Oder lesen Sie das Gespräch mit Alecs Recher, dem Leiter der Rechtsberatung von Transgender Network Switzerland, und Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Migrationsrecht.?

«Jede_r hat das Recht, entsprechend der eigenen Geschlechtsidentität zu leben» – so zu lesen auf der Website von Transgender Network Switzerland, kurz TGNS. Sprechen wir hier von einem Menschenrecht?

Alecs Recher: Ja, die Aussage basiert auf Menschenrechten. Die Geschlechtsidentität ist ein Teil des Rechts auf Privatleben. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich um eine Cis-Identität handelt, also ob das bei der Geburt zugeschriebene Geschlecht mit der Geschlechtsidentität übereinstimmt, oder ob jemand transgeschlechtlich ist, also nicht übereinstimmend mit dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht. Alle Menschen haben das Recht, entsprechend ihrer Identität zu leben.

Sie arbeiten als Leiter der Rechtsberatung bei TGNS. Mit welchem Anliegen werden Sie am häufigsten konfrontiert?

Alecs Recher: Das häufigste Anliegen ist das Ändern des amtlichen Geschlechts, des Namens, die Anpassung der Dokumente. Das zweithäufigste sind die Sozialversicherungen, vor allem die Krankenkassen, die Leistungen ablehnen, obwohl sie eigentlich bezahlen müssten. Weitere Fragen betreffen Militär und Zivildienst, die Arbeit – etwa im Falle von Entlassungen nach Coming-outs –, Asylanträge, die Schule, Scheidungsrecht, Steuerrecht… das Feld ist gross.

Ein erster rechtlicher Schritt hin zum Leben entsprechend der eigenen Geschlechtsidentität ist die Änderung des Namens. Wie kompliziert ist dies?

Alecs Recher: Sehr häufig passiert dieser erste Schritt gleichzeitig mit dem zweiten, d.h. mit der Änderung des amtlichen Geschlechts. Das kann man in einem Verfahren machen. Nur gerade den Namen ändern vor allem nicht-binäre Menschen, das heisst jene, deren Geschlechtsidentität weder ausschliesslich männlich noch ausschliesslich weiblich ist. Für diese Menschen gibt es in der Schweiz kein amtliches Geschlecht. Also wählen sie vielfach einen Vornamen, der für beide Geschlechter passt. Eine zweite Gruppe, die erstmal nur den Namen ändern lässt, sind trans Kinder. Das finde ich sehr beeindruckend. Diese kleinen Kinder wissen meist bereits im Vorschulalter genau, wer sie sind. Und eben auch, wer sie nicht sind. Je nach Umfeld und eigener Stärke können sie dies auch aus-drücken und machen sehr deutlich, wie wichtig ihnen die Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität ist.

Ist es möglich, bereits bei einem Kind das amtliche Geschlecht zu ändern?

Alecs Recher: Ja, im Schweizer Recht spricht dem nichts entgegen. Wenn sie urteilsfähig sind, das heisst sie verstehen und können einen eigenen Willen bilden, dann können sie dies selber tun. Ohne Zustimmung der Sorgeberechtigten. Sind sie noch urteilsunfähig braucht es die Zustimmung. Wir begleiten regelmässig Eltern und Kinder im Alter von fünf, sechs, sieben Jahren beim Namenswechsel.

Sarah Progin: In Deutschland gab es 2017 ein Verfassungsgerichtsurteil, in dem ein drittes Geschlecht gefordert wurde. Dieses Urteil wurde inzwischen gesetzlich umgesetzt, das heisst: Man kann jetzt ein Geschlecht auch als «divers» angeben, muss sich also nicht mehr für männlich oder weiblich entscheiden. Früher wurden Neugeborene, die nicht eindeutig einem Geschlecht zugordnet werden konnten, meist als Mädchen eingetragen, unter anderem, weil man die weibliche Anatomie, rein äusserlich, medizinisch einfacher nachahmen kann. In dieser Hinsicht hat sich zum Glück viel getan, man wartet heute ab und lässt den Kindern Zeit. Irgendwann finden sie ihre Geschlechtsidentität. Und wenn sie sich als weder weiblich noch männlich oder als beides empfinden, dann gibt es jetzt schon in einigen Ländern die Möglichkeit, ein drittes, neutrales Geschlecht zu wählen.

Eine wünschenswerte Lösung auch für die Schweiz?

Alecs Recher: Ja, aber nicht die Version, die Deutschland hat. Dort wurde klar begrenzt auf Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung. Das ist nicht das-selbe wie trans Menschen. Erstere sind Menschen, die haben einen Körper, der nicht der medizinischen Definition von männlich oder weiblich entspricht. Man spricht auch von Intersexualität oder Intergeschlechtlichkeit. Wobei heute die Bezeichnung «Varianten der Geschlechtsentwicklung» bevorzugt wird. Bei trans Menschen unterscheidet sich die Geschlechtsidentität vom bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht.

Sarah Progin: Tendenziell stimme ich dem zu. Aber Recht ist halt sehr sperrig und entwickelt sich nur sehr langsam. Man kann es durchaus kritisieren, aber es ist trotzdem eine Tendenz, die schon mal in die richtige Richtung geht. Obwohl es natürlich bessere Varianten gegeben hätte.

Welche Länder erlauben das dritte Geschlecht für alle?

Sarah Progin: Schweden?

Alecs Recher: Nein, Schweden hat noch kein drittes Geschlecht. Aber Schweden ist das erste Land, das trans Menschen, die früher für die Personenstandsänderung zwangssterilisiert wurden, Kompensations-zahlungen leistet. Also ähnlich, wie dies die Schweiz bei Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen tut. Die Möglichkeit des dritten Geschlechts gibt es beispielsweise in Malta oder seit kurzem auch in Österreich. In Holland hat vor wenigen Monaten die erste Person einen Ausweis ohne Geschlechtseintrag erhalten und auch Argentinien hat kürzlich die erste Person vermeldet, die keinen amtlichen Geschlechtseintrag mehr hat. Australien hat eine dritte Option, Neuseeland, Indien, Pakistan, Nepal… Ausserdem gibt es Staaten, die die Änderung des amtlichen Geschlechts basierend auf Selbstbestimmung eingeführt haben, das heisst, allein basierend auf dem Wissen der trans Person um ihre Geschlechts-identität und ohne Einbezug von Dritten. Argentinien war weltweit das erste Land, das diese Selbst-bestimmung eingeführt hat.

Wo stehen wir in der Schweiz?

Alecs Recher: Der Nationalrat hat zwei Vorstösse überwiesen, dass der Bundesrat darüber Bericht erstatte, was die Einführung eines dritten amtlichen Geschlechts bedeuten würde. In einem weiteren Vorstoss wird ein Bericht angeregt über notwendige Rechtsänderungen, wenn rechtliche Regelungen nicht mehr an das Geschlecht anknüpfen würden. Sehr spannend. Es gibt Menschen, die gar kein amtliches Geschlecht möchten. Was hätte ein Verzicht darauf für Folgen? Wollen wir zum Beispiel das Eherecht ans amtliche Geschlecht knüpfen? Können wir nicht einfach die Ehe für alle öffnen? Ist bei der Militärpflicht wirklich das amtliche Geschlecht das sinnvollste Kriterium? Das sind aus juristischer Sicht ganz wichtige Analysen, die wir machen sollten. Gleichzeitig haben wir einen Bundesrat, der im Mai einen Vorentwurf gebracht hat zu einer Änderung des ZGB über die Eintragung des Geschlechts im Personenstandsregister. Dort findet man die Aussage, dass die Idee eines dritten Geschlechts «der westlichen Auffassung gänzlich fremd sei»…

Auch ein amtliches drittes Geschlecht würde die Fragen und Probleme des Alltags nicht lösen.

Alecs Recher: Das ist die Realität. Geschlecht beschränkt sich natürlich nicht auf das Recht. Es beherrscht zum Beispiel auch die Sprache, unser Zusammensein, unsere Infrastruktur in Gebäuden. Aber der gesetzgeberische demokratische Prozess und damit die Diskussion um die Existenz von nicht-binären Menschen kann zu einem breiteren Bewusstsein in der Öffentlichkeit führen. Und damit früher oder später hoffentlich auch zu Lösungen in der Sprache und im Alltag. Die staatliche Anerkennung ist ein erster grosser Schritt in Richtung eines gesellschaftlichen Umdenkens.

Wie lange ist es in der Schweiz schon möglich, sein amtliches Geschlecht ändern zu lassen?

Alecs Recher: Der erste Entscheid für eine amtliche Geschlechtsänderung wurde meines Wissens 1931 gefällt. Aber erst ab den 50er und 60er Jahren begann sich eine Rechtsprechung herauszubilden. In dieser Zeit war die Diversität in der Umsetzung gross. So hatte etwa das Zürcher Obergericht bereits eine sehr moderne Auffassung von Geschlecht. Basel hingegen kannte zur gleichen Zeit eine extrem strenge Praxis, die operative Massnahmen für einen amtlichen Geschlechtswechsel voraussetzte, um die «groteske Situation» zu verhindern, «wenn der zum Mann erklärte Mensch ein Kind gebären würde». Die Angst vor dem schwangeren Mann war sehr gross! Noch 1993 hat das Bundesgericht gesagt, dass es für die Änderung des amtlichen Geschlechts einen «irreversiblen Geschlechtswechsel» braucht – ohne näher zu definieren, was damit gemeint ist. Die Gerichte interpretierten diese Aussage mit der Auflage operativer Massnahmen. Erst 2012 haben wir vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland einen Entscheid herausgeholt, in dem zum ersten Mal klar gesagt wurde, dass medizinische Eingriffe nicht erzwungen werden dürfen, da dies gegen Artikel 36 der Bundesverfassung verstösst. Eine Regelung, die man im ersten Semester des Jurastudiums lernt.

Gibt es ihn denn, den schwangeren Mann?

Alecs Recher: Selbstverständlich gibt es ihn! Und dabei geht es den schwangeren Männern gut, es geht den Kindern gut, die Welt dreht sich weiter. Man sollte sich einfach daran gewöhnen und nicht so ein Aufhebens machen. Auch wenn die Idee neu und für viele noch verstörend ist, dass ein Mann ein Kind austrägt.

 

 © STEMUTZ.COM

Lovis, 35, genderfluide Butch-Lesbe
Unicom-Redaktor_in und Autor_in

«Lesben-Sichtbarkeit stärkt die queere Community und die Frauenbewegung. Ich will Teil davon sein. Wer mich deshalb eine Kampflesbe nennt, macht mir ein Kompliment.»

Amtlich gesehen: Ist der gebärende Mann die Mutter oder der Vater des Kindes?

Alecs Recher: Darauf hat unser Recht noch keine explizite Antwort. Meiner Meinung nach wäre die Person – falls sie das Geschlecht amtlich schon geändert hat und erst danach ein Kind zur Welt bringt – als Vater einzutragen. Nur so wird diese Person in ihrem Recht auf Privatleben geschützt und nicht zwangs-geoutet durch den Staat. Ausserdem wird so auch in den Ausweisen der Kinder nicht eine Person als Mutter dargestellt, die im sozialen Leben der Vater ist. Es ist also auch ein Schutz der Kinder vor Diskriminierung aufgrund der Tatsache, dass sie ein trans Elternteil haben. Dieser Kinderrechts-Aspekt geht sehr oft vergessen. Es gibt ja die Regel: Mater semper certa est, also «die Mutter ist immer klar». Heisst: Der Mensch, der das Kind ausgetragen hat. Nach dieser Regel wäre natürlich der trans Mann die Mutter. Aber als diese Regel aufgestellt wurde, hat noch niemand daran gedacht, dass ein Mann schwanger werden könnte.

Hat ein Mann Anspruch auf Mutterschutz und Mutterschaftsurlaub?

Alecs Recher: Der Schutzgedanke ist ganz klar. Es geht darum, die Person während der Schwangerschaft zu schützen und damit auch das heranwachsende Kind. Damit hatten wir bisher nie Probleme bei den Sozialversicherungen.

Um ganz andere Fragen geht es im Bereich der LGBT+ Asylsuchenden. Sarah Progin, gibt es in der Schweiz überhaupt eine Rechtsgrundlage, damit Menschen, die aus Gründen der Homo- oder Transphobie verfolgt werden, ein Asylgesuch stellen können?

Sarah Progin: Eine explizite Rechtsgrundlage braucht es nicht, weil das Geschlecht oder die Geschlechtszugehörigkeit unter das Merkmal der «sozialen Gruppe» fällt. Diese ist einer der fünf möglichen Verfolgungsgründe.

Nehmen wir mal an, ein Homosexueller aus dem Sudan möchte Asyl in der Schweiz. Wie muss er da vorgehen?

Sarah Progin: Die meisten Asylsuchenden kommen mit Schleppern über das Mittelmeer und dann über den Landweg von Italien in die Schweiz. Viele haben ja weder Visum noch Pass, also kommt das Flugzeug nicht in Frage. Nach der Dublin-Verordnung ist meistens Italien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, daher werden viele dorthin auch wieder zurückgeschickt. Es sei denn, man kann nicht nachweisen, dass die Person in Italien in die EU eingereist ist oder es wurden Fristen verpasst. Im Empfangs- und Verfahrenszentrum kommt es immer zu einer ersten Befragung zur Person, bei der die Fluchtgründe noch nicht relevant sind. Erst bei der zweiten Anhörung wird dann der mögliche Verfolgungsgrund vertieft.

Für homosexuelle oder trans Menschen ist es ja häufig schwierig, darüber zu sprechen.

Alecs Recher: Das ist ein Riesenproblem. Von diesen Menschen wird erwartet, dass sie, nach vielleicht jahrelanger Verfolgung, plötzlich Vertrauen fassen und über ihre Sexualität oder Geschlechtsidentität sprechen. Diese Personen kommen häufig aus Ländern, in welchen sie den Staat als Aggressor kennen. Manchmal fehlen nur schon die Worte, um darüber reden zu können. Diese psychologischen Hürden erfordern nicht selten eine lange Begleitung, auch von Seiten der LGBT+ Community. Wenn sie dann irgend-wann soweit sind, darüber sprechen zu können, ist es vielfach zu spät, da es dann heisst, es handle sich um ein sogenanntes verspätetes Vorbringen.

Sarah Progin: Es gibt mittlerweile vom Europäischen Gerichtshof drei Urteile zum Thema Homosexualität resp. zur Auslegung der EU-Qualifikationsrichtlinie. So darf man von niemandem verlangen, dass er oder sie sich versteckt, um Verfolgung zu vermeiden, was bedeuten würde, dass diese Person ihre Sexualität im Geheimen ausleben müsste. Zudem darf man keine umstrittenen Psychotests machen und auch keine Beweise, wie etwa Videos, verlangen. Auch stereotype Befragungen sind verboten.

Alecs Recher, Sie betreuen selber asylsuchende trans Menschen. Welches sind Ihre Erfahrungen?

Alecs Recher: Ich begleite trans Menschen, die Asyl suchen und arbeite dabei viel mit Queeramnesty und Asile LGBT Genève zusammen, die auch homo- und bisexuelle Menschen begleiten. Wir erklären ihnen das Asylsystem und begleiten sie an die Anhörungen, unterstützen sie aber auch mit ganz allgemeinen Informationen zum Leben hier und sind sozial für sie da. Denn häufig sind sie sehr einsam, vor allem wenn sie in Zentren untergebracht sind, und keinen Zugang zur LGBT+ Community haben.

Sarah Progin: Im Asylverfahren zählen wir rund 80 Prozent junge Männer. In den Asylunterkünften ist die Toleranz gegenüber Homosexuellen vielfach nicht sehr gross. Alecs Recher: Die LGBT+ Asylsuchenden werden meist ungenügend geschützt gegen Gewalt und Ausgrenzung durch andere Asylsuchende. Dabei muss man aber bedenken, dass vielen ein Leben lang eingetrichtert wurde, dass Homosexualität abzulehnen und zu bekämpfen sei. Solche Werte ändern sich nicht mit der Ankunft in einem anderen Land. Dem wird noch viel zu wenig Rechnung getragen.

Wie lässt sich dies verhindern?

Alecs Recher: Es geht darum, Lösungen zu finden, die allen Sicherheit gewähren. In Genf werden LGBT-Asylsuchende teilweise in Hotels untergebracht. Kollektivunterkünfte sind für trans Menschen zusätzlich schwierig aufgrund der geschlechtergetrennten Infrastruktur; teilweise gibt es nicht mal abschliessbare Einzelduschen. Sie haben dann Angst zu duschen oder zur Toilette zu gehen. Ich habe eine Person betreut, die sich tagelang nicht zur Toilette gewagt hat. Das sind bisweilen gesundheitsschädigende Zustände von Seiten des Staats und damit Menschenrechtsverletzungen.

Die Lösung?

Sarah Progin: Ein frühes Screening und die Platzierung in separaten Unterkünften mit entsprechender Betreuung.

Alecs Recher: Ja, genau. Ich kenne ein schönes Beispiel aus Luzern, wo drei schwule asylsuchende Männer zusammen eine Wohnung hatten. Es war unglaublich zu sehen, wie es diesen drei Männern psychisch gut ging, verglichen mit jenen in den Zentren.

Sarah Progin: Es ist ja schon für Nicht-LGBT+ Menschen schwierig in Asylunterkünften. Für Homosexuelle ist es eine Qual.

Kann eine Person mit Asylstatus ihr amtliches Geschlecht ändern?

Alecs Recher: Während dem Asylverfahren ist das eine noch ungeklärte Frage, da die Person ihren Wohnsitz in der Schweiz haben muss, das heisst, sie muss beabsichtigen, an dem Ort dauerhaft zu bleiben. Da gibt es noch keine Rechtsprechung dazu. Sobald eine Person aber eine F- oder B-Bewilligung hat, kann sie auch ihr amtliches Geschlecht ändern.

Sarah Progin: Schwieriger ist es, das neue Geschlecht auch in den Pass zu übertragen – sofern überhaupt einer vorhanden ist. Einerseits ist die Kooperation mit den Herkunftsländern ohnehin nicht einfach, und noch weniger, wenn es um eine Änderung des Geschlechts in einem Pass geht. Bleibt die Einbürgerung in der Schweiz. Dafür braucht es aber die ökonomische Unabhängigkeit, für die man eine Arbeit haben muss. Und eine Arbeit zu finden, ist auch nicht einfach.

Alecs Recher: Gerade für trans Menschen ist dies ein Problem, da sie die Ausweispapiere, die sie outen, nicht abändern können. Falls sie überhaupt so weit kommen…

Was meinen Sie damit?

Alecs Recher: Tatsache ist: Viele LGBT+ Menschen erhalten gar kein Asyl! Die Situation im jeweiligen Heimatland wird häufig nicht ernst genommen.

Sarah Progin: Im Bereich der Homosexualität reicht es beispielsweise nicht, wenn es im Herkunftsland ein Gesetz gibt, das Homosexualität unter Strafe stellt. Es wird verlangt, dass die Strafen im Heimatland auch tatsächlich umgesetzt werden.

Alecs Recher: Ausserdem wird homosexuellen Personen häufig nicht geglaubt, dass sie homosexuell sind.

Wird Homosexualität denn tatsächlich als Fluchtgrund manchmal nur vorgeschoben?

Sarah Progin: Ein solcher Fall ist mir nicht bekannt. Gerade bei Menschen aus Ländern, in welchen Homosexualität ein Tabu ist und diese geradezu geächtet wird, nimmt das niemand freiwillig auf sich.

Alecs Recher: Das Denken im Asylverfahren ist sehr eurozentristisch. So werden die homosexuellen Antragstellenden unter Umständen gefragt, welche denn die Schwulenkneipe in ihrer Heimatstadt sei oder ob sie Oscar Wilde gelesen haben. Es gibt Länder, da gibt es keine Schwulenkneipen!

Haben Sie über die letzten Jahre den Eindruck erhalten, dass sich die Situation für LGBT+ Asylsuchende verschlechtert hat?

Alecs Recher: Ja, ganz klar. Insgesamt hat sich die Situation der LGBT+ Community über die letzten Jahre in die richtige Richtung entwickelt. Ausser im Asylbereich, der mir entsprechend Sorgen bereitet. Ein Gesuch nach dem anderen wird abgelehnt. Und das bei Menschen, die wirklich verfolgt werden und Schutz brauchen. Als ich vor Jahren die ersten zwei, drei Menschen begleitet habe, war dieses Gefühl noch nicht so stark.

Sarah Progin: Dazu müssten wir mal was schreiben.

 

Unsere Expertin Sarah Progin-­Theu­er­­kauf ist Professorin für Europarecht und Migrationsrecht an der Universität Freiburg und Co-Direktorin des Zentrums für Migrationsrecht. Zudem ist sie Präsidentin der universitären Kommission für die Gleichstellung von Frau und Mann. Sarah Progin hat sich bereits in ihrer Forschung mit geschlechtsspezifischer Verfolgung befasst. Vor ihrer akademischen Karriere arbeitete sie als Anwältin.

sarah.progin-theuerkauf@unifr.ch

Unser Experte Alecs Recher hat an der Universität Freiburg Heilpädagogik und an der Universität Zürich Rechtswissenschaften studiert. Er befasst sich seit seiner Studienzeit mit Transgender-Rechten. 2009 gründete Recher die Organisation Transgender Network Switzerland (TGNS), wo er heute die Rechtsberatung leitet.

alecs.recher@tgns.ch