Dossier

Zwischen Himmel und Erde

Tempelberg, Ölberg, Sinai: Eine Wanderung durch den Alten Orient mit «Bergführer» Florian Lippke.

«Berge sind eine Verbindung zwischen dem Himmel und der Erde», sagt Florian Lippke. «Der Berg ist sozusagen der natürliche Turm von Babel.» Lippke ist Kurator für Vorderasien und die Levante am BIBEL+ORIENT Museum der Universität Freiburg – und er hat sich intensiv mit der religiösen Rolle von Bergen befasst. Seine Tour beginnt er bei den Urartäern, einem Volk, das rund ein Jahrtausend vor Christus in der gebirgigen Gegend des heutigen Armeniens und Ost-Anatoliens lebte.

«Die Urartäer hatten zahlreiche Berggötter. Diese waren oft auch mit dem Wetter konnotiert, das sich mit Blitzen, Wolken und Donner an Bergen ja besonders eindrücklich zeigt. Zugleich standen Berggötter aber auch für die Weisheit. Denn ‹von oben› sieht man mehr und vom ‹Viel-Sehen› ist es ein kurzer Weg zum ‹Viel-Wissen›.» Die Verknüpfung von Berggöttern mit Wetter und Weisheit findet sich daher auch bei Phöniziern, Hethitern oder Assyrern. Und vom Alten Orient verbreitete sich diese Vorstellung quer durch den Mittelmeerraum. «Besonders berühmt ist das Beispiel der alten Griechen, bei welchen Zeus bekanntermassen auf dem Olymp zuhause ist und von dort seine Blitze schleudert.»

Auch der erste prominente Berg in der Bibel steht im Land der Urartäer: Der Ararat (ursprünglich Araratu/Urartu), an dem die Arche Noah gelandet sein soll. «Damit knüpft die Bibel an viel ältere Bergtraditionen an. Von grösserer Bedeutung im Alten Testament ist aber eindeutig der (Berg) Sinai!», wirft Lippke ein. «Hier überreicht Gott Moses die Zehn Gebote. Es handelt sich um die eigentliche Schlüsselpassage des ersten Teils der Heiligen Schrift. Hier wird quasi Gottes politisches oder moralisches Programm definiert.»

Der Sinai ist aber eigentlich kein Berg, sondern ein Massiv. Dieses befindet sich auf einer Halbinsel südlich von Israel und gehört heute zu Ägypten. Hier liegt ein ‹Djabal Musa›, ein Moseberg, auf dem sich die Geschichte zugetragen haben soll. «Dieser ist aber nicht der höchste Berg des Massivs. Der gleich daneben liegende Katharinenberg ist 350m höher – aber geographische und theologische Höhe sind eben nicht dasselbe.»

Moses führt die Israeliten von der ägyptischen Knechtschaft ins Heilige Land, betritt dieses selbst aber nie. Er stirbt am Berg Nebo, östlich des Jordans, von dem aus er das Gelobte Land immerhin sehen kann. Vom Nebo aus ebenfalls sichtbar ist der Höhenzug, auf dem sich heute Jerusalem erstreckt. «Das ist in der Bibel eine fixe Wendung», erklärt Lippke: «Man steigt immer nach Jerusalem hinauf – unabhängig, von welcher Seite man sich der Stadt nähert.»

Jerusalem liegt auf rund 700 bis 800 Meter über Meer und besteht aus mehreren Hügeln, von denen der Zion zwar nicht der Höchste, aber fraglos der Wichtigste ist. «Dort errichtet König David seinen Palast und sein Sohn Salomon den ersten Tempel. Zu diesem Zeitpunkt (wir sprechen ungefähr vom Jahr 900 v. Chr.) wohnt der Gott JHWH für die Israeliten auf dem Zionsberg. Das wissen auch die alten Propheten: ‹der auf dem Zion wohnt› (Jesaja 8,18)». Salomons Tempel wurde aber 587 v. Chr. bei der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier zerstört. «JHWH konnte somit nicht mehr in seinem Gebäude wohnen – es lag vernichtet da. In dieser Zeit stieg Jerusalems Gott vom Gott-auf-dem-Berg zum Gott-im-Himmel auf.»

Israel ist ein hügeliges Land. Es gibt unzählige Berge, auf denen zahlreiche Ereignisse stattgefunden haben. Propheten suchten Gott, weise Männer zogen in die Wildnis. «Die Samaritaner aber haben sogar versucht, die Bedeutung ihrer eigenen Hausberge herauszustreichen. An zahlreichen biblischen Stellen, bei denen auf Jerusalem mit dem Berg Zion angespielt wird, liest man in der samaritanischen Version stattdessen überraschenderweise «Berg Garizim». Dies ist der Berg in der direkten Nachbarschaft von Samaria. Es grenzt schon fast an eine kleine Kriminalgeschichte.»

Nach der Zerstörung des Salomonischen Tempels wurde in persischer Zeit der Zweite Tempel an beinahe der gleichen Stelle wiedererrichtet. Dort stand er auch noch zur Zeit Jesu. Das Bauwerk wird im Neuen Testament wiederholt erwähnt und Jesus selbst ging in ihm ein und aus. Und dieser Jesus macht in den Evangelien eine ähnliche Erfahrung, wie Abraham: Er wird auf einen Aussichtspunkt gestellt. Allerdings wird Jesus nicht von Gott belohnt, sondern durch den Teufel verführt. Dieser bringt Jesus auf einen Berg bei Jericho und verspricht ihm alles Land, das er sehen kann, sollte Jesus sich ihm anschliessen. Aber Jesus lehnt ab.

«Eine ganz entscheidende Szene des Neuen Testaments ist die Bergpredigt. Wie zuvor Moses am Sinai verkündet Jesus hier das «Programm» des Neuen Testaments oder besser des Reiches Gottes, das anbrechen soll. Er verkündet die wichtigsten Botschaften, die ethische Zuspitzungen beinhalten: Einige der Zehn Gebote werden verschärft, Armutsgebot und Feindesliebe werden herausgehoben. Zwar ist der «Berg» hier eher eine Anhöhe in der Nähe des Sees Genezareth und nicht mit dem Sinai zu vergleichen. Trotzdem wird Jesus damit symbolisch als ein neuer Moses präsentiert.»

 

Im Valser Tal (GR). © marcovolken.ch

Auch Jesu Kreuzigung ist eine Berggeschichte. Im Garten Gethsemane am Westhang des Ölbergs verbringt er seine letzten Stunden, dann wird er auf dem Berg (oder Hügel) Golgotha gekreuzigt und in einer Höhle bestattet. «Höhlen und Berge sind schon von Natur aus, aber auch in der Kulturgeschichte, eng mit einander verbunden», ergänzt Lippke. «Hier gelangte man in der Antike in die Unterwelt; dort befanden sich nach damaliger Vorstellung die Toten. Diesen Ort der Toten verlässt Jesus aber nach drei Tagen wieder und fährt 40 Tage später schliesslich in den Himmel auf – der Ausgangspunkt der Auffahrt ist erneut der Ölberg.»

Es sind nicht nur die biblischen Berge, die im Alten Orient eine wichtige Rolle spielten, auch andere Berge waren bedeutsam. Und das nur schon aus praktischen Gründen. Für Prozessionen oder auch für (individuelle) Wallfahrten stiegen die Leute in Israel, aber auch anderswo oft auf die Berge ihrer näheren Umgebung, wo sich Heiligtümer befanden. Die Anstrengung, vielleicht die Entschleunigung aber vor allem die Höhe brachte die Leute näher zu Gott. «Berge verschafften den Gläubigen einen Überblick, führten ihnen aber auch ihre eigene Kleinheit vor Augen.» Auf den Bergen lagen überdies vielfach Heiligtümer von Berggöttern – oft markiert mit einer Stele. «In diesen kann man durchaus die Vorläufer der heutigen Gipfelkreuze sehen.»

Nicht nur Jesus fuhr zum Himmel auf, auch Mohammed wird in der islamischen Tradition eine besondere Himmelfahrt zugeschrieben. Und dies geschah der Überlieferung nach vom Jerusalemer Tempelberg (besser: «Berg der Heiligtümer») aus. Ob der Prophet aus Medina tatsächlich physisch in Jerusalem war, oder ob das Ganze eher symbolisch auszulegen ist, muss vorerst offenbleiben. «Sicher ist, dass durch die Verortung in Jerusalem eine der vielen Anbindungen des Islams an die jüdisch-christliche Tradition stattfand.» Und diese Anbindung wurde später in einem Monumentalbau umgesetzt. Denn als die Muslime 637 n. Chr. die Stadt eroberten, bauten sie auf dem Berg der Heiligtümer, den Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee. Der Name Al-Aqsa bedeutet «ferne Kultstätte» und nimmt Bezug auf die 17. Sure im Koran, in welcher Mohammed von Gott zu einer fernen Kultstätte entrückt wird und dort Jesus, Abraham und Moses zum gemeinsamen Gebet trifft.

«Jerusalem mit seinem Berg der Heiligtümer ist heute das spirituelle Zentrum für alle drei monotheistischen Religionen», sagt Bergführer Lippke. Und sogar der grosse Kampf am Ende der Zeit, das Armageddon, ist mit einem Berg zu verbinden: «Har-Megiddo» ist der Berg/Burghügel von Megiddo. Die Namen von Hügeln und Bergen konnten aber auch von einem Ort zum Nächsten wandern. Sie waren nicht so unverrückbar, wie man dies heute vielleicht vermutet. Das ist übrigens nichts Neues: Schliesslich berichtet schon das Matthäus-Evangelium, der Glaube könne Berge versetzen.

 

Unser Experte Florian Lippke forscht als Kurator und lehrt als Dozent in der Schweiz, in Deutschland und im Nahen Osten/Israel. Sprachliche, archäologische und kulturgeschichtliche Verbindungen interessieren ihn besonders. In Freiburg unterrichtet er semitische Sprachen und die Auslegung religiöser Texte, die mitunter über 3’000 Jahre alt sind.

florian.lippke@unifr.ch