Forschung & Lehre

Demenz kommt durch die Nase

Dass Entzündungen im Gehirn Synapsen zerstören und zu Krankheiten wie Alzheimer führen, ist bekannt. Aber wie sie das tun, war bis vor kurzem noch weitgehend ungewiss. Dr.?Lavinia Alberi Auber, Dozentin an der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg, trägt mit einem überraschenden Ansatz zur Klärung bei.

Als Lavinia Alberi Auber Ende Juni 2019 nach Quebec fliegt, hat sie in ihrem Gepäck ihre neusten Forschungsresultate: die Analyse von Gewebeproben aus dem Riechorgan von 38 verstorbenen Menschen. Diese Ergebnisse will sie am Jahreskongress einer kleinen, aber engagierten Stiftung mit dem Namen «HHV-6» vorstellen. «HHV-6» steht für «Humanes Herpes Virus 6», einen Keim, den fast hundert Prozent aller Menschen in sich tragen. Er kann unter anderem das Dreitagefieber und Hirnhautentzündungen hervorrufen.

Lavinia Alberi Auber hat die Ehre, am ersten Kongresstag, kurz nach der Keynote, ans Rednerpult treten zu dürfen. Ihr Vortrag trägt einen Titel, der zur wissenschaftlichen Nüchternheit der Autorin passt: «Die Verbreitung von HHV-6A im Geruchstrakt von Patienten». Doch dahinter steckt weit mehr. Ihre Forschung hat das Zeug, zur Lösung eines der grössten Rätsel der Forschung des 21. Jahrhunderts beizutragen. Das Rätsel: Wie entsteht Alzheimer und wie wirkt sich das auf die Therapie der Krankheit aus? Alberi beginnt mit dem Hinweis, dass die Abnahme der menschlichen Riechfähigkeit im Alter zwar grundsätzlich normal sei. Aber nicht immer: «Die Veränderungen können auch Hinweis auf eine beginnende Demenz sein.» Jedenfalls habe sie Verstorbene mit Demenzsymptomen untersucht und dabei in den Nervenzellen des Riechapparats und den dazu gehörenden Hirnbereichen Hinweise auf «eine prominente und progressive Tauopathie» gefunden. Mit anderen Worten: Alberi Auber fand hier ein gehäuftes Vorkommen eines Proteins namens Tau. Anstatt wie üblich das Zellgerüst zu stabilisieren, verklumpte das Protein zu Fasern. Als Folge starben die betroffenen Nervenzellen ab. Alzheimer gilt als die bekannteste Form einer Tauopathie.

Über die Nase ins Gehirn

Zudem habe sie, so fährt Alberi Auber fort, im untersuchten Gewebe auch Amyloidablagerungen entdeckt. Amyloid ist der Oberbegriff für Protein-Fragmente. Im gesunden Gehirn werden diese Fragmente zersetzt und vernichtet. Bei einer Demenz häufen sie sich zu harten, unauflöslichen Plaques an. Auch Amyloidablagerungen zählen zu den wichtigsten Hinweisen auf eine Alzheimer-Krankheit. Doch wie kommt es zu Amyloidablagerungen und Tauopathie?

Alberi Auber hat eine mögliche Erklärung: «Die Nervenzellen des Riechorgans bilden eine Brücke zwischen unserer Umgebung und dem Gehirn. Sie ragen von der Nasenschleimhaut über zwei Synapsen ins Gehirn – und zwar direkt, ohne dass es eine Blut-Hirn-Schranke zu überwinden gilt.» Dies sei der entscheidende Punkt. «Auf diese Weise können Krankheitserreger unmittelbar in jene Hirnbereiche gelangen, die für Demenzkrankheiten wie Alzheimer anfällig sind.»

Herpesviren beschleunigen Demenz

Tatsächlich hat Lavinia Alberi Auber im Riechorgan der verstorbenen Alzheimer-Patienten Hinweise auf Krankheitserreger gefunden: virale Antigene. Bei Menschen mit beginnender Demenz fand sie nur wenige, bei Patientinnen und Patienten im fortgeschrittenen Stadium hatten sie sich über den gesamten Geruchstrakt verstreut. Es sind Antigene, die sich nur bei Menschen mit entsprechenden Amyloidablagerungen finden.

Bei ihrer Untersuchung stellte Alberi Auber fest, um welche Art von Antigenen es sich handelt. Sie reagierten positiv auf den Untertyp A von HHV-6. Dieses Resultat interpretierte sie für das Plenum in Quebec so: «Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich Humane Herpesviren vom Typ 6 von der Nase über den olfaktorischen Kreislauf ins Gehirn ausbreiten, dort chronische Entzündungen mit dem Resultat einer Neurodegeneration auslösen und somit eine Beschleunigung von Alzheimer bewirken.»

 

Film: Christian Doninelli

Nobelpreiswürdig?

Inzwischen ist Lavinia Alberi Auber aus Kanada zurück und sitzt in der «Halle Bleue» des blueFACTORY-Quartiers in Freiburg. Hier arbeitet sie, neben ihrer Lehrtätigkeit an der Universität Freiburg, am Swiss Integrative Center for Human Health (SICHH). Frage: Sie tragen mit Ihrer Forschung vielleicht zur Lösung von einem der aktuell wichtigsten und gleichzeitig ungelösten Probleme bei. Ein Problem, das weltweit 50 Millionen Menschen leiden lässt, jährliche Behandlungskosten in der Höhe von 600 Milliarden Dollar erfordert und die Betroffenen dennoch in Umnachtung enden lässt. Sind Ihre Erkenntnisse also nicht eine Sensation, ja nobelpreiswürdig?

«Ah nein!», ruft sie aus und lässt die Hände auf den Tisch klatschen. «Jedenfalls sicher nicht in Bezug auf meine Arbeit.» Und gibt die angedachte Ehre bescheiden weiter: Ruth Itzhaki, emeritierte Professorin an der Universität von Manchester, habe den Preis «auf jeden Fall» verdient. Mit Itzhaki arbeite sie intensiv zusammen. Der Neurobiologin sei es zu verdanken, dass in den 90er Jahren Herpes-Viren erstmals als mögliche Ursache für Demenz erkannt wurden. Doch dann sei geschehen, was in der Forschung immer wieder passiere: «Es dauerte 20 Jahre, bis die Welt diese so wichtige Erkenntnis ernst nahm.»

Falscher Moment für Demenz-Forschung

Alberi Auber erlebt heute das gleiche Desinteresse. Ausser dem englischsprachigen Online-Medium «Alzforum.org» hat die Presse nicht reagiert. Was zur Folge hat, dass ihre Forschung nicht bekannt wird. Doch ohne Bekanntheit fehlt Alberi Auber, was sie braucht, um ihre Studien weiter zu verfolgen: Geld.

«Es ist der falsche Moment für die Alzheimer-Forschung, vor allem in Europa», sagt Lavinia Alberi Auber und lässt nochmals die Hände auf den Tisch sausen. «Nachdem sämtliche Therapieansätze gescheitert sind, haben sich die Pharmakonzerne aus diesem Bereich zurückgezogen.» Sie verweist auf Roche, Eli Lilly, Astra Zenaca, Merck & Co und Pfizer. Im Frühjahr 2019 starb auch noch die letzte Hoffnung, nachdem der Antikörper Aducanumab von Biogen und Eisai in den klinischen Tests durchgefallen war.

Konsequenz des Desasters: «Nun legen alle eine Pause ein. Niemand will sich nochmals die Finger verbrennen, also investiert auch niemand.» Und meint damit nicht nur die Industrie, sondern auch andere potentielle Geldgeber in Europa wie Fonds und private Stiftungen. Das mache ihr das Leben schwer: «Ich schreibe jeden Monat mindestens ein Gesuch zwecks Förderung meiner Forschung – meistens vergeblich.»

Antivirale Therapie gegen Alzheimer

Das Desinteresse an ihrer Arbeit hat aber noch einen anderen Grund. Sollte sich die Erkenntnis durchsetzen, dass Herpesviren oder andere krankmachende Keime der entscheidende Auslöser von Demenz sind, so wird die pharmazeutische Industrie kaum mehr auf das Thema zurückkommen. Dann braucht es keine patentgeschützten Hightech-Medikamente, die viel Geld einbringen. Alzheimer wird dann zu einer jener Krankheiten, die sich möglicherweise nicht verhindern, aber doch hinauszögern lassen – und zwar mit vergleichsweise einfachen Mitteln.

Wie? Alberi Aubers Vorschlag: «Alle Menschen ab 45 haben sich prophylaktisch einer antiviralen Therapie zu unterziehen, flächendeckend, und gleichzeitig mit Prävention zu beginnen.» Denn gegen Demenzkrankheiten wirke alles, was bekanntlich auch sonst gegen Gebresten wirke und guttue: Bewegung, wenig Alkohol, kein Nikotin, Mittelmeerdiät, Stressreduktion und Gehirntraining. Alberi Auber: «Dieses Programm gilt auch für mich!»

Um in diese Richtung weiterzukommen, will Lavinia Alberi Auber nun in der Schweiz eine Fokusgruppe aufbauen, bestehend aus Experten und Patientenorganisationen. Denn unser Land habe hier Nachholbedarf: «Die nationale Demenzstrategie läuft dieses Jahr aus – und ein Update ist nicht in Sicht.»

 

Unsere Expertin Lavinia Alberi Auber studierte an der Universität Triest Pharmazeutische Chemie, wechselte an die Universität Heidelberg und promovierte dort in Life Sciences. Nach einem Postdoc-Studium an der Johns Hopkins Medical School habilitierte sie an der Universität Freiburg, um sich wenig später als iMBA-Stipendiatin an der University of Illinois weiterzubilden. Zur Zeit arbeitet sie als Dozentin an der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg im Bereich der Neuropathologien und leitet am Swiss Integrative Center for Human Health (SICHH) die Abteilung Neurologische Forschung, wo sie sich auch im Bereich der StartUps engagiert. Zudem ist Alberi Auber am Human Brain Project engagiert. Hier will sie den Beweis führen, dass eine periphere Entzündung im Gehirn eine Neuro­degeneration auslösen kann.

lavinia.alberi@unifr.ch