Dossier

Zusammen – und doch allein

Das Echo und die Narzisse. Sinnbilder für die Leiden der Protagonisten aus Ovids Mythos. Und gleichzeitig auch zwei der Pfeiler, die das Konstrukt der Virtual Reality stützen.

Im Mythos von Narziss und Echo, wie Ovid ihn in den Metamorphosen erzählt (Buch 3, 339–510), werden zwei Liebende enttäuscht: die Nymphe Echo, weil sie sich ihrem Geliebten nicht mitteilen kann, der Jüngling Narziss, weil er in sich selber verliebt ist. Echo kann nur die Klänge wiederholen, die zu ihr gelangen; Narziss kann nur sein Spiegelbild bewundern, eine Oberfläche ohne Substanz. In ihrem Dialog, der nicht zustande kommt, ruft er: «Eher will ich sterben, als dass ich dir gehörte», und sie erwidert hoffnungsvoll: «Dass ich dir gehörte!» Der Schmerz rafft beide dahin, und die Nymphe wird in das Echo verwandelt, der Jüngling in die Narzisse. Ihre Körper lösen sich auf, es bleiben ein akustisches Phänomen und eine Blume, die den Namen des Jünglings bewahrt. Der Mythos wirft erstaunlich aktuelle Fragen auf. Spiegelbild und Echoraum stehen, wenn man so will, für Formen der Virtual Reality – für Illusion, Täuschung, Falschheit und Gefangenheit. Wer auf sein Spiegelbild fixiert ist, wer nur Gesagtes wiederholen kann und keine eigene Stimme hat, kann nicht mit einem realen Gegenüber in Kontakt treten, so sehr er oder sie es auch wünscht. Im Pseudo-Dialog mit entrückten Anderen sind nicht nur Kontraste und Dissonanzen ausgeschaltet, sondern ist überhaupt jeglicher Austausch verunmöglicht. Doch die Vereinzelung, die daraus folgt, ist genau deswegen so perfide, weil sie gar nicht als solche wahrgenommen wird. So auch im Echoraum des Internets und der sozialen Medien, wo viele Menschen nur hören und wiederholen, was sie schon kennen, wo sie nie Widerspruch erfahren, jedoch Bestätigung holen. Still und einsam ist es dort nicht, wenn auch vielleicht eintönig.

Mitfühlen auf Distanz

Der Wunsch, Neues zu erfahren, ohne sich aber auf andere Menschen in ihrer jeweiligen Eigenheit und Andersheit einlassen zu müssen, begünstigt wohl auch das sogenannte ghosting, das unvermittelte Verschwinden einer geliebten Person, die eben noch nahe schien – ein Phänomen, dem im Zeitalter des Internet Dating schon ganze Bücher und Radiosendungen gewidmet wurden. Eine Beziehung wird nur gerade so lange gepflegt, wie sich keine Reibungsflächen zeigen, die die Illusion einer perfekten Verschmelzung stören könnten; wenn das passiert – oder noch besser, bevor es passiert – taucht der eine Partner ab. Vielleicht erträgt er das Gegenüber, eben noch begehrt, nur im mumifizierten Zustand eines Traumbilds oder einer Erinnerung. Doch der Wunsch, sich zu verausgaben, sich in andere hineinzuversetzen, löst sich deswegen nicht auf. Er äussert sich bisweilen in einem paradoxen, da selbstbezogenen Mitleid oder Mitleiden, das den Zweck hat, an den Erfahrungen anderer teilzuhaben, ohne sie wirklich selber erleben zu müssen. Diese sentimentale Piraterie (salopp ausgedrückt) ist insbesondere dann problematisch, wenn es um schmerzvolle Erfahrungen geht. Die «dunklen Seiten» (Fritz Breithaupt) eines selbstbezogenen Mitleids, das sich am Leiden anderer ergötzt, hat schon der spätantike Philosoph Augustin beobachtet: Es sei doch ein Widersinn, wenn man sich wünscht, dass andere leiden, nur um sich in seinem Mitleid ergehen zu können (Confessiones 3.3).

Die neuen Technologien bieten aber auch Chancen. Angesichts des Klimawandels (und Covid-19) mag es als interessante Option erscheinen, ferne Länder nicht mehr per Flugzeug zu bereisen, sondern mit Hilfe von Virtual Reality zu erkunden. Überhaupt müssten wir uns nicht mehr um schöne Wohnungen und andere materielle Annehmlichkeiten kümmern, denn all das und viel mehr können wir haben, indem wir ein VR-Headset aufsetzen. Allerdings ist es ein frommer Wunsch, dass uns der Rückzug in die virtuelle Welt vor den ökologischen Folgen unseres Lebensstils in der realen Welt bewahren wird, denn der Energieverbrauch der Headsets ist immens (derjenige für das allgegenwärtige Streaming ist hoch genug).*

 

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Abtauchen in eine andere Welt

Spiegelbild und Echoraum evozieren aber nicht nur moderne Formen der Virtual Reality, sondern auch die Welt der literarischen Fiktion und der Kunsterzeugnisse insgesamt, eine Welt, in die man, entsprechend sozialisiert, nach Belieben eintauchen und aus der man wieder auftauchen kann. Das verursacht weder hohe Kosten, noch werden dabei die Gefühle anderer Menschen missbraucht. Literatur und Kunst erweitern das Erleben. Die Eintrittstore sind klar gekennzeichnet, sei es durch Buchdeckel oder das viereckige Format eines Bildschirms; durch diese tritt man in die Kunstwelt ein und verlässt sie auch wieder. Das heisst nicht, dass das, was man dort erlebt, nicht intensiv sein kann, dass man sich nicht sogar auf Zeit darin verlieren kann, dass man nicht auch etwas daraus mitnimmt.

Es ist auch nicht so, dass beim Lesen nur noch Augen und Gehirn zählten und der Rest des Körpers keine Rolle mehr spielte. Denn auch das Erleben via Einbildungskraft ist im Körper verankert, es nährt sich aus der Erfahrung und der Erinnerung an eigene Erlebnisse, und es kann Gänsehaut oder Tränen hervorrufen. Körperliche Symptome von Emotionen müssen nicht unbedingt als Gradmesser für deren Authentizität oder Tiefgang verstanden werden, denn wie wir Emotionen ausdrücken, hängt auch von kulturellen Codes ab. Doch grundsätzlich sind die Tränen im Kino genauso echt wie die im wahren Leben. Ob sie uns nachhaltig prägen oder nicht, ist eine andere Frage. Doch möglich ist es.

Narziss werde ein langes Leben haben, so weissagte Tiresias, wenn er «sich selber nicht (er-)kenne» (si se non noverit, 3, 348). Diese Weissagung erstaunt in einer Kultur, die den Spruch «Erkenne dich selbst» als Maxime tradierte. Was ist damit gemeint? Hätte Narziss nicht zufällig sein schönes Spiegelbild gesehen, hätte er sich auch nicht in sich selbst verliebt. Doch zum eigentlichen Verhängnis wird ihm erst der Moment, als er merkt, dass es er selber ist, in den er verliebt ist. Denn da begreift er, dass er nicht erlangen kann, was er begehrt – zu nah ist es: «O könnte ich doch aus unserem Körper heraustreten! Ein seltsamer Wunsch für einen Liebenden: ich wollte, dass das, was wir lieben, in einer Distanz wäre» (3, 467–8). Die Passage spielt mit Singular und Plural, Einheit und Zweiheit: ich – aus unserem Körper, ich wollte – wir lieben. Narziss ist gleichzeitig einer und zwei, doch er kann letztlich genau deswegen nur einer sein, weil er an seinen Körper gebunden ist. Er, der in ein Trugbild verliebt ist, wird auf seine Körperlichkeit zurückgeworfen, und damit auf seine Verletzlichkeit.

Ist der Körper also doch der letzte Hort von Authentizität, die Grenze von Fiktion und Liebeswahn? Ja und nein, denn was Narziss erlebt, geschieht in seinem Körper; sein Begehren gehört nur ihm, keinem Gegenüber. Doch lieber stirbt er, als dass er dies ertrüge, und sein Körper löst sich auf. Was bleibt, ist die Kunde seiner unglücklichen Verliebtheit. Es ist nur ein Mythos – doch dieser vermag uns auch heute noch zum Nachdenken über die in den festen Umrissen des Körpers symbolisierte Begrenztheit und Eigenständigkeit des Individuums anzuregen, ohne die es keinen Dialog und keine Pluralität gibt. Die Erzählung von Narziss und Echo kann auch politisch gelesen werden: denn ohne Dialog und Pluralität keine Demokratie.

 

Unser Expertin Karin Schlapbach ist Professorin im Departement für Klassische Philologie. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört die literarische Darstellungvon Tanz in der römischen Kaiserzeit. In diesem Zusammenhang hat sie sich mit dem Konzept der kinästhetischen Empathie befasst.

karin.schlapbach@unifr.ch

 

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