Dossier

Mehr Kuscheln, weniger Drogen

Erwachsene, die sich am Wochenende zu einer Kissenschlacht oder zum Raufen treffen. Finden Sie die Vorstellung ein bisschen schräg? Was aber, wenn die Wissenschaft uns nahelegt, für die eigene Psychohygiene aus der Komfortzone herauszutreten? Ein Gespräch über Ratten, Kuschelrunden und Opiate.

Ansgar Rougemont-Bücking, Sie sind Psychiater und spezialisiert für posttraumatische Störungen und Suchterkrankungen. Sind das aktuell die zwei grössten Belastungen, mit welchen die Gesellschaft zu kämpfen hat?

Ich halte sie für sehr wesentlich, weil Traumafolgestörungen und Sucht beides erworbene Erkrankungen sind. Die zerebralen Mechanismen sind sehr ähnlich. Beide sind Störungen eines Gedächtnisvorganges, die dazu führen, dass die Menschen dauerhaft krank sind. Es besteht aber die Hoffnung, dass therapeutische Interventionen eine Verbesserung bewirken können, gerade weil diese Erkrankungen erlernt sind.

Wie muss man sich das genau vorstellen? Was passiert im Gehirn?

Eine traumatische Belastung führt zu einer Überforderung der integrativen Fähigkeiten des Gehirns: Hierbei wird die Person überfordert in der Verarbeitung des Traumas und dies führt zu einer Art Abspaltung des traumatischen Erinnerns und Erlebens. Dieses Phänomen nennt man traumatische Dissoziation. Wenn diese aktiviert wird, kommt es zu Symptomen wie Flashbacks, Panikattacken, Alpträumen oder zum Griff nach Suchtmitteln.

Gibt es noch weitere Symptome?

Es kommt typischerweise auch zur Aktivierung von Glaubenssätzen: Ich bin unwert, nicht wichtig, schlecht, schuldig… Ich habe etwas Schlimmes getan, ich verdiene, dass ich unglücklich bin…

Warum lässt der Horror nach einer überstandenen belastenden Situation nicht nach?

Man hat zeigen können, dass Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ein Rekontextualisierungsdefizit haben, d.h. sie sind nicht «up to date» was den Kontext der Gegenwart betrifft. Sie sind nicht im Hier und Jetzt, sondern irgendwo in der Vergangenheit. Die Informationen, dass sie im Hier und Jetzt eigentlich in Sicherheit sind und dass die belastende Situation zu Ende ist, ist nicht präsent. Das kann man alles neurobiologisch mittlerweile auch gut nachweisen.

Es klingt, als müsste erst ein bestimmter Schritt erfolgen, bis man wieder nach vorne schauen kann.

Es gilt, das Bewusstsein zu entwickeln, dass man nun in der Gegenwart ist und dass diese in der Regel sicher ist, es also keinen Grund mehr gibt, in Panik zu sein. Das Problem ist, dass traumatisierte Menschen, wenn ein Trigger kommt, automatisch zurück in den Kontext der Vergangenheit geworfen werden. Das können sie nicht kontrollieren, und deshalb kommen die ganzen Paniksymptome wieder hervor.

Ab wann ist ein bestimmtes Verhalten als Sucht einzustufen?

Eines der wichtigsten Verhaltenssymptome ist der Kontrollverlust. Die Menschen sind nicht mehr in der Lage zu entscheiden, nicht mehr zu konsumieren oder nicht gewisse Dinge zu tun. Es kann auch sein, dass substanzbezogene Reize eine körperliche Reaktion provozieren, die des «Konsumierenwollens». Das nennt man auch craving, es handelt sich also um eine Aktivierung von einer automatischen, zuvor erlernten Erinnerung.

Wann ist eine Therapie erfolgreich?

Wenn der Patient in der Lage ist, auf verschiedene Situationen, Reize und Gefühlslagen mit einer grösseren Variabilität des Verhaltens und der Reaktion zu antworten, und nicht immer nur automatisch in die Panik oder in den Substanzkonsum gerät. Durch die Therapie wird versucht, eine gewisse emotionale Kompetenz zu erreichen: Es passieren Dinge, aber man kann es auch anders regeln und es ist nicht mehr ein Muss, dass man etwas konsumiert. Dadurch bekommt man die Kontrolle wieder zurück über diese Automatismen.

Sie scheinen nun eine wahre Fundgrube an Perspektiven für das Verständnis und für die Behandlung von vielen psychiatrischen Störungen gefunden zu haben. Auf welchem Konzept basieren diese?

Jaak Panksepp war ein Neurowissenschaftler, der seine Karriere mit Tierforschung gemacht hat, dies aber in einer translationalen Optik. Er fragte sich also: Was können wir aus Tierbeobachtungen und -versuchen lernen bzw. welche Modelle und Tierbeobachtungen können wir für ein besseres Verständnis der Probleme beim Menschen benutzen? Basierend auf seinen Untersuchungen stellte Panksepp eine Hypothese auf zu den sogenannten Primäreaffekten, die den Menschen von Grund auf leiten. Es entstand ein ziemlich umfangreiches Werk, in dem es u.a. um die Wichtigkeit des Spiels geht. Das ist meine Fundgrube. Für mich als Suchtforscher war seine wichtigste Entdeckung der sogenannte separation distress: Wenn man ein Neugeborenes von der Mutter trennt, also beispielsweise ein Kalb von der Mutterkuh, provoziert man dadurch einen extremen Stresszustand; das Neugeborene fängt an, panisch zu schreien. Diese Todespanik ist auch verständlich, denn es braucht ja die Mutter zum Überleben. Dieser separation distress wird dadurch wieder aufgelöst, dass man entweder die Tiere wiedervereinigt, oder dass man das Neugeborene zu einer Substitutperson bringt, die es berührt und hält, so dass es sich beruhigt. Wenn aber die Mutter oder eine Substitutsperson nicht verfügbar sind, kann man dem Neugeborenen auch Opiatwirkstoffe geben, die schon in sehr niedriger Dosierung zu einer sehr effektiven Beruhigung führen. Das ist ein anschauliches Modell dafür, wie fundamental wichtig Kontakt und Berührung sind. Für uns als soziale Wesen sind die soziale Interaktion und die Berührung zwischen Individuen sehr wichtig für das emotionale Gleichgewicht. Und dies sind opiatvermittelte psychische Phänomene und so gesehen wirken Opiatwirkstoffe als Substitut für mangelnden Kontakt zwischen den Individuen! Das separation distress system beim Tier ist übrigens dem sadness system beim Menschen sehr ähnlich, das bei Depression aktiviert ist. Ein depressiver Mensch ist letztendlich jemand, der darunter leidet, dass er den Kontakt verloren hat zu den anderen und zu sich selbst.

 

 

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On ne passe pas! / Wir halten fest!, SPES, Suisse, env. 1917

«Des jeux nouveaux, des jeux suisses –  suisses d’inspiration, suisses de fabrication – voilà ce que nous offrons aujourd’hui au public de notre pays, auquel on imposait jusqu’ici des articles étrangers, d’un goût souvent douteux et d’un caractère nettement indifférent à notre mentalité nationale.» Voilà comment Edmond Bohy lance la nouvelle gamme de jeux édités, dès 1917, par Säuberlin & Pfeiffer Editions Suisse (SPES).

Un de leurs premiers jeux faisait tout de suite référence à l’actualité de la Première Guerre Mondiale – On ne passe pas! ou Wir halten fest!. Le titre est peut-être emprunté à la phrase lancée par le général Robert Nivelle le 23 juin 1916 pendant la bataille de Verdun. Dans ce jeu, un joueur «fait avancer les armées d’Outre-Rhin (c’est-à-dire d’Allemagne), qui violent la neutralité suisse pour pénétrer en France ou en Italie». L’autre manœuvre une armée suisse, qui peut appeler à son secours l’armée française ou italienne. Toutefois, vu que cette perspective suisse-romande n’était pas forcément partagée outre-Sarine, l’éditeur propose aussi une autre manière de jouer, dans laquelle cinq armées franco-italiennes envahissent la Suisse…

Brauchen vor allem Säuglinge und Kinder diese Interaktion oder Erwachsene genauso?

Man braucht sie vor allem in der Entwicklungsphase, aber eben auch im Erwachsenenalter. Viele Probleme hängen damit zusammen, dass es in unserer Gesellschaft kaum noch körperlichen Kontakt gibt, dieser stark reglementiert ist und daraus für viele Menschen ein eindeutiges Defizit resultiert.

Was hat das alles mit Ihrem Berufsalltag zu tun? Empfehlen Sie mehr Kuscheln und weniger Drogen?

Auf jeden Fall! Es gibt ja in manchen Grossstädten Kuscheltreffen für Erwachsene oder, was Kinder betrifft, den rough and tumble play, übersetzt das wilde und wirbelnde Spiel. Dabei geht es nicht etwa um Schach oder Monopoly, sondern um das, was Ratten auch machen: sich richtig rumzuwerfen. Das sind wichtige regulative Lernprozesse, bei welchen es darum geht, sich selbst und die anderen zu spüren, auch Spannungen und Dominanz im spielerischen Kontext abzuklären und daraus zu lernen. Ich finde das als Suchtpsychiater so faszinierend, weil ich jahrelang schwersttraumatisierte Patienten gehabt habe, die opiatabhängig waren, weil dies ein Substitut war für menschlichen Kontakt und Wärme, die sie nie bekommen haben.

Kann ein wildes Spiel auch gefährlich werden?

Man kann Gewalt und Prügelei mit Spiel verwechseln, aber Agressionsaustausch hat nichts mit Spiel zu tun. Panksepp sagt, dass Spiel auch zum Austesten von Grenzen dienen kann, es kann aber auch mal in die falsche Richtung laufen und sich zu Mobbing und Unterdrückung von Spielgefährten entwickeln, gerade auch beim Menschen. Deswegen muss man als Erwachsener sehr verständnisvoll, intuitiv und konstruktiv mit einer solchen Situation umgehen. Es ist typisch, dass im Spiel auch Grenzen überschritten werden. Die Grenzüberschreitungen dürfen aber nicht dramatisiert werden, sondern man muss sich überlegen, was man daraus macht. Das erfordert eine gewisse erzieherische Kompetenz. Aber es gibt auch eine Selbstregulierung der Beteiligten im Spiel: Wenn ein starkes Individuum immer wieder gewinnt und das Schwächere immer wieder verliert, dann wird irgendwann das Schwächere mit dem Stärkeren nicht mehr spielen wollen, weil es keinen Spass mehr macht. Beim stärkeren Individuum besteht deshalb die Tendenz, sich bewusst schwächer zu machen, damit das Schwächere auch ein Erfolgserlebnis hat und dadurch das Spiel immer wieder möglich wird.

Wie kann man Räume schaffen in der Gesellschaft, um dieses Spiel zu ermöglichen?

Es ist eine schwierige gesellschaftspolitische Frage. Ich bin der Meinung, dass es darum geht zu kommunizieren, dass wir für ein gesundes Zusammenleben als Menschen Möglichkeiten brauchen, aus der Komfortzone herauszugehen, ohne dass das jedes Mal ein grosses Drama bedeutet. Wir Erwachsenen spielen nicht, weil wir daran gewöhnt sind, immer nur das zu tun, wo wir uns sicher und kompetent fühlen. Sobald wir nicht wissen, was genau passieren wird, machen wir einen Rückzieher. Spiel bedeutet für Kinder und Erwachsene, sich und der teilnehmenden Gesellschaft zuzutrauen, ein wenig in die Grenzüberschreitung reinzugehen und daraus zu lernen, bzw. die Plastizität und Flexibilität dieses Prozesses mit wohlwollender Offenheit zu erfahren.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Ich war im Sommer bei einem Selbsterfahrungswochenende und jemand hat auf einmal vorgeschlagen, eine Raufrunde zu machen. Erst dachte ich: «Was ist das denn für ein Quatsch, ich werde niemals daran teilnehmen und mich dadurch zum Affen machen!» Ich habe das erst einmal aus der Ferne beobachtet. Die Leute waren erst alle scheu, begannen sich dann aber zu raufen, unter Regeln und Supervision. Das war Schubsen, Drehen, Drücken… aber alles mit Vorsicht. Irgendwann machte ich dann doch mit. Und ich machte da genau die Erfahrung, die Panksepp beschreibt: Ich habe gelacht, ausgeteilt, eingesteckt… Niemand ist dabei zu Schaden gekommen und ich habe mich nach dieser Erfahrung total gelöst und befreit gefühlt. Auch meine Rückenschmerzen waren weg.

Nehmen solche Angebote zu?

Es gibt Kuschelrunden, Kissenschlachtrunden, Raufrunden… Es gibt Formen körperlicher Interaktion, die dieses Bedürfnis befriedigen können, zumindest ansatzweise.

Kann das Spielen bzw. Raufen auch präventiv sein und beispielsweise dabei helfen, resilienter zu werden?

Panksepp ist der Meinung, dass Kinder, die regelmässig wild und wirbelnd spielen, längerfristig eine bessere Sozialkompetenz haben, reifer sind und ihre Gefühle besser regulieren können. Kinder, die nicht spielen, haben später mehr Probleme im Leben. Das wird dann auch problematisch für die anderen. Es gibt Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass diese spielerische Aktivität die Gehirnreifung und hierbei vor allem die Reifung des präfrontalen Kortex positiv beeinflusst. Das bedeutet, dass die Leute dadurch reifer sind im Umgang mit Gefühlen und Schwierigkeiten. Sie werden nicht so schnell depressiv oder suchtabhängig.

Boys will be boys… Das Raufen wird bei Jungs eher akzeptiert als bei Mädchen. Kommen Depressionen tendenziell mehr bei Frauen vor, weil sie gesellschaftlich früher reguliert werden als Männer?

Das ist eine sehr interessante Frage und wäre ein interessantes Thema für eine nächste Studie.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Die Opiatsubstitutionswirkung auf Kontakt- und Berührungsdefizite ist vielleicht eine Option für die Zukunft. Man sollte viel mehr über Opiate forschen. Es ist ein tabuisiertes Thema mit stigmatisierten Wirkstoffen. Das ist sehr schade, denn es gibt Hinweise dafür, dass man Menschen mit traumatischen Belastungsstörungen oder auch Borderline-Störungen damit deutlich helfen könnte. Mittlerweile gibt es auch Opiatwirkstoffe, die relativ sicher sind, weil sie weniger gefährliche Nebenwirkungen haben. Und ansonsten: Wenn wir immer nur in der Komfortzone bleiben, werden wir krank. Unsere Psyche braucht die Erfahrung, mal in neue Gewässer vorzudringen und sich dort vielleicht auch zu verletzen, um wieder reaktiv und plastisch zu sein. Das wünsche ich mir.

 

Unser Experte Dr. med. Ansgar Rougemont-Bücking ist Ober­assistent am Departement für Medizin und Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie. Er forscht zum Thema Traumafolgestörungen und Sucht.

ansgar.rougemont-buecking@unifr.ch

Quellen / Literatur

Panksepp, Jaak; Lucy Biven: The Archeology of Mind. Neuroevolutionary Origins of Human Emotions