Dossier

Zeig mir, wie du spielst

Andrea Samson erforscht unseren Umgang mit Emotionen. Und entwickelt Spiele, mit denen Kinder lernen können, wie’s geht.

«Das Wichtigste ist, dass unsere Spiele Spass machen», sagt Andrea Samson, Professorin am Heilpädagogischen Institut. Behaupten kann so etwas natürlich jeder – Samson aber hat es untersucht. Mit Test- und Kontrollgruppen, mit «gewöhnlichen Spielen» und Spielen aus ihrem Labor. Resultat: Ihre Spiele zum Thema «Emotionen» waren bei den Kindern gleich beliebt, wie die Spiele aus dem Laden.

Für Samson ist das entscheidend, denn «pädagogische Spiele wirken leider oft ungeheuer schulmeisterlich. Und Spiele, die keinen Spass machen, werden nicht gespielt. Nur wenn die Kinder unsere Spiele gerne spielen, spielen sie sie oft. Und dann können sie etwas bewirken. Nehmen wir zum Beispiel unser Spiel ‹Action›». Eilig packt die Professorin einige Karten und einen Würfel aus einer Spieleschachtel und beginnt, die Karten zu mischen.

Gefühle würfeln

In ihrer Doktorarbeit hat Andrea Samson über Humor geforscht und geschrieben. Dies brachte sie zur Autismusforschung, denn Hans Asperger, Namensgeber des berühmten Syndroms, behauptete, Personen auf dem Autismus-Spektrum hätten keinen Humor (Andrea Samsons Forschung zeigte, dass das so pauschal nicht stimmt). Die Psychologin zog nach Stanford, wo sie sich mit Emotionsregulation beschäftigte, von dort nach Genf, wo sie am Swiss Center for Affective Sciences Spiele entwickelte, bevor sie nach Freiburg zurückkehrte, wo inzwischen zwei gut gemischte Kartenstapel auf dem Tisch liegen. Auf den kleineren Karten stehen kurze Sätze, auf den grösseren sechs Emotionen. Sie zieht zwei Karten, würfelt und sagt «Es ist ein schöner Tag heute» – aber wie klang es? Traurig? Ängstlich? Bedrückt? Dass sie zwar seufzt, sich aber auch ein Lächeln verkneifen muss, hilft auch nicht gerade. Wie erkennt man, welche Emotion gemeint ist? Die Stimme, die Atmung, die Körperhaltung, Gesten, die Mimik. Grinsend reicht Samson den Würfel über den Tisch. Hm… und wie drückt man nun ein bestimmtes Gefühl aus?

Gefühle lernen

«Kinder spielen die ganze Zeit. Es ist ihr wichtigstes Mittel, um Neues zu erlernen. Sie probieren aus, sie wenden an, sie trainieren.» Und sie lernen, mit ihren Gefühlen umzugehen. «Lässt man Kinder frei spielen, geht’s eigentlich immer um Gefühle. Wie verkrafte ich es, wenn ich verliere? Wie bin ich ein fairer Sieger? Was löst es bei mir aus, wenn jemand die Regeln ändert?»

Emotionsregulation ist ein sperriges Wort. Letztlich geht es darum, wie wir mit unseren Gefühlen umgehen. «Wir alle haben Strategien, um negative Gefühle zu reduzieren und positive zu verstärken oder zu verlängern. Wir hören eine bestimmte Musik, um besser einzuschlafen und eine andere, wenn wir Sport machen. Es gibt aber auch Situationen, in denen wir gute Gefühle reduzieren müssen, etwa bei einem Lachanfall in der Vorlesung.» Wir alle lernen, mit unseren Gefühlen umzugehen. Kleinkinder sind darin ungeübt: Schrecken sie aus einem Albtraum hoch, braucht es Papas oder Mamas Zuwendung, damit sie sich wieder beruhigen können. «Es war nur ein Traum», sagen sich die etwas älteren Kinder: Kognitive Neubewertung – eine Strategie der Emotionsregulation. Andere Strategien sind beispielsweise Distanzierung, Vermeidung, Problemlösung, Ablenkung oder auch Akzeptanz.

Gefühle meistern

Samsons Spiele verfolgen unterschiedliche Ziele. Bei manchen geht es darum, Emotionen überhaupt einmal richtig wahrnehmen und korrekt benennen zu können. «Es gibt Kinder, die sagen zwar ‹Ich fühle mich schlecht›, aber sie wissen nicht, ob sie nun traurig oder wütend sind. Dabei wäre das wichtig, unter anderem, weil es für Trauer und Wut unterschiedliche Bewältigungsstrategien gibt.» Andere Spiele sollen genau diese Bewältigungsstrategien vermitteln. Und wieder andere helfen, die Emotionen der anderen richtig zu deuten. Nur, wozu das Ganze überhaupt? «Gefühle werden zuweilen als etwas Nettes, manchmal als störend und viel zu oft als etwas nicht allzu Wichtiges gesehen. Im schlimmeren Fall heisst es ‹Gefühle können wir uns hier nicht leisten›. Das ist aber Nonsens. Die emotionale Kompetenz einer Person ist einer der besten Prädiktoren für ihre Biographie. Wie zufrieden jemand im Leben sein wird, welchen beruflichen Erfolg er haben und wie gut er persönliche Krisen meistern wird: Für all das hat die emotionale Kompetenz mehr Vorhersagekraft als beispielsweise die akademischen Noten.»

 

 

 

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Leibenger’s Prototyp-Serie B: Grosse römische Buchstaben, Leibenger et Petitpierre, Lausanne und Genf, Schweiz, 1903

Auch die Erziehungswissenschaft und die Fachdidaktik bedient sich spielerischer Mittel in Erziehung und Unterricht. Prof. Georges Leibenger zerlegte Formen und Figuren in die Grundelemente Linien und Bögen, die sich als Mettallteile in der Schachtel befinden. Sie kostete 1903 zehn Franken (zum Vergleich: ein Paar Schuhe kostete etwa 7.50 Franken). Durch eigenhändiges und selbstständiges Zusammenstellen sollten die Kinder «zum künstlerischen und richtigen Schauen und Fühlen» angeleitet werden und eine «Vorstellung von dem inneren Zusammenhange der Dinge» entwickeln. Leibenger bezog sich, das wird deutlich, auf den deutschen Pädagogen Friedrich Fröbel, der Schülerinnen und Schülern ebenfalls «die scharfe Darstellung, und so auch Auffassung der wesentlichen Grundverhältnisse der Form und der durch sie bedingten Grössenverhältnisse zu vermitteln» suchte. Leibengers Spiele wurden u.a. vom Pestalozzianum Zürich und von J. Soussens von der Studien-Kommission des Kantons Freiburg als Lehrmittel empfohlen.

«Die Beschäftigung mit diesen beweglichen Zeichen wirkt erfrischend und fruchtbringend auf den Geist der Kinder», schreibt Leibenger. Wie erfrischend, lässt sich an den Gesichtern der Familie ablesen...

Gefühle in der Schule

Samson legt ein weiteres Spiel vor. Es geht darum, gemeinsam eine Geschichte zu erfinden, bei der sich immer wieder Probleme in den Weg stellen. «Dieses Spiel braucht noch am meisten Weiterentwicklung», sagt sie. Überhaupt sind die Spiele aus ihrem «chEERS Lab» noch nicht auf dem Markt. «Aber wenn wir sie beispielsweise an einer Museumsnacht vorstellen, gibt es immer wieder Leute, die sagen ‹genau so etwas brauche ich für meine Schule!›».

Mit Schulen arbeitet die Forschungsgruppe um Samson schon heute zusammen. Hier können sie Tests machen, die Spiele laufend verbessern und messen, ob sie wirklich etwas bringen. Mittelfristig könnten die Spiele vielleicht sogar als Messinstrument eingesetzt werden, um emotionale Kompetenzen zu erfassen, beispielsweise für Schulpsychologen. «Dafür müssten aber zuerst eine Skala entwickelt sowie Normwerte erarbeitet werden, um das Spielverhalten eines einzelnen Kindes mit anderen zu vergleichen.» Überhaupt braucht es noch einiges an Forschung und Weiterentwicklung. «Unsere Gruppe ist erst seit einem Jahr in Freiburg, wir sind also noch daran, Kontakte zu interessierten Lehrpersonen aufzubauen.» Dass die Schulen ein Interesse haben, ist aber gesetzt. Im Lehrplan 21 sollen emotionale Kompetenzen gestärkt werden. Nur hat noch niemand die passenden Instrumente dafür – das heisst: fast niemand.

Virtuell gespielt, echt gefühlt

Als letztes führt uns Andrea Samson in die virtuelle Welt. In einem weiteren chEERS-Lab-Projekt werden emotionale Regulationsstrategien im sozialen Kontext simuliert. Sozial? Mit ein paar Pixelmännchen? «Ich konnte mir das anfangs auch nicht vorstellen», gesteht Samson. «Aber es funktioniert. Und das nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen.» Die Spielenden erhalten eine Virtual- Reality-Brille, Kopfhörer und eine Steuerung, dann taucht vor ihren Augen ein Schulhaus auf. Der Abwart erklärt, wie das Spiel funktioniert, dann geht’s ins Klassenzimmer. Man stellt sich als neuer Mitschüler vor, dann will die Lehrerin einen Film zeigen. Aber halt – sie unterbricht die Vorführung und schaut einen streng an. Ob man will oder nicht: Es ist ungemütlich. Zum Glück ist Sitznachbar Pete da, der flüstert: «Ich glaube, sie schimpft wegen Jakob, der direkt hinter dir sitzt». Puuuh! Später wird auf dem Pausenplatz mit dem Ball gespielt. Aber hey, warum geben die zwei Mitspieler diesen nie ab? Im Computer werden soziale Situationen immer genau simuliert und gemessen, wie sich die Testpersonen verhalten. Und wie erleichtert sie sind, wenn Pete erklärt, dass die zwei Mitschüler immer nur zu zweit spielen. «In der virtuellen Realität haben wir inzwischen erste Testreihen zu Emotionen im ‹sozialen› Kontext gemacht», sagt Samson, «aber es wird natürlich noch weitere Untersuchungen brauchen, um besser zu verstehen, wie gut die Emotionen und ihre Regulation innerhalb des virtuellen Spiels Emotionen im realen Leben widerspiegeln.»

«Was mich an unserem Umgang mit Gefühlen besonders fasziniert, ist, dass sich unsere Strategien im Laufe des Lebens verändern. Es ist ein lebenslanges Lernen.» Lebenslanges Spielen kann dabei helfen. Nicht grundlos steht auf Spieleverpackungen «Von 0 bis 99 Jahren».

 

Unsere Expertin Andrea Samson hat eine Förderungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds am Heil­pädagogischen Institut der Universität Freiburg und ist Assistenzprofessorin an der Fakultät für Psychologie an der FernUni Schweiz. Sie leitet zudem das chEERS Lab (swiss emotion experience, regulation and support). Ihre Forschungsinteressen drehen sich vor allem um Emotionen und deren Regulation bei Menschen mit und ohne Entwicklungsstörungen.

andrea.samson@unifr.ch