Dossier

Das tägliche Stück Angst

Alle Menschen haben manchmal Angst. Was aber, wenn die Angst nicht mehr vergeht und über das Leben regiert? Der Psychiater Prof. Marco Merlo über die Angst vor der Angst.

Marco Merlo, wann wird die Angst ein Fall für den Psychiater?

Das setzt voraus, dass diese Person die Angst erkennt, dass sie merkt, dass sie Angst hat!

 

Wie muss ich das verstehen?

Angst hat sehr viel mit dem Erleben des eigenen Körpers zu tun. Die Patienten spüren zwar, dass etwas nicht stimmt. Sie glauben aber, dass es sich um Dysfunktionen des Körpers handelt. Patienten mit Angststörungen gehen darum mit ihrer Angst erst einmal zum Hausarzt. Sie sagen etwa: Ich kann nicht einschlafen, ich habe rasendes Herzklopfen, ich habe Angst tot umzufallen, ich kann mich nicht mehr konzentrieren... Sie machen nicht den Bezug vom körperlichen Unwohlsein zur ihrer Angst.

 

Wovor haben diese Leute denn Angst – eine Sterbensangst sogar?

Es gibt die Angst vor spezifischen Dingen oder Situationen. Zu diesen Ängsten zählen die Phobien, zum Beispiel die Furcht mit dem Flugzeug zu reisen, einen Aufzug zu nehmen oder die Furcht vor Spinnen. Die Angst aber, von der wir hier sprechen, ist nicht situations- oder objektbezogen. Es ist vielmehr eine allgemeine, diffuse Angst, die aber so akut und so stark sein kann, dass sie in einer Panikattacke gipfelt, welche die Patienten auf die Notfallstation führt mit dem Verdacht auf einen Herzinfarkt.

 

Was sich dann aber, wie sie schon sagten, als reine körperliche Empfindung erweist. Wie erklären Sie dem Patienten, dass es Angst ist, was ihn plagt?

Als erstes muss ich darum ein Konzept der pathologischen Angst aufbauen. Das heisst, ich muss diesen Patienten aufzeigen, dass sie Dinge des Alltags, die für ihr Alter und ihre Rolle eigentlich selbstverständlich sind, nicht machen. Aus Angst vor der Angst. Wir nennen das eine Vermeidungshaltung. Die Angst ist etwas ganz Normales. Aber sie wird dann pathologisch, wenn sie mich in meinem Leben einschränkt und ich Dinge nicht mehr mache oder ich im Kontakt nicht mehr frei bin, Dinge zu äussern die mir wichtig sind.

 

Das kann aber auch ein Charakterzug sein. Wie gehen Sie vor, um sicher zu sein, dass es sich um eine Angststörung handelt?

Ganz entscheidend für mich ist, wie sich diese Person in der Beziehung mit anderen Menschen verhält. Zum Beispiel, wenn ein junger Mensch keine Sozialkontakte aufnimmt, weil er Angst vor dem hat, was andere über ihn sagen könnten, oder wenn sich jemand nicht in den Bus oder den Zug traut, weil er Angst hat, anderen Menschen zu begegnen. Oder ich schaue wie ein junger Erwachsener die ganz normalen Entwicklungsstufen bewältigt, etwa wie jemand, der von zu Hause weggeht, seine Autonomie findet, wie er sein ausserfamiliäres Netz aufbaut, wie er lernt, in Beziehung mit anderen zu sein. Diese Fähigkeit zu tragenden Beziehungen, durch die man sich wohlfühlt, das bereitet heute vielen Jugendlichen Probleme und das kann im jungen Erwachsenenalter zu Krisen führen.

 

Weiss man, was Angststörungen auslöst oder wer besonders davon betroffen ist?

Es gibt sicher eine familiäre oder genetische Veranlagung. Auch ein überfürsorglicher oder zu leistungsorientierter Erziehungsstil kann Angst fördern. Etwa wenn schlechte Noten mit Liebensentzug verbunden werden. Wir stellen auch fest, dass bei Kindern immer häufiger Befürchtungen vor Infektionen und Krankheiten auftreten, etwa falls sie bestimmte Speisen essen. Auch das kann Ängste auslösen. Und dann gibt es Personen, die traumatisierende Ereignisse erlebt haben und dadurch emotional instabil sind. Sie nehmen die Angst immer schon vorweg.

 

Ihr Spezialgebiet sind die psychischen Störungen im jungen Erwachsenenalter. Wie häufig sind Angststörungen bei dieser Altergruppe?

Sie haben allgemein zugenommen. Der junge Erwachsene von 16 bis 25 Jahren ist heute sehr verunsichert, denn die Familienstrukturen bieten nicht mehr die gleiche Stabilität wie früher. Dann gibt es die vielen Wahlmöglichkeiten. Das ist zwar gut. Aber es wird zu vieles offengelassen: Was mache ich aus meinem Leben, wie gehe ich weiter. Auch dass der Klassenverband schon früh im Jugendalter aufgelöst wird, trägt zu der allgemeinen Verunsicherung bei. Die jungen Menschen lernen nicht mehr, ein Gruppengefühl zu entwickeln. Wir stellen zunehmend auch Bullying fest: dieses Mobbying in der Schule unter Gleichaltrigen, wo Aussenseiter systematisch aus dem Verband gedrängt werden, bis hin zum Cyberbullying über Internet, das Jugendliche sogar zum Selbstmord drängen kann.

 

Asoziale Medien also…

Paradoxerweise leben viele isoliert und leiden unter erheblichen Kontaktängsten, trotz moderner Medien. Die modernen Medien, wie Facebook oder Instagram üben einen starken sozialen Druck auf Jugendliche aus und bedrohen ihre Identitätsfindung. Vom Körpererleben, zum Beispiel durch Essstörungen, bis hin zu spirituellen Fragen sind diese Menschen sehr verunsichert.

 

Wie häufig sind Angststörungen insgesamt, verglichen mit anderen psychischen Störungen?

In Europa sind Angststörungen die häufigste psychische Störung. Wenn man die Schlafstörungen dazunimmt, ist Angst sogar die weitaus häufigste Störung. Und doch wird sie in der Öffentlichkeit wenig diskutiert, verglichen mit anderen Störungen wie der Depression, dem Burnout... Die Gesellschaft ist nicht gut im Umgang mit der Angst.

 

© Jérôme Berbier

Das müssen Sie bitte erklären.

Unsere Gesellschaft ist sehr stark substanzorientiert. Es werden enorm viele Schlaf- und Beruhigungsmittel ein-genommen. Diese Benzodiazepine kamen Mitte des 20. Jahrhunderts auf. In «The Brave New World», dem Buch von Aldous Huxley aus dem Jahr 1932, wurde dieses Denken vorweggenommen. Es beschreibt den Traum, die Ideologie vielmehr, dass die Menschheit ein Mittel zur Unterdrückung aller Ängste zur Verfügung hat.

 

Eigentlich ein schöner Gedanke.

Und gleichzeitig der grösste Fehler. Man kann die Angst nicht bewältigen, indem man den Körper mit Medikamenten oder Drogen kontrolliert. Das ist ein Teufelskreis und er führt paradoxerweise dazu, dass immer mehr Medikamente eingenommen werden und die Angst trotzdem zunimmt. Der Konsum von Schlaf- und Beruhigungsmitteln beginnt schon bei Jugendlichen und erreicht bei älteren Menschen erschreckende Ausmasse. Umsomehr als man weiss, dass diese Medikamente für das Denken schädlich sind oder gerade bei älteren Menschen Stürze auslösen können mit Frakturen als Folge.

 

Benzodiazepine müssen vom Arzt verschrieben werden.

Darum wäre es auch ganz wichtig, dass im Rahmen des Masters in Medizin, wie er bald auch in Freiburg angeboten wird, die kommunikativen Fähigkeiten der zukünftigen Ärzte intensiv gefördert werden, damit sie lernen, mit den Ängsten der Patienten umzugehen und nicht voreilig «ein Mittelchen» dagegen verschreiben. Das beziehe ich auch auf Ängste bei körperlichen Krankheiten.

Wenn ich als Arzt jemanden ausschliesslich mit Medikamenten behandle, damit er angstfrei ist, so riskiere ich, dass er das richtige Leben links liegen lässt. Eine Patientin, die zwanzig Jahre lang Beruhigungsmittel genommen hatte, sagte mir einmal, dass sie erst nach dem Absetzen der Medikamente wieder zu sich gefunden habe. Die Erinnerungen aus der Kindheit waren für sie erst dann wieder zugänglich.

Dieses Zumachen der Erinnerung und der Gefühle mit Medikamenten ist keine Lösung. Darum ist es auch so wichtig, dass wir Psychiater zugleich auch Psychotherapeuten sind. Denn es ist nicht das Medikament allein das hilft, sondern die Arbeit an der Angst und an der Lebenssituation. Das hilft weiterzukommen.

 

Kann man eine Angststörung bewältigen und wieder ganz gesund werden?

Die Angstreaktion ist ein Stück Biologie und tief in unserem Unterbewussten verankert. Wir reagieren, ohne dass unser Denken oder unsere Gefühle uns dabei helfen können, mit Flucht, Kampf oder Erstarren. Sie ist a priori nicht pathologisch. Jedoch kann sie durch Traumata verstärkt werden und zu einer grösseren Empfindlichkeit führen. Interessanterweise verhält es sich in der Folgezeit wie mit der Nikotinsucht: Einer, der jahrelang Zigaretten raucht und aufhört, ist Nichtraucher. Aber wenn er wieder mit dem Rauchen beginnt, ist er schnell wieder im Kettenrauchen drin. Ähnlich verhält es sich mit der Angst. Wir Psychiater können zwar helfen, jemanden aus den Ängsten herauszuholen. Aber diese Person wird immer jemand sein, der eine grössere Empfindlichkeit für Ängste hat, als alle anderen.

 

Als alle anderen?

Angst gibt es in jedem Menschen. Das Menschsein ist ein stetiger Fluss und Angst ist die Motivation, sich mit der eigenen Existenz auseinanderzusetzen. Angst hat eine ganz wichtige Funktion fürs Überleben, aber auch in den Fragen nach dem Sinn unseres Daseins. Wer deshalb ehrlich mit sich ist, der muss sagen: Ich habe tagtäglich ein Stück Angst zu bewältigen. Der kann nicht sagen, heute habe ich die Angst bewältigt und morgen habe ich keine Angst mehr. Die Angst zu bewältigen ist die Aufgabe des Menschseins. Das fängt jeden Tag wieder von vorne an.

 

Das heisst, dass eine Person mit einer Angststörung einfach mehr Angst hat als andere und lernen muss, diese Angst auf ein verträgliches Mass zu reduzieren.

Genau. Soweit, bis jemand wieder im Leben Fuss fasst und sagen kann: Gut, ich habe zwar Angst zur Arbeit zu gehen oder in den Bus zu steigen, aber ich schliesse mich nicht ein. Ich gehe und versuche es, weil ich weiss, dass es mir gut tut. Und irgendeinmal kommt diese Person nach Hause und kann sagen: Ja, es hat mir gut getan. Dann ist sie wieder im Lebensprozess mit dabei. Dann bestimmt sie wieder selber über ihr Leben und nicht mehr die Angst. Sie hat gelernt, mit dieser Empfindsamkeit im Alltag umzugehen. Wichtig ist dabei, dass die Gesellschaft diesen Menschen Raum und Unterstützung sichert.

 

Unser Experte Prof. Dr. Marco C. G. Merlo ist seit 2012 Professor für Psychiatrie und Psychotherapie. Zuvor war er während über zehn Jahren Leitender Arzt des Programms JADE für junge Erwachsene mit beginnenden psychischen Störungen am Genfer Universitätsspital. Als Forscher leitet Prof. Merlo das Labor für psychiatrische Neurowissenschaften und Psychotherapie. Darüber hinaus engagiert er sich für das Projekt Pact'Emploi et Formation, das die soziale Integration junger Erwachsener mit beginnenden psychischen Störungen fördern will. marco.merlo@unifr.ch