Dossier

Wenn Eltern Angst machen

Eltern wollen ihre Kinder beschützen. Doch zu viel Behütung kann den Nachwuchs ängstlich
machen – mit gravierenden Folgen.

Das eine Kind fährt schon mit sechs Jahren alleine durch die Stadt, ein anderes traut sich noch mit 12 nicht, beim Quartiersbäcker die Frühstücksbrötchen zu besorgen. Eine mögliche Erklärung: Das zweite Kind wächst unter dem Einfluss von ängstlichen Eltern auf. Zugespitzt könnte man sagen: Ängstliche Mütter oder Väter können ihren Kindern Ängste quasi antrainieren.

 

«Typische Beispiele für Ängste bei Kindern sind Phobien vor Tieren, Dunkelheit und lauten Geräuschen», erklärt Annette Cina. Sie leitet das Zentrum für Psychotherapie der Universität Freiburg und weiss, was passieren kann, wenn Kinder mit Ängsten aufwachsen. Besonders einschränkend sind soziale Ängste: Betroffene haben eine anhaltende und unangemessen starke Angst davor, in Kontakt mit anderen Menschen treten zu müssen, im Mittelpunkt zu stehen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie fürchten, sich zu blamieren oder abgelehnt zu werden. Auch diese Angst kann sich auf Kinder übertragen. Eine sozial ängstliche Mutter oder ein sozial ängstlicher Vater meidet nämlich in der Regel Situationen, in denen er oder sie sich exponieren muss. «Die Kinder haben also weniger Vorbilder, wie man selbstsicher auf andere zugeht und mit ihnen Kontakt aufnimmt», so Cina. Betroffene Eltern befürchten, dass ihr Kind von anderen be- oder verurteilt werden könnte. Folglich versuchen sie, ihr Kind vor entsprechenden Situationen zu schützen. Mit gravierenden Folgen: Kinder, die unter dem Einfluss ihrer Eltern soziale Ängste entwickeln, sind nicht gut fürs Leben gerüstet. Das macht sich spätestens im frühen Erwachsenenalter bemerkbar. Wer anderen Menschen aus dem Weg geht, ist etwa bei der Berufswahl stark eingeschränkt – schliesslich ist man im Arbeitsalltag meistens mit anderen Menschen konfrontiert. «Betroffene können ihr Potenzial also oft gar nicht ausschöpfen», sagt Cina. Dass soziale Ängste auch das Beziehungsleben der Betroffenen erschweren, liegt auf der Hand. Nicht selten können solche Ängste zu einer Depression führen.

 

Schau mir in die Augen, Kleines

Welche Bedeutung die ersten Bezugspersonen eines Kindes haben, zeigt ein bekanntes Experiment: Die «visuelle Klippe». Damit wollte die amerikanische Psychologin Eleanor Gibson in den 1950er Jahren herausfinden, ob Säuglinge die Gefahr eines Abgrunds erkennen. Beim Versuch setzte sie Babys in die Mitte eines Tisches, dessen Platte aus durchsichtigem Glas besteht. Die eine Hälfte der Tischplatte war mit einem Schachbrettmuster unterlegt. Bei der anderen Hälfte wurde das Schachbrettmuster auf dem Boden fortgesetzt, also etwa einen Meter unter der Tischplatte, so dass ein Tiefeneindruck entsteht, eine Klippe eben. Kleinkinder im Alter von etwa 12 Monaten bewegten sich über die Klippe hinaus zur Mutter hin, wenn die wartende Mutter auf der anderen Seite das Kind anlächelte und einen motivierenden Gesichtsausdruck zeigte. Kein einziges Kind bewegte sich jedoch über die visuelle Klippe, wenn die Mutter sich ängstlich zeigte. Es lässt sich also festhalten, dass (Klein-)Kinder Angst nur überwinden können, wenn ihnen Sicherheit vermittelt wird. Und das passiert sehr subtil – so wie auch das Gegenteil: «Schon kleine Kinder spüren sehr genau, wenn ihre Eltern ängstlich sind», sagt Cina. Wenn eine Mutter ihr Kleinkind an der Hand nimmt, merkt dieses beispielsweise, wenn sich die Mutter anspannt oder zu schwitzen beginnt. Auch die Augen verraten, wenn ein Vater oder eine Mutter gestresst ist. Unbewusst senden Eltern Signale aus, dass etwas nicht stimmt, dass man auf der Hut sein muss.

 

Dass eine angstfreie Erziehung zuweilen ein heikler Balanceakt zwischen Überbehütung und zu viel Freiheit ist, illustriert Psychologin Cina an einem Beispiel: «Wenn man ein dreijähriges Mädchen eine halbe Stunde alleine an einem Treffpunkt warten lässt, bis der Vater oder die Schwester es abholt, ist das eine Überforderung. Das Kind wird seinen Emotionen schutzlos ausgeliefert», sagt die Psychologin. Im Fachjargon spricht man in diesem Zusammenhang von der so genannten Emotionsregulation. Bei Säuglingen und Kleinkindern übernehmen Eltern diese Regulation, indem sie ihre Kinder in Stress-Situationen beruhigen und ihnen erklären, was gerade passiert. «Gesunde Eltern haben in der Regel ein feines Gespür dafür, was ihren Kindern zumutbar ist», betont Cina.

 

Was aber, wenn dieses Sensorium nicht funktioniert? Werden Kinder dann automatisch zu Angsthasen und Feiglingen? Cina gibt Entwarnung: Das elterliche Vorbild ist nur ein – wenn auch ein wichtiger – Faktor für die Entwicklung. Sowohl genetische, biologische als auch sozio-kulturelle Einflüsse spielen eine Rolle, wie entsprechende Forschungen zeigen. «Manche Kinder sind von Geburt an ängstlich, andere eher temperamentvoll und experimentierfreudig», sagt Annette Cina. Hat nun eine eher ängstliche Mutter ein sehr aufgewecktes Kind, führt das zwar zu Erziehungskonflikten – aber die Angst der Mutter wird sich kaum auf das Kind übertragen. In Cinas Worten: «Die Passung muss stimmen.» 

 

© Jérôme Berbier

Entwicklungsbedingte normale Ängste im Kindesalter verschwinden oft von alleine wieder. Was können Eltern jedoch tun, wenn die Ängste überhandnehmen? «Wenn Angst Kinder in ihrem Alltag behindert, sollten Eltern Hilfe in Anspruch nehmen», so die Therapeutin. In der Regel seien Ängste in einem solchen frühen Stadium gut zu behandeln. «Die Kinder lernen Strategien, ihre Ängste zu konfrontieren. Dadurch erfahren sie, dass Ängste zu bewältigen sind», so die Expertin. Wenn Beratung in Anspruch genommen wird, ist das übrigens nicht automatisch ein Familienbusiness. Denn: Während früher die Praxis herrschte, Eltern aktiv in die Therapie einzubeziehen, zeigen neuere Studien, dass bei Angststörungen keine besseren Resultate erzielt werden, wenn die Eltern der Therapie aktiv beiwohnen. Die Botschaft der Therapeutin an Betroffene: «Ängstliche Eltern müssen sich ihrer eigenen Angst bewusst werden und eine klare Trennung zwischen sich und ihren Kindern ziehen». Im Klartext: Wenn die Mutter eine Hundephobie hat, muss ihr klarwerden, dass ihre Tochter ein eigenständiges Wesen ist, das vielleicht ganz gut mit den Vierbeinern klar kommt.

 

Zudem müsse man sich auch bewusstmachen, dass Ängste per se nicht schlecht sind, sondern eine ganz normale, lebenswichtige Reaktion auf etwas Neues, Unbekanntes. «Angst ist ein Teil der gesunden Entwicklung eines Kindes. Keine Angst zu haben, ist gefährlich», sagt Cina. Man denke beispielsweise an den Strassenverkehr oder den Fluchtreflex beim Anblick einer giftigen Schlange. Die erste Botschaft an ein ängstliches Kind lautet denn auch: «Du darfst Angst haben», so Cina. Man müsse in jedem Fall auf Ängste der Kinder eingehen – auch wenn sie irrational erscheinen. «Wichtig ist es, ruhig zu bleiben, die Ängste richtig einzuordnen und dem Kind Zutrauen zu geben.» Wenn also beispielsweise ein kleines Kind Angst vor dem Sterben äussert, wäre eine mögliche Antwort: «Irgendwann sterben wir alle. Aber bei dir dauert das wahrscheinlich noch ganz lange, und bis dahin wirst du noch ganz viel erleben».

 

Bleibt die Frage: Können Eltern überhaupt verhindern, in ihren Kinder Ängste zu pflanzen? Die Psychologin gibt Entwarnung. «Nicht jede Angst des Kindes kann auf Erziehungsfehler reduziert werden. Und nicht jeder Erziehungsfehler ist gleich ein Debakel», hält Cina fest. «Wir sollten unsere Kinder primär befähigen, selbständig zu leben. Und dazu gehört es, zu lernen, mit der eigenen Angst umzugehen.»

 

Unsere Expertin Annette Cina ist Oberassistentin am Familieninstitut sowie seit 2011 leitende Psychologin des Zentrums für Psychotherapie der Universität Freiburg sowie Autorin psychologischer Ratgeber. Die Walliserin studierte an der Universität Freiburg Psychologie und Religionswissenschaften und absolvierte nach dem Doktorat eine Weiterbildung für Verhaltenstherapie mit Schwerpunkt Kinder und Jugendliche (Universitäten Basel, Freiburg und Zürich). Annette Cina ist verheiratet und hat drei Kinder.

annette.cina@unifr.ch