Dossier

Zusammen sind wir stärker

Situationen, die uns Angst machen, sind nicht zwingend auch jene, welche die grössten Gefahren bergen. Weshalb aber fürchten wir uns im dunklen Wald, in einer unbeleuchteten Unterführung? Eine Analyse der Krimimalitätsfurcht.

Viele Menschen haben Angst vor Kriminalität. Sinnbild für dieses Unsicherheitsgefühl ist die weibliche Angst vor dem unbekannten Mann, der in der Dunkelheit lauert und darauf wartet, eine Frau zu überfallen. Entsprechend versuchen viele Gemeinden, Unterführungen und abgelegene Wege zu beleuchten oder gar mit Videokameras zu überwachen. Dass Vergewaltigungen vornehmlich im sozialen Nahraum stattfinden, die Täter also mehrheitlich Bekannte sind, wird damit geflissentlich ignoriert und zeigt, dass die Furcht vor einem Delikt (englisch: fear of crime) im massenmedialen Diskurs häufig mehr Beachtung findet als deren Prävalenz und Ursachen.

 

© Jérôme Berbier
Analyse der Furcht

Bei der Erforschung der Gründe der Kriminalitätsfurcht wird zwischen drei Aspekten unterschieden. Erstens wollen wir wissen, weshalb sich jemand vor einem bestimmten Delikt fürchtet, was als affektiver Bestandteil bezeichnet wird. Weshalb fürchten sich Frauen überhaupt vor Vergewaltigungen? Zweitens interessiert, weshalb jemand ein bestimmtes Vermeideverhalten an den Tag legt, den so genannten konativen Bestandteil. Weshalb meiden Menschen nachts Unterführungen und Parks? Schliesslich gilt es, die persönliche Risikoeinschätzung, Opfer einer Straftat zu werden, zu analysieren, den kognitiven Bestandteil. Weshalb ist es für eine Person wahrscheinlicher, dass sie im Laufe des kommenden Jahres Opfer eines Einbruchs wird, während eine andere glaubt, die Wahrscheinlichkeit auf der Strasse überfallen zu werden, sei sehr gross?

 

Wir-Gefühl schafft Sicherheit

Ursprünglich stand die Viktimisierung, d.h. die Opferwerdung im Zentrum der Forschung. So wird etwa die weibliche Furcht vor Vergewaltigungen mit einer erhöhten Vulnerabilität, d.h. Verletzlichkeit erklärt, was unter anderem auf physische Merkmale zurückgeführt wird. Seit den 1980er Jahren wird Kriminalitätsfurcht zunehmend mit dem Verfall des Gemeinwesens und dem Verlust der sozialen Kontrolle assoziiert. Zum einen hat sich gezeigt, dass sich Vandalismus oder Graffitis, aber auch das Herumlungern von Jugendlichen (signs of incivilities) negativ auf die Kriminalitätsfurcht auswirken. Zum andern zeigt die Forschung, dass enge Kontakte zwischen Nachbarn zu einer höheren Sozialkontrolle und damit zu einer Furchtminderung beitragen. Aus soziologischer Sicht fördern die sozialen Beziehungen zwischen Nachbarn jedoch nicht bloss das Vermögen, einen gemeinsam genutzten Raum vor Kriminalität zu schützen. Die soziale Vernetzung innerhalb einer Nachbarschaft ist auch Grundlage von «generalisiertem Vertrauen», welches in vielen Lebensbereichen zum Abbau von Unsicherheitsgefühlen und zu einer positiveren Einstellung gegenüber Mitmenschen und Institutionen beiträgt (Staubli 2017). Generalisiert ist dieses Vertrauen, weil es nicht nur Freunde, Bekannte und Nachbarn einschliesst, wie das personalisierte Vertrauen, sondern auf Unbekannte ausserhalb der Nachbarschaft gerichtet ist. Wir untersuchen folglich die These, ob Menschen, die gute soziale Beziehungen pflegen – also häufig miteinander sprechen, sich gegenseitig aushelfen und sich gegenseitig vertrauen – das Sozialkapital in der Nachbarschaft fördern und damit letztlich zum Abbau von Kriminalitätsfurcht beitragen.

 

Soziale Netzwerke

Dabei verstehen wir unter Sozialkapital die Ressourcen, welche zum einen aus Beziehungen zwischen Menschen (vor allem Unterstützungsleistungen) und zum anderen aus dem zwischenmenschlichen Vertrauen (geringere Transaktionskosten: u.a. Kosten für die Suche nach geeigneten Tauschpartnern, für die Einhaltung und Kontrolle der Vereinbarung) gezogen werden. Neben nachbarschaftlichen Vernetzungen spielen in der Schweiz die Vereine eine wichtige Rolle. Man trifft sich in der Freizeit, um Sport zu treiben oder einer kreativen Tätigkeit nachzugehen. Hoch ist auch der Anteil an gemeinnütziger Arbeit, welche von politischen Ämtern über Positionen als Trainer im Fussballverein bis zur Mithilfe im Altersheim in vielen Facetten zum Tragen kommt.

 

In den letzten Jahren zunehmend an Gewicht gewonnen hat die Vernetzung über soziale Medien. Gerade für Jugendliche und junge Erwachsene ist es zu einer Selbstverständlichkeit geworden, sich online mit Gleichgesinnten auszutauschen. Nicht zuletzt die umfassende Verbreitung von Smartphones ermöglicht es, immer und überall mit FreundInnen und KollegInnen in Verbindung zu sein. Während Kontakte durchaus auch „physisch“, d.h. in der Schule oder Vereinen gepflegt werden, dienen die sozialen Medien mitunter als Beschleuniger, wenn es darum geht, Informationen auszutauschen und Neuigkeiten zu verbreiten (gut ersichtlich an der aktuellen #metoo Debatte).

 

Offene Fragen

Das Verbreiten von Wissen über einen kriminellen Vorfall nahm früher viel Zeit in Anspruch, sei es durch Mund-zu-Mund-Kommunikation oder durch klassische Medien wie Tageszeitungen, Radio oder Fernsehen. Dank neuer Kommunikationstechnologien und sozialen Medien verbreiten sich solche Meldungen heute mitunter rasant, was zu einer erhöhten Angst vor Kriminalität führen mag. Diesen noch wenig ergründeten Aspekt beziehen wir in unsere Forschung mit ein.

 

Um Kriminalitätsfurcht zu erheben wird in Befragungen oft nach einem generellen Unsicherheitsgefühl nachts auf der Strasse gefragt. Damit wird den verschiedenen Bestandteilen von Kriminalitätsfurcht, welche zu Beginn dieses Artikels erläutert wurden, jedoch nicht Rechnung getragen, und ein falsches Bild vermittelt. Deshalb fassen wir eine schriftliche Bevölkerungsbefragung ins Auge, welche die Kriminalitätsfurcht in zwei Städten zu zwei Zeitpunkten erhebt und vergleicht. Dieses Instrument erlaubt zudem eine vertiefte Analyse von Sozialkapital, messbar anhand sozialer Netzwerke – sowohl persönliche als auch virtuelle Kontakte – und dem Ausmass an zwischenmenschlichem Vertrauen.

 

 

Unsere Expertin Silvia Staubli ist Doktorassistentin im Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit des Departements für Sozialwissenschaften. Die Kriminalsoziologin lehrt und forscht zu den Bereichen Polizei, Devianz und Delinquenz, Viktimisierung und Kriminalitätsfurcht. silvia.

silvia.staubli@unifr.ch

 

Unser Experte Michael Nollert ist Professor im Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit des Departements für Sozialwissenschaften. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind: Soziale Netzwerke, soziale Konflikte, Delinquenz, soziale Ungleichheiten und unbezahlte Arbeit, michael.

michael.nollert@unifr.ch

Literatur

Staubli, Silvia (2017). Trusting the police – Comparisons across Eastern and Western Europe. Bielefeld: transcript.