Forschung & Lehre

Ein Meer von Unikaten

Gebetbücher waren im Mittelalter die Literatur des Volkes. Trotz ihrer weiten Verbreitung sind sie bis heute kaum erforscht. Stefan Matter und sein Team nehmen sich der grossen Aufgabe an.

Ein Büro wie eine Mönchsklause, Raum 5131, Hauptgebäude der Universität Freiburg. Im Gespräch erinnert Stefan Matter an einen Kleriker. Auf der Suche nach Worten reibt er sich die Hände, legt die Handflächen aneinander, verschränkt die Finger. Dennoch ist die Annahme voreilig, dass Stefan Matters Forschungsthema – Gebetbücher aus dem Mittelalter – seine persönliche Beziehung zur Religion spiegeln. Matter macht mit wissenschaftlicher Präzision klar: «Ich habe keine besondere Affinität zum praktizierten Glauben.»

 

Der Literaturforscher begeistert sich aus anderen Gründen für die Sammlungen von Fürbitten: «Nirgends im gesamten Literaturbetrieb können wir so gut beobachten, wie Texte entstehen, wie sie sich verbreiten und verändern, wer von wem kopiert». Anhand der Gebetbücher lässt sich zeitlich und geographisch verfolgen, welche Wege Texte in der Ära vor dem Buchdruck nehmen. Als Literatur bezeichnet werden sie, obwohl häufig nur wenig kreative Eigenleistung dahintersteckt. Matter: «In der Forschung zählen alle Texte des Mittelalters zur Literatur – auch Chroniken und Kochbücher». Was man heute als literarische Texte bezeichne, sei damals nur einer Elite zugänglich gewesen, etwa die Lyrik von Walther von der Vogelweide. «Gebetbücher dagegen waren die Literatur des Volkes.»

 

Matter hat aber noch eine weitere Motivation, um sich des Themas anzunehmen: «Im Mittelalter formten Gebetbücher das Weltbild der Menschen. Gute Christen beteten mehrmals täglich damit. Sonntags nahm man das Buch mit in die Kirche, und auch auf Reisen war es stets dabei. Gebetbücher definierten, wo der Mensch in einer von Gott geschaffenen Welt steht, was er zu tun und zu lassen hat».

 

Handgeschriebene Beststeller

Material, um diese mittelalterliche Literatur zu erforschen, findet Matter genug. «Gebetbücher sind die Bestseller der damaligen Zeit»; in Bibliotheken des deutschen Sprachraums lagern an die 60’000. Einst aus dem Lateinischen übersetzt, enthalten sie vor allem auf Psalmen basierende Gebete, aber auch solche, die auf aktuelle Probleme zugeschnitten sind, etwa die Bekämpfung von Getreideschädlingen oder grassierende Krankheiten. Die meisten haben Taschenbuchformat, einige sind dünn, andere umfassen mehrere hundert Seiten; Exemplare aus dem Besitz des Adels sind mit bunten Bordüren und üppigen Initialen verziert. Das Besondere an den Werken: Die grosse Mehrheit wurde von ihren Besitzern nicht nur nach persönlichen Vorlieben zusammengestellt, sondern auch selbst von Hand geschrieben. Folglich existieren 60’000 Bücher zum selben Thema, und doch ist keines gleich wie das andere. Matter: «Es ist ein Meer von Unikaten!»

 

Typische mittelalterliche Gebetsbücher, wie sie im Freiburger SNF-Projekt untersucht werden, enthalten eine Vielzahl unterschiedlicher Texte, sowohl in lateinischer als auch in deutscher Sprache. Das abgebildete Gebetbuch enthält neben handgeschriebenen auch gedruckte Teile, die mit Holzschnitten versehen sind. © Staatsbibliothek Bamberg, Gerald Raab
Moderne Hilfe für alte Schätze

Für Matter kommen die Werke einem «ungehobenen Schatz» gleich. Denn trotz ihrer Bedeutung hat sie die Forschung bis anhin vernachlässigt. Die enorme Menge machte das Thema sperrig; zu gross war der Aufwand, sie aufzuarbeiten. Dank den Möglichkeiten der Digitalisierung hat sich das nun geändert. Einmal gescannt, lassen sich die Werke nun schneller und einfacher am Bildschirm vergleichen. Welche Gebete kommen in welchen Büchern vor? Welche sind besonders häufig und waren also besonders beliebt?

 

Eines dieser Exemplare liegt auf Matters Schreibtisch. Da das Buch einen Vermerk enthält – «Item daz püchlin ist der Sigmunt Snodin pey den predigern» – konnte er mehr über dessen Herkunft herausfinden. «Es gehörte einer gewissen Clara Tucher, verheiratet mit Sigmund Schnöd und deshalb als ‹Schnödin› bezeichnet, Anno 1473 verstorben.» Mit Hilfe eines alten Stadtplans gelang es Matter den Wohnort des Ehepaars Schnöd zu lokalisieren. «Bei den Predigern» bedeutet neben der Kirche St. Sebald direkt am Rathausplatz in Nürnberg. Hier zeigt sich, dass Matter nicht nur leidenschaftlicher Literaturforscher ist, sondern auch leidenschaftlicher Historiker: «Am Schreibtisch zu sitzen, auf dem Bildschirm das Haus der Schnödin, und die gleichen Zeilen zu lesen wie die ehemalige Besitzerin des Buches, gehört für mich zu den schönsten Momenten meiner Tätigkeit.»

 

In den kommenden Jahren beabsichtigt Matter nun einen Teil dieses Schatzes zu heben, so viel, wie er zusammen mit zwei Doktoranden und zwei Unter-Assistenten zu bewältigen vermag. «Wir werden in einige hundert Exemplare hineinschauen, detailliert aufarbeiten können wir nur einige dutzend.» Mit seiner Arbeit hofft Matter, die vernachlässigte Erforschung der mittelalterlichen Schriften voranzubringen: «Auf dieser Landkarte gibt es noch grosse weisse Flecken». Aber er will noch mehr: «Davon ausgehend, dass Gebetbücher das Weltbild des Mittelalters formten, hat ihre Erforschung auch mit grundlegenden Fragen zu tun: Worauf baut unsere Gesellschaft auf? Was macht uns zu dem, was wir heute sind? Indem wir unsere Vergangenheit erforschen, lernen wir unser Denken und Handeln in der Gegenwart verstehen».

 

Wenn Matter über Gebetbücher forscht, so forscht er also über sich selbst. Und über uns alle.

 

 

Unser Experte Stefan Matter, Jahrgang 1976, studierte an der Universität Freiburg Germanische Philologie, Neuere deutsche Literatur, Geschichte und Kunst­geschichte des Mittelalters. Seine Lizenziatsarbeit gewann 2003 den «Prix Art Focus junior», seine Habilitation im Jahr 2011 den «Zeno Karl Schindler/SAGG Award for Research in German Literature». Nach Forschungsaufenthalten in München, Oxford und Tübingen sowie Lehraufträgen an den Universitäten Bern, Bremen und Wien wird sich Matter in den kommenden vier Jahren an seiner Alma Mater mit deutschsprachigen Gebet­büchern beschäftigen. Das Projekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. 

stefan.matter@unifr.ch