Dossier

Pray the Gay away

Auch in der Schweiz versuchen selbsternannte Homoheiler, Homosexualität zu therapieren. Unter welchen Voraussetzungen diese «Heilungen» erfolgen, erklärt Adriano Montefusco vom Institut für Religionswissenschaft.

Freikirchler sind ganz normale Leute. Sie haben normale Berufe, normale Hobbies, normale Freundschaften. Das Wichtigste, was sie von anderen unterscheidet, ist ihre Religion. Die leben sie beispielsweise bei den Täufern, den Methodisten, Adventisten, «ICF», «Vineyard» oder bei der Heilsarmee. Dort engagieren sie sich oft stark, leisten ehrenamtliche Arbeit und verbringen einen grossen Teil ihrer Freizeit unter Gleichgesinnten.

Zwischen drei und sechs Prozent der Bevölkerung sind gemäss den Statistikern des Bundes einer Freikirche zuzurechnen – je nach Definition. «Und selbstverständlich gibt es auch unter ihnen Homosexuelle», erklärt Adriano Montefusco vom Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Freiburg. Er hat sich intensiv damit beschäftigt, wie Freikirchen mit gleichgeschlechtlicher Liebe umgehen. «Freikirchen haben ein sehr worttreues Bibelverständnis. Sie legen den Text nicht sinngemäss, sondern möglichst buchstabengenau aus.» Und in diesem Text gibt es verschiedene Stellen, an denen die Bibel Homosexualität verbietet.

Ein Phänomen, das nach einer Erklärung verlangt

«Für die Freikirchen ist Homosexualität ein Phänomen, das nach einer Erklärung verlangt», sagt Montefusco «und sie haben im Wesentlichen zwei Ansätze». Der Erste: Menschen können sich einen Fluch oder einen Dämon aufhalsen, etwa indem sie homoerotische Pornografie konsumieren, oder indem sich bereits ihre Vorfahren homosexuell betätigten oder Gott in einer anderen Form untreu wurden. «Die Praxis der Befreiung von Dämonen kann recht unspektakulär aussehen», sagt Montefusco, «etwa indem man Gott bittet, den Betroffenen von seinem Problem zu erlösen. Es gibt aber auch Szenen, die dem ähneln, was wir aus Hollywood-Filmen kennen. Wo die Leute anfangen, in seltsamen Stimmen zu sprechen. Ein Vorgang, den man übrigens mit Gruppendynamik genauso gut erklären kann, wie mit okkulten Mächten.»

Die Bekämpfung von Dämonen ist keine Seltenheit. Beat Schulthess, Heilsarmee-Pastor aus Uster, wurde so oft gerufen, dass er eine «Schule für Befreiungsdienste» gründete. Diese ist in der freikirchlichen Welt so anerkannt, dass beispielsweise Leute, die sich an gewissen freikirchlichen Bildungsinstitutionen zum Jugendpastor ausbilden lassen wollen, an dieser Schule Credits holen können. (Kleine Anmerkung: Weder Ausbildung, noch Kreditpunkte haben etwas mit einem universitären Theologie--Studium zu tun).

Die zweite Erklärung, weshalb Menschen homosexuell werden, wurde massgeblich vom US-Psychiater Joseph Nicolosi geprägt. Er behauptete, homosexuelle Männer seien in der Kindheit von der Mutter überbehütet und vom Vater vernachlässigt worden. Darum fehle ihnen die männliche Geschlechtsidentität. «Nicolosi riet Schwulen deshalb, unter anderem, Männerfreundschaften zu pflegen, Football zu spielen und ganz allgemein typisch männliche Verhaltensweisen zu pflegen. Sein ‹reparativer Ansatz› wurde in Europa später mit Elementen aus der Transaktionsanalyse und der systemischen Psychotherapie verfeinert».

Adriano Montefusco hat mit zwei Therapeuten gesprochen, deren Arbeitsweise auf der reparativen Therapie aufbaut. Beide sind in einer Freikirche – und beide waren früher selbst schwul. Zwar sagen sie, dass sie bloss mit Männern arbeiten, die selbst einen Veränderungswunsch vorbringen, «aber genau hier liegt das Problem: Woher dieser scheinbar autonome Therapiewunsch kommt, wird in freikirchlichen Kreisen kaum reflektiert. Es wird nicht erkannt, dass die Betroffenen in einer Welt mit starren Geschlechterrollen gross werden, in der sie stets die Botschaft vermittelt bekommen, das ‹unmögliche Andere› zu sein – wie soll man sich da nicht ändern wollen?» Menschen, die ihre Homosexualität ausleben, haben weder Platz in der Gemeinde noch im Himmel. In evangelikalen Diskursen wird Homosexualität in Richtung Promiskuität, Drogenkonsum und psychische Krankheit gerückt. Deshalb wird in manchen Gemeinden schon die Selbstidentifikation «ich bin homosexuell» als sündhaft aufgefasst. «Natürlich leiden die Leute da an ihrer Homosexualität – beziehungsweise daran, wie sie deswegen stigmatisiert werden».

Montefusco zitiert den Soziologen Pierre Bourdieu: «Der spricht von symbolischer Gewalt. Gewalt, die weder von denen, die sie ausüben, noch von denen, die sie erleiden, als Gewalt erkannt wird. Was dazu führt, dass die Unterdrückten am Ende selbst an ihrer Unterdrückung mit-wirken.» Unterdrückt werden auch homoerotische Gefühle, so gut das eben geht. Die Therapeuten machen sie zur Krankheit. «Sie zeigen den Ratsuchenden etwa Männerfotos und fragen, welcher Mann ihnen gefalle und warum. ‹Der ist hübsch, der hat gewiss viele Freunde› heisst es dann, oder ‹der ist stark, der vermittelt Sicherheit›. So wird vorgegaukelt, dass man persönliche Defizite hinter dem Begehren erkenne. Dabei könnte man dasselbe mit Heterosexuellen machen und die Antworten wären relativ ähnlich.»

 

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Sascha, 26, non-binary
Tausendsascha
«Se débrouiller – mein absolutes Lieblingswort.»

Heilung bedeutet Enthaltsamkeit

Das Verhältnis zwischen Therapeut und Patient ist oft ausgesprochen eng – unprofessionell eng. Für die Ratsuchenden werden die Therapeuten gern zu Vaterfiguren, denen sie gefallen wollen und in die sie sich gelegentlich verlieben. Die Therapeuten wiederum sind nicht nur finanziell auf die Patienten angewiesen, sondern auch persönlich. Denn bricht ein Patient die Therapie ab, leidet erstens der Ruf des Therapeuten, zweitens stellt der Therapieabbruch auch die eigene «Heilung» infrage. Man dürfe sich seine Veränderung nicht als komplett vorstellen, räumte ein Therapeut gegenüber Montefusco ein. Es gebe noch immer Momente, wo er einen Mann auf der Strasse sehe und es ihn durchzuckt. Heilung bedeutet dann einfach Enthaltsamkeit.

Dass eine Therapie gelingt, ist nach wissenschaftlichen Begriffen schwer vorstellbar. Die sexuelle Orientierung kann unterdrückt werden; dass sie tatsächlich verändert werden kann, ist unwahrscheinlich. Manche Patienten heiraten und haben Kinder, üben sich in einer aufgesetzten Hetero-Männlichkeit – andere mühen sich und hadern und kommen gegen ihre Sexualität trotzdem nicht an. «Das Problem ist, dass die Leute dann doppelt stigmatisiert werden. Als Homosexuelle und als willensschwach. Sie haben die Veränderung offenbar nicht stark genug gewollt.» Manche wenden sich dann komplett vom freikirchlichen Milieu ab, andere werden ausgeschlossen, wieder andere werden suizidal.

Immerhin hat sich in den letzten Jahren einiges bewegt. In den USA gibt es erste Freikirchen, die Homosexuelle akzeptieren. Und «Exodus International», die Dachorganisation der reparativen Therapeuten, hat sich 2013 aufgelöst – nach zahllosen Skandalen und nachdem sich wiederholt Gründungs- und Vorstandsmitglieder ineinander verliebt haben. Sie hätten wenig erreicht und viel Leid verursacht, liess der Präsident des Verbandes zum Abschluss vermelden. Heute vertritt er gar die Ansicht, dass die sexuelle Orientierung nicht veränderbar ist und engagiert sich für die Öffnung der evangelikalen Theologie punkto Homosexualität.

Diese Trendwende ist in der Schweiz allerdings noch nicht angekommen. Und ob sie nachhaltig sein wird, steht in Zeiten des Neokonservatismus auf einem ganz anderen Blatt. So wird es in der Schweiz wohl weiterhin Menschen geben, die von ihren Gemeinden pathologisiert werden, weil sie lieben, wie sie lieben. Und die Idee, dass Homo-sexuelle therapiert werden sollten, verschwindet keineswegs. «Das ‹Weisse Kreuz› etwa bietet sexualpädagogische Dienste für Schulen an. Die Organisation wird meist auf Initiative von freikirchlichen Lehrpersonen eingeladen, bietet Aufklärung und predigt Enthaltsamkeit und das Nein-Sagen. Wendet sich ein Schüler später an diese Leute, weil er homosexuelle Gefühle entwickelt, dürfte er an einen evangelikalen Therapeuten weiterverwiesen werden».

 

Unser Experte Adriano Montefusco ist Diplomassistent am Institut für Religionswissenschaft der Uni­versität Freiburg. Er forscht unter anderem zu Religion und Schule, Religionssoziologie, Evangelikalismus und zur Didaktik der Ethik und Religionskunde.

adriano.montefusco@unifr.ch