Dossier

Zwischen Idyll und zivilisatorischem Skandal

Romantisierend besungen, bildreich beworben und entsprechend vermarktet ist der südeuropäische Mittelmeerraum für viele zum Symbol von Laissez-Faire und Dolce Vita geworden. Ein Blick auf die Sonnenstube Europas ohne rosa Brille.

Zu dem konstruierten Idyll unverfälschter und heimeliger Natur- und Kulturlandschaften passt nicht, dass das Mittelmeer aktuell immer mehr zum Schauplatz eines zivilisatorischen Skandalons Europas verkommt, nämlich zur Deponie für den ökologischen und «menschlichen Abfall der Modernisierung» (Zygmunt Bauman†, polnisch-britischer Soziologe und Philosoph). Ob Atom-, Gift- oder Plastikmüll, ob Massenmigration oder -flucht – das Mittelmeer ist zum willkommenen Ort geworden, sich möglichst rentabel und vermeintlich effizient dieser «Problematiken» zu entledigen. Über das Mittelmeer nachzudenken kann und darf für eine Theologie in den Kontexten von menschlicher Mobilität und Migration folglich nicht ohne die gebotene Sensibilität für dieses Skandalon stattfinden.

Europas Massengrab der Namenlosen

Nicht vielen wird Aylan Kurdi mit Namen bekannt sein. Er ist der zweijährige Junge, dessen Leichnam im Jahr 2015 an die türkische Mittelmeerküste angeschwemmt wurde. Das Bild ging damals um die Welt, denn das Schicksal der bis dahin im Mittelmeer ertrunkenen Migrant_innen hatte plötzlich ein Gesicht. Es folgten Entrüstung, Empörung und der Ruf nach einem radikalen Wandel in Migrations- und Flüchtlingspolitik. Doch genauso wie die Fluten des Mittelmeeres abebben, ebbten auch Entrüstung und Empörung im Mahlstrom des «deregulierten und polyzentrischen» Tagesgeschäfts (Zygmunt Bauman) der fortgeschrittenen Moderne ab. Aylan Kurdi versank mit allen anderen ertrunkenen Menschen im Mittelmeer – als Europas Massengrab der Namenlosen.

Austragungsort der humanitären Zerrissenheit

Es kann nicht Aufgabe der Theologie sein, sich in Betroffenheitsrhetoriken zu verlieren. Vielmehr hat sie den Gründen nachzugehen, wieso aktuell am Mittelmeer ein groteskes Ränkespiel auf Kosten der Humanität geführt wird. Ein Ränkespiel, das den alternativlos scheinenden Ruf nach einer existenzabsichernden Abschottung gesellschaftlich salonfähig macht, deren faktische Konsequenz das Errichten von sogenannten Auffanglagern, der Bau von Grenzmauern und Grenzzäunen wie das Verwehren von sicheren Hafenzufahrten ist.

 

Cupra Marittima, Italien  © KEYSTONE SDA

Ein, wenn nicht der wesentliche Grund dieses Ränkespiels liegt in der humanitären Zerrissenheit Europas selbst. Sie nährt sich aus der teils subtil vorherrschenden Angst vor dem «Zusammenbruch einer Ordnung, die ihre Bindungskraft verloren hat» (Zygmunt Bauman). Einher geht diese Angst mit der radikalen Skepsis gegenüber einer global sich entfaltenden und damit pluralitäts- und differenzsensibel zu gestaltenden Welt. Lokal erfahren als sozialpolitische, ökonomische und ökologische Unstabilität, führen Angst und Skepsis – ob berechtigt oder unberechtigt – zu einem subjektiven Grundgefühl der Überflüssigkeit bzw. der Nutzlosigkeit der eigenen Person. Und dieses Grundgefühl bietet den Nährboden für solche gesellschaftspolitischen Radikalismen, die den scheinbar nur Unsicherheiten und Chaos verbreitenden komplexen Zusammenhängen globaler Gesellschaften das Versprechen eines «sicheren» Lebens auf Basis eindeutiger und endgültiger Lösungen entgegensetzen. Die Schicksalshaftigkeit dieser Versprechungen ist, dass sie die Gesellschaft spalten in richtig bzw. falsch Denkende, Lebende und Glaubende. Die ideologische Spirale solcher Ausschlussverfahren führt schliesslich dazu, dass die vermeintlich «Falschen» als gegnerische Kräfte wider die eigene Sache identifiziert und klar benannt werden können. Hierfür werden die machtpolitischen Ränkespiele inszeniert, die – offen und subtil – Formen der bewussten Funktionalisierung, Marginalisierung, Separation und Kriminalisierung von Andersdenkenden, Anderslebenden und Andersglaubenden nicht nur in Kauf nehmen, sondern bewusst provozieren. Das Paradoxe dabei ist: Die eigentlichen Täter (wie Populisten und Neonationalisten) sehen und präsentieren sich im Kampf um die gemeinsame Sache als Opfer. Aus dieser vermeintlichen Opferperspektive heraus verdecken sie ihre Täterschaft damit, dass sie in die gesellschaftlichen Diskurse eine «Kultur ideologischer Eindeutigkeiten» implementieren. In einer solchen Kultur finden die wirklichen Opfer weder Stimme noch Gehör, denn diese Kultur kennt keine Opfer. Sie kennt ausschließlich Gegner – oder, pointierter ausgedrückt, sie kennt nur Feinde. Und diese vermeintlichen Feinde bieten die willkommene Projektionsfläche für bestehende Ängste und die radikale Skepsis, indem sie als eigentlich Verantwortliche ausgemacht werden für den Zusammenbruch der Ordnung. Damit werden nicht nur neue Sündenbock-Mechanismen evoziert, sondern auch solche Kräfte gefördert, die die Separation und den Ausschluss Andersdenkender, Anderslebender und Andersglaubender zum gesellschaftlichen Common-Sense erheben. Der Ruf nach entsprechenden (Re)Aktionen, sowie ihre Durchsetzung selbst, degenerieren zum ideologisch hypnotisierten Schauspiel: Andersdenkende, Anders-lebende und Andersglaubende werden mit Generalverdächtigungen gebrandmarkt und der Beliebigkeit der angstgeschürten Masse preisgegeben. Zivilisatorische Grundkategorien wie Solidarität und Gerechtigkeit verkommen zum Willkürakt des machtpolitisch Stärkeren. Zivilisatorische Grundkategorien wie die undiskutablen Menschenrechte oder wie das Festhalten an pragmatischen und kompromissbereiten Denk- und Handlungswegen zweckfreier Humanität degenerieren zu Plus-Minus-Faktoren ideologisch fixierter Durchsetzungskräfte. Letztere nehmen folglich nicht nur den gewaltsamen Tod (wie das Ertrinken von Menschen) in Kauf, sondern sie sprechen sich und gleich Denkende und Handelnde von aller (Mit-)Schuld frei, indem sie den gewaltsamen Tod als von den Opfern selbstverschuldet abqualifizieren. Wie Pontius Pilatus waschen sie ihre Hände in Unschuld, denn sie sehen sich einer höheren Sache verpflichtet: der Aufrechterhaltung bzw. der Wiederherstellung einer (neuen) bindenden Ordnung.

Chance der Horizont- und Lebensverschmelzung

Soll das Mittelmeer nicht mehr als ideologisch aufgeladener Austragungsort der humanitären Zerrissenheit und als Deponie des «humanitären Abfalls» Europas missbraucht werden, braucht es entsprechende gesamtgesellschaftliche Prozesse, die die Pluralität von Kulturen und Traditionen, die Pluralität von Sprach- und Denkmodellen wie von unterschiedlichen Lebensformen als Chance sehen, ohne die Risiken zu verschweigen. Im Gespräch mit Zygmunt Bauman kann hier eine Theologie in den Kontexten von menschlicher Mobilität und Migration eine solche Chance in den Prozessen einer wechselseitigen «Horizontverschmelzung und Lebensverschmelzung» sehen. Verschmelzungsprozesse also, in denen sich Menschen in der Würde ihres «Anders-Sein» begegnen und gemeinsame Optionen eines interkulturellen Mit- und Nebeneinanders generieren – ohne machtpolitisches Kalkül, ohne ideologisch potenzierte Berührungs- oder Verlustängste. Letztendlich wird nur eine «Interkultur» differenzsensibler Konsense zu solchen Orientierungskonstanten mit hoher und verbindlicher Identifikations- und Partizipationskraft für alle führen, die jedwedes humanitäre Skandalon demaskieren und solche Argumentationen und Praktiken evozieren bzw. stärken, die ihm aktiv entgegenwirken.

 

Unser Experte Salvatore Loiero ist Professor am Lehrstuhl für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik.

salvatore.loiero@unifr.ch

Quellen / Literatur

› Zygmunt Bauman, Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005

› Zygmunt Bauman, Die Angst vor dem anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, Berlin 2017